Versäumte Pflichten

Rosa Luxemburg am 8. Januar 1919

Seit dem 9. November prallt die revolutionäre Welle periodisch gegen dieselbe Mauer: die Regierung Ebert-Scheidemann. Der Anlaß, die Form, die Tragkraft des Zusammenstoßes sind in jeder der revolutionären Krisen, die wir seit acht Wochen erlebt haben, verschieden. Aber der Ruf: Nieder mit Ebert-Scheidemann! ist das Leitmotiv aller bisherigen Krisen und die Losung, in die sie alle ausklingen, die Losung, die immer lauter, einmütiger, eindringlicher aus den Massen ertönt.

     Das ist auch ganz natürlich. Die Fortentwicklung der Revolution laboriert an dem Grundfehler des 9. November: daß an die Spitze der revolutionären Regierung Leute gestellt worden sind, die bis zur letzten Minute alles getan hatten, was in ihren Kräften lag, um den Ausbruch der Revolution zu verhindern, und die sich nach dem Ausbruch an ihre Spitze mit der klaren Absicht gestellt haben, sie bei der nächsten passenden Gelegenheit abzuwürgen.

     Soll die Revolution weiter ihren Gang gehen, soll sie Etappe für Etappe ihrer Entwicklung durchmachen, um ihre historischen Aufgaben: die Abschaffung der bürgerlichen Klassenherrschaft und die Verwirklichung des Sozialismus, zu erfüllen, dann muß die Mauer, die sich ihr entgegenstellt, die Regierung Ebert-Scheidemann, hinweggeräumt werden.

     Um diese Spezialaufgabe wird sich die Revolution nicht herumdrücken können, in diese Aufgabe münden alle Erfahrungen der acht Wochen Revolutionsgeschichte aus. Die eigenen Provokationen der Ebert-Regierung: der 6. Dezember, die Vereidigung der Gardetruppen, der 24. Dezember, der jüngste Anschlag gegen das Polizeipräsidium, sie alle treiben die revolutionären Massen direkt vor die schroffe, nackte, unerbittliche Alternative: Entweder soll die Revolution ihren proletarischen Charakter, ihre sozialistische Mission preisgeben, oder Ebert-Scheidemann mit ihrem Anhang müssen von der Macht vertrieben werden.

     Dies haben auch die breitesten Massen des Proletariats in Berlin und in den Hauptzentren der Revolution im Reiche begriffen. Diese klare, scharfe Erkenntnis, die sich im leidenschaftlichen gewaltigen Ruf aus Hunderttausenden von Kehlen jeden Augenblick losringt: Nieder mit Ebert-Scheidemann! das ist der Gewinn, die Reife, der Fortschritt, den uns die letzten Ereignisse eingebracht haben.

     Was aber bei weitem nicht klar ist, worin noch die Schwäche und Unreife der Revolution an den Tag tritt, das ist die Frage, wie man den Kampf um die Wegräumung der Ebertschen Regierung führt, wie man die bereits erreichte Stufe der inneren Reife der Revolution in Taten und Machtverhältnisse umsetzt. Nichts hat diese Schwächen und Mängel so kraß aufgezeigt wie die letzten drei Tage.

     Die Regierung Ebert-Scheidemann hinwegräumen heißt nicht, ins Reichskanzlerpalais stürmen und die paar Leute verjagen oder festnehmen, es heißt vor allem, sämtliche tatsächliche Machtpositionen ergreifen und sie auch festhalten und gebrauchen.

     Was haben wir aber in diesen drei Tagen erlebt? Alles, was wirklich an Positionen erobert worden ist: die Wiederbesetzung des Polizeipräsidiums, die Besetzung des «Vorwärts», die Besetzung des WTB und der bürgerlichen Redaktionen, das alles war spontanes Werk der Massen. Was haben die Körperschaften daraus gemacht, die in diesen Tagen an der Spitze der Massen standen oder zu stehen vorgaben: die revolutionären Obleute und der Zentralvorstand der USP von Groß-Berlin? Die allerelementarsten Regeln der revolutionären Aktion haben sie vernachlässigt, als da sind:

     1. Wenn die Massen den «Vorwärts» besetzen, dann ist es Pflicht der revolutionären Obleute und des Zentralvorstands der USP von Groß-Berlin, die ja offiziell die Berliner Arbeiterschaft zu vertreten vorgeben, für sofortige Redaktionsführung im Sinne der revolutionären Arbeiterschaft Berlins zu sorgen. Wo sind denn die Redakteure geblieben? Was machen Däumig, Ledebour — Journalisten und Redakteure von Ruf und Beruf, die ja jetzt als die Linke der USP gar kein Organ besitzen, warum ließen sie die Massen im Stich? War es etwa dringenderes Geschäft, zu «beraten», anstatt zu taten?

     2. Wenn die Massen das Wolffsche Telegraphenbüro besetzen, dann ist es nächste Pflicht der revolutionären Organe der Arbeiterschaft, sich des Telegraphenbüros für die Sache der Revolution zu bedienen, der Öffentlichkeit, den Massen der Genossen im Reich Nachricht zu geben über Dinge, die in Berlin vorgehen, sie über die Situation zu orientieren. Nur auf diese Weise kann geistiger Zusammenhang zwischen der Berliner Arbeiterschaft und der revolutionären Bewegung im ganzen Reiche hergestellt werden, ohne den die Revolution weder her noch dort siegen kann.

     3. Wenn man gegen die Ebert-Scheidemannsche Regierung im schärfsten Kampfe steht, knüpft man nicht zugleich «Verhandlungen» mit dieser selben Regierung an. Mögen die Haase-Leute: Oskar Cohn, die Zietz, Kautsky, Breitscheid und wie alle die schwankenden Gestalten heißen, jede Gelegenheit ergreifen, um mit den Ebert-Leuten, von denen sie sich schweren Herzens getrennt haben, schleunigst wieder Faden anzuknüpfen. Die revolutionären Obleute ihrerseits, sie, die mit den Massen Fühlung haben, wissen sehr wohl, daß Ebert-Scheidemann Todfeinde der Revolution sind. Führt man mit einem Todfeind Verhandlungen? Diese Verhandlungen können ja nur zu zweierlei führen: entweder zu einem Kompromiß oder — was sicherer — bloß zu einer Verschleppung, die von den Ebert-Leuten ausgenutzt wird, um die brutalsten Gewaltmaßnahmen vorzubereiten.

     4. Wenn die Massen auf die Straße gerufen werden, um in Alarmbereitschaft zu sein, dann muß ihnen klar und deutlich gesagt werden, was sie zu tun haben, oder mindestens, was vorgeht, was von Freund und Feind getan und geplant wird. In Zeiten der revolutionären Krise gehören die Massen selbstverständlich auf die Straße. Sie sind der einzige Hort, die einzige Sicherheit der Revolution. Wenn die Revolution in Gefahr ist — und das ist sie jetzt in höchstem Maße! -, dann ist es Pflicht der proletarischen Massen, dort auf der Wacht zu sein, wo ihre Macht zum Ausdruck kommt: auf der Straße! Schon ihre Anwesenheit, ihr Kontakt miteinander ist eine Drohung und eine Warnung an alle offenen und versteckten Feinde der Revolution: Hütet euch!

     Aber die Massen müssen eben nicht bloß gerufen, sondern auch politisch tätig sein. Sie müssen über alles, was getan und gelassen wird, zur Entscheidung gerufen werden. Haben die revolutionären Obleute, hat der Zentralvorstand der USP Groß-Berlins nicht für nötig gehalten, mit dem Entschluß, sich in «Verhandlungen» mit Ebert-Scheidemann einzulassen, vor die in der Siegesallee versammelten Massen zu treten? Sie hätten eine so dröhnende Antwort zu hören bekommen, daß ihnen jede Lust zu Unterhandlungen vergangen wäre!

     Die Massen sind bereit, jede revolutionäre Aktion zu unterstützen, für die Sache des Sozialismus durch Feuer und Wasser zu gehen. Man möge ihnen klare Parolen geben, eine konsequente, entschlossene Haltung weisen. Der Idealismus der Arbeiterschaft, die Revolutionstreue der Soldaten können nur durch Entschlossenheit und Klarheit der führenden Organe und ihrer Politik gestärkt werden. Und das ist heute eine Politik, die kein Schwanken, keine Halbheit, sondern nur das Leitmotiv kennt: Nieder mit Ebert-Scheidemann! Noch eine Lehre! 

     Deutschland war das klassische Land der Organisation und noch mehr des Organisationsfanatismus, ja des Organisationsdünkels. Um «Organisation» willen hatte man den Geist, die Ziele, die Aktionsfähigkeit der Bewegung preisgegeben. Und was erleben wir heute? In den wichtigsten Momenten der Revolution versagt vorerst das gerühmte «Organisationstalent» in kläglichster Weise. Revolutionäre Aktionen zu organisieren ist eben noch ganz was anderes, als Reichstagswahlen oder Gewerbegerichtswahlen nach Schema F zu «organisieren». Die Organisation der revolutionären Aktionen muß und kann eben nur in der Revolution selbst gelernt werden, wie das Schwimmen nur im Wasser gelernt wird. Dazu ist die geschichtliche Erfahrung da! Aber man soll eben aus der Erfahrung auch lernen.

     Die Erfahrung der letzten drei Tage ruft den führenden Organen der Arbeiterschaft mit lauter Stimme zu: Redet nicht! Beratet nicht ewig! Unterhandelt nicht! Handelt!


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 8 vom 8. Januar 1919.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 519-522.