Was machen die Führer?

Rosa Luxemburg am 7. Januar 1919

In der Glutatmosphäre der Revolution reifen Menschen und Dinge mit unheimlicher Schnelligkeit. Erst vor kurzen 3 Wochen, als die Reichskonferenz der A.- u. S.-Räte geschlossen wurde, schienen Ebert-Scheidemann im Zenit ihrer Macht zu stehen. Die Vertretung der revolutionären Arbeiter-und Soldatenmasse ganz Deutschlands hatte sich ihrer Führung blindlings ergeben. Die Einberufung der Nationalversammlung, die Aussperrung der «Straße», die Degradierung des Vollzugsrats und mit ihm der A.- u. S.-Räte zu ohnmächtigen Scheinfiguren — welcher Triumph der Gegenrevolution auf der ganzen Linie! Die Früchte des 9. November schienen vertan und verspielt, die Bourgeoisie atmete wieder beruhigt auf, die Massen standen ratlos, entwaffnet, erbittert und doch zweifelnd da. Ebert-Scheidemann wähnten sich auf dem Gipfel der Macht.

     Die blinden Toren! Noch sind keine zwanzig Tage seitdem verflossen, und ihre scheinbare Macht ist über Nacht ins Wanken geraten. Die Massen sind eben die wirkliche Macht, die reale Macht kraft ihrer Interessen, kraft der historischen Notwendigkeit, kraft des ehernen «Muß» der Geschichte. Mag man ihr vorübergehend Fesseln anlegen, ihre Organisation formell jeder Macht berauben — sie braucht sich nur zu regen, nur ihr Rückgrat steif aufzurichten, schon bebt der Boden unter den Füßen der Gegenrevolution.

     Wer die gestrige Massendemonstration in der Siegesallee miterlebt hat, wer diese felsenfeste revolutionäre Oberzeugung, diese prächtige Stimmung, diese Tatkraft, die aus den Massen strömte, mit gespart hat, der mußte zu dem Schluß gelangen: Die Proletarier sind durch die Schule der letzten Wochen, der jüngsten Ereignisse politisch enorm gewachsen. Sie sind sich ihrer Macht bewußt geworden, und nichts fehlt ihnen, als von dieser Macht Gebrauch zu machen.

     Die Ebert-Scheidemann und ihr Auftraggeber, die Bourgeoisie, die fortwährend über «Putsche» zetern, erleben in diesen Stunden dieselbe Enttäuschung, wie sie einst der letzte Bourbone erlebt hat, dem auf seinen empörten Ruf über die «Rebellion» des Pariser Volkes von seinem Minister die Antwort gegeben wurde: Herr, das ist keine Rebellion, das ist eine Revolution!

     Ja, eine Revolution ist es, mit all ihrem äußeren wirren Verlauf, mit der abwechselnden Ebbe und Flut, mit momentanen Anläufen zur Machtergreifung und ebenso momentanen Rückläufen der revolutionären Sturzwelle. Und durch all diese scheinbaren Zickzackbewegungen setzt sich die Revolution Schritt um Schritt siegreich durch, schreitet sie unaufhaltsam vorwärts.

     Die Masse muß eben im Kampfe selbst zu kämpfen, zu handeln lernen. Und man spürt heute: Die Arbeiterschaft Berlins hat in hohem Maße zu handeln gelernt, sie dürstet nach entschlossenen Taten, nach klaren Situationen, nach durchgreifenden Maßnahmen. Sie ist nicht mehr dieselbe wie am 9. November, sie weiß, was sie will und was sie soll.

     Sind aber ihre Führer, die ausführenden Organe ihres Willens, auf der Höhe? Sind die revolutionären Obleute und Vertrauensleute der Großbetriebe, sind die radikalen Elemente der USP inzwischen an Tatkraft, Entschlossenheit gewachsen? Hat ihre Aktionsfähigkeit mit der wachsenden Energie der Massen Schritt gehalten?

     Wir befürchten, diese Frage nicht mit einem glatten Ja beantworten zu können. Wir fürchten, die Führer sind noch dieselben, wie sie am 9. November waren, sie haben wenig hinzugelernt.

     24 Stunden sind seit dem Anschlag der Ebert-Regierung gegen Eichhorn verflossen. Die Massen sind dem Appell ihrer Führer mit Ungestüm gefolgt, sie haben die Wiedereinsetzung Eichhorns aus eigenen Kräften spontan durchgeführt, sie haben aus eigener Initiative spontan den «Vorwärts» besetzt, sich der bürgerlichen Redaktionen und des WTB bemächtigt, sie haben sich, soweit es ging, bewaffnet. Sie warten auf weitere Weisungen und Handlungen ihrer Führer.

     Was haben diese inzwischen getan, was beschlossen? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen, um in der gespannten Situation, in der die Schicksale der Revolution zum mindesten für den nächsten Abschnitt entschieden werden, den Sieg der Revolution zu sichern? Wir sehen und hören nichts! Mag sein, daß die Vertrauensmänner der Arbeiterschaft gründlich und ausgiebig beraten. Jetzt gilt es aber zu handeln.

     Die Ebert-Scheidemann verzetteln ihre Zeit sicher nicht mit Beratungen. Sie schlafen ganz gewiß nicht. Sie bereiten im Stillen mit der üblichen Energie und Umsicht der Konterrevolutionäre ihre Zettelungen vor, sie schleifen ihr Schwert, um die Revolution zu überrumpeln, zu meucheln.

     Andere, pflaumenweiche Elemente sind sicher schon fleißig am Werke, um «Verhandlungen» anzubahnen, um Kompromisse herbeizuführen, um über den blutigen Abgrund, der sich zwischen der Arbeiter- und Soldatenmasse und der Regierung Eberts aufgetan, eine Brücke zu schlagen, um die Revolution zu einem «Vergleich» mit ihren Todfeinden zu verleiten.

     Da ist keine Zeit zu verlieren. Da müssen sofort durchgreifende Maßnahmen vorgenommen werden. Den Massen, den revolutionstreuen Soldaten müssen klare und rasche Direktiven gegeben, ihrer Energie, ihrer Kampflust müssen die richtigen Ziele gewiesen werden. Die schwankenden Elemente unter den Truppen können nur durch entschlossenes, klares Handeln der revolutionären Körperschaften für die heilige Sache des Volkes gewonnen werden.

     Handeln! Handeln! Mutig, entschlossen, konsequent — das ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der revolutionären Obleute und der ehrlich sozialistischen Parteiführer. Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen. Rasch handeln! Die Revolution verpflichtet. Ihre Stunden zahlen in der Weltgeschichte für Monate und ihre Tage für Jahre. Mögen sich die Organe der Revolution ihrer hohen Pflichten bewußt sein!


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 7 vom 7. Januar 1919.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 516-518.