„Kritische Wissenschaft, Emanzipation und Entwicklung der Hochschulen“

Bericht über den Kongress vom 1. bis 3. Juli 2005 in Frankfurt/Main

Bericht über den Kongress vom 1. bis 3. Juli in Frankfurt/Main 240 interessierte TeilnehmerInnen fanden sich Anfang Juli im Studierendenhaus der Universität Frankfurt / Main ein, um über die Reproduktionsbedingungen und die Perspektiven kritischer Theorie zu diskutieren. Mit dem Kongress wurden folgende Ziele verfolgt:
  • Eine Einschätzung der Auswirkungen der neoliberalen Hochschulreform auf kritische Theorie und Wissenschaft;
  • eine Bestandsaufnahme der Orte kritischer Theoriebildung außerhalb der Hochschulen;
  •  eine Diskussion darüber, wie die Verdrängung kritischer Theorie und Wissenschaft aus den Hochschulen verhindert und durch außerhochschulische Reproduktion kritischer Wissenschaft entgegengetreten werden kann;
  • eine Vernetzung von AkteurInnen aus verschiedenen Bereichen der Produktion kritischer Theorie;
  • ein Anstoß zur weiteren Diskussion über die Perspektiven kritischen Wissens in der neuen Phase des Kapitalismus.
Dies zu gewährleisten hatte sich ein breiter Kreis von VeranstalterInnen vorgenommen. Neben der Rosa-Luxemburg-Stiftung waren dies der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler / BdWi, die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung und die ASten der Universitäten Frankfurt/M. und Gießen. Unterstützt wurden diese vom Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen / LiRa, der DBG Jugend Hessen, der GEW Hessen und dem Rosa-Luxemburg-Forum Hessen. Die Eröffnungsveranstaltung diente einem grundlegenden Problemaufriss aus internationaler Perspektive. Heinz Steinert führte in das Thema „Hochschule und kritische Theorie“ ein. Es ginge bei der Fragestellung nie um die formale Tradierung, sondern um die Verwendung der kritischen Theorie. Diese Perspektive könne heute kaum noch an universitäre Traditionen anknüpfen, sie führe aus der Hochschule hinaus. Diese sei kein Ort des befreienden Denkens mehr, angesichts der bornierten Departementalisierung des Geistes würde Wissen dort eher verhindert. Dennoch hob der Referent die Notwendigkeit von Intellektuellenpolitik, des Einsatzes für verallgemeinerbare Interessen, Menschen- und Bürgerrechte an den Hochschulen hervor. Es sei keine Option, diese einfach „aufzugeben“. Richard Lee vom Braudel Center der Binghamton University in New York referierte zum Thema „Unthinking Social Science“ in einer weitgefassten Perspektive. Er vertrat die These, dass die Wissensstrukturen bzw. die Arena des Erkennens sich seit Ende der 60er Jahre in einer langfristig angelegten Krise befänden, welche die säkulare Krise konstitutiver Gesellschaftsverhältnisse des modernen Weltsystems widerspiegeln würde. Dies wurde anhand zentraler wissenschaftstheoretischer Entwicklungen der letzten 30 Jahre bzw. einer Reihe grundlegender nicht lösbarer Antinomien („Holismus vs. Reduktionismus“, „Struktur vs. Handlung“, „Determinismus vs. Freiheit“) nachgezeichnet. Am Samstag ging es um „Reproduktion“ im engeren Sinne. Es sollten unter verschiedenen Aspekten die „Bildungsbedingungen kritischer Wissenschaft“ beleuchtet werden. Alex Demirovic eröffnete zum Thema „Kritische Gesellschaftstheorie im fordistischen und postfordistischen Kapitalismus“. Er unterschied vier Phasen bzw. Formen, in denen sich die Arbeit kritischer TheoretikerInnen etwa in den letzten 200 Jahren vollzog: a) die Aufklärer, b) die Journalisten (zu denen auch Marx zu rechnen ist), c) die Parteiintellektuellen (Kautsky, Gramsci) und schließlich d) die marxistischen Intellektuellen im fordistischen Kapitalismus. Erst letzteren sei es gelungen, kritische Theorie und Forschung in einem relevanten Umfang im „offiziellen“ Hochschulbetrieb zu verankern. Diese Phase neige sich dem Ende zu. Daher ginge es künftig um eine „Entakademisierung in der Wahrnehmung radikaler Theoriebildung“. Das Projekt kritischer Gesellschaftstheorie würde/müsse weitergehen, jedoch in einer Vielfalt von Zusammenhängen (einschließlich ihrer Reste an den Hochschulen) wahrgenommen werden. Vermutlich wird die Tendenz einer Aufspaltung von Brotarbeit und theoretischer Arbeit noch verstärkt. Thema des anschließenden Panels war die „Institutionalisierung von Frauenforschung und außerinstitutionelle Perspektiven feministischer Forschung“. Die drei Ko-Referentinnen orientierten sich an der provokativen Fragestellung, ob Gender-Mainstreaming und (etablierte) Geschlechterforschung ohne Feminismus neoliberal sei? Silvia Kontos bezeichnete den „Akademisierungsprozess“ der Frauenforschung als eine „Verlustgeschichte“. Die Zunahme dekonstruktivistischer Ansätze hätte tendenziell handlungsunfähig gemacht („Der größte Dekonstrukteur ist der Neoliberalismus!“). Die konkrete gesellschaftliche Situation von Frauen, nicht zuletzt im Hochschulmilieu, welche nach wie vor – oder sogar wieder zunehmend – durch Mehrarbeit, Rekommodifizierung und familiale Fürsorge geprägt sei, würde durch Akademisierung gerade ausgeblendet. Kontos hob allerdings eine Besonderheit der Fachhochschulen gegenüber den Universitäten hervor: aufgrund des Anspruches einer berufsnahen Ausbildung seien dort auch die Möglichkeiten einer kritisch-reflexiven Selbstbefragung der eigenen Tätigkeit günstiger. Sünne Andresen vertrat die These, dass ungeachtet ihrer Institutionalisierung und Anerkennung in den 90er Jahren die Frauenforschung im Grunde immer „eine Marginalie“ geblieben sei. Mit ihrer Akademisierung hätten auch die Gewohnheiten des akademischen Betriebes Einzug gehalten: stärkere Konkurrenz unter Frauen, Anpassungsdruck, Einschränken von Fragestellungen und Themen. Aus (feministischer) Frauenforschung sei schließlich Geschlechterforschung geworden, die in die nachgefragten „beruflichen Kompetenzen“ des Gendermanagements einmünden würde. Isabell Lorey hob dem entgegen die Kontinuität kritischer Fragestellungen und Lehrveranstaltungen hervor. Der Dekonstruktivismus sei auch eine Art Aufbruch, ein Einspruch gegen den weißen Mittelstandsfeminismus gewesen. Genderstudies müssen insgesamt differenziert bewertet werden. Aufgrund ihres prinzipiell transdisziplinären Charakters seien sie auch für Herrschaftskritik und die Überwindung überkommener Analyseraster nutzbar. Am frühen Samstagnachmittag wurde im Podiumsgespräch eine international vergleichende Analyse der „Abwicklungen Kritischer Theorie und der Erfahrungen des Neoliberalismus“ vorgenommen. Es referierten Michael Krätke (Universität Amsterdam), Bob Jessop (Lancaster-University) und Jan Spurk (Univ. Paris-Sorbonne) die Erfahrungen des Hochschulumbaus in ihren jeweiligen Ländern. Dabei wurde deutlich, dass die Ausgangsbedingungen zunächst so unterschiedlich sind wie die Traditionen der – etwa mehr etatistisch (Frankreich) oder stärker wettbewerblich (England) geprägten – nationalen Bildungssysteme. In der Tendenz jedoch glichen sich diese Unterschiede zunehmend an. Dazu trüge vor allem die Überlagerung akademischer Steuerung durch (ökonomische) Effizienzmodelle und eine Ressourcenumschichtung bzw. -konzentration in Richtung „relevanter“, sprich: verwertbarer, Wissenschaft wesentliches bei. Die sich bereits abzeichnenden Kontroversen und unterschiedlichen Sichtweisen wurden anschließend in vier verschiedenen Arbeitsgruppen vertieft. Hier ging es um „Arbeitsbedingungen“ kritischer intellektueller und künstlerischer Praxis in und außerhalb des Hochschulbetriebes. Über kritische Theoriebildung in der Kunst und Kommerzialisierung referierten Isabell Lorey, Gerard Raunig und Klaus Walter,  Wissenschaftsforschung und die Auswirkungen der Strukturänderungen auf die Arbeit an den Hochschulen debattierten Wolfgang Nitsch und Oliver Brüchert  und die künftigen Perspektiven von Wissenschaft und Beruf behandelten Torsten Bultmann und Bernd Kassebaum, die so auch die Widersprüche und Konfliktlinien des Bolognaprozesses und der Reorganisation der Hochschulen aufzeigten. Inside-out war die Arbeitsgruppe betitelt, die sich mit alternativen Formen und Orten der Wissensproduktion beschäftigte und die von Thomas Seibert und Uli Brand geleitet wurde. Zum Abschluss der Konferenz sprach das Podium am Sonntag über „Gesellschaftsverändernde Wissenschaft“. Wolfgang Nitsch, Joachim Hirsch, Christina Kaindl, Marcus Gilles, Bernd Kaßebaum und Alex Demirovic beurteilten die Perspektive der Hochschulen im künftigen Prozess emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung durchaus unterschiedlich. Es wurde jedoch deutlich, dass die Frage nach dem Ort kritischer Wissenschaft nicht formal oder ausschließend gestellt werden kann – etwa im Sinne der (Schein-)Alternative: in oder außerhalb der Hochschulen. Hochschulen sind keine gesellschaftliche Inseln, sondern eine Institution, an der gesellschaftliche Konflikte und (Interessen-) Widersprüche immer wieder zum Ausdruck kommen bzw. sich ihren Ausdruck suchen werden. Wenn es gelingt soll, Spielräume kritischen Denkens an den Hochschulen zu verteidigen – und auszubauen – steht dies in einem direkten Zusammenhang mit der Fähigkeit kritischer Intellektueller, sich autonome Räume selbst zu schaffen und sich über-institutionell zu vernetzen. Hier ist etwa die Aufgabenstellung solcher Zusammenschlüsse wie des BdWi, der Assoziation Kritischer Gesellschaftsforschung (AKG) oder der Rosa-Luxemburg-Stiftung angesiedelt.