Abschlußbericht zum Projekt: Gegen den Strom – Lebenserfahrungen und Schicksale sudetendeutscher Antifaschisten und ihrer Familien in narrativen biographischen Interviews

In diesen Abschlußbericht fließen Ergebnisse von ca. 70 biographischen narrativen Interviews mit Zeitzeugen ein, die in den Jahren 2003 bis 2006 im Rahmen des oben genannten Projekts durchgeführt wurden, unterstützt durch den Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, die Robert Bosch Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der überwiegende Teil der Gespräche wurde mit heute in den neuen Bundesländern lebenden Zeitzeugen durchgeführt, die in den Jahren 1945/46 mit den sog. Antifa-Transporten in die damalige sowjetische Besatzungszone kamen und Mitglieder der KPTsch waren. An den Interviews beteiligten sich außer der Koordinatorin des Projektes Dr. Alena Wagnerová die Berliner Journalistinnen Rosi Mieder und Gislinde Schwarz. Die Zielsetzung des 2003 gestarteten Projektes war, die Lebensgeschichten und Schicksale der bisher wenig beachteten Gruppe der Henlein- und Nazigegner unter den tschechoslowakischen Bürgern deutscher Nation mit der Methode der Oral-History festzuhalten und für weitere Generationen und die Forschung zu erhalten. Die Ergebnisse des Projektes sollen in einem Buch mit etwa 12 bis 15 Portraits der Interviewten vorgestellt werden und in deutscher und tschechischer Sprache erscheinen. Eine neue Dimension gibt diesem Projekt jetzt seine Fortsetzung in der 2006 durch die tschechische Regierung gestarteten großen Dokumentation der Biographien und Schicksale deutscher Antifaschisten aus der Tschechoslowakei unter der Federführung des Instituts für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaft der CR, in dem Alena Wagnerová mit der Leitung des oral-historischen Teiles betraut wurde. Dieses Projektvorhaben macht es möglich, die bisher getane Arbeit zu erweitern und zu vertiefen, die Dokumente und das Archivmaterial in den einzelnen Familien gründlicher zu sichten und in  Fotokopien zu archivieren. In einer Datenbank sollen nun alle deutschen Nazi-Gegner aus der Tschechoslowakei erfaßt werden. Diese neue entstehende Dokumentation eröffnet natürlich ganz neue und vielfältige Möglichkeiten der Popularisierung der Ergebnisse dieser Forschung, sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Bundesrepublik Deutschland. In dem bisherigen deutsch-tschechischen wie auch deutsch-deutschen Diskurs über die Vertreibung, nicht zuletzt in der kontrovers geführten Debatte über das geplante Zentrum gegen die Vertreibung, handelt es sich um ein bisher kaum beachtetes Thema. Es ist ein Thema nicht ohne politische Brisanz, weil es die jahrzehntelang verfolgte Strategie der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit ihrer Verharmlosung der faschistoiden Henlein-Bewegung als Folge der Unterdrückung der deutschen Minderheit in der Vorkriegstschechoslowakei in Frage stellt. Unter der deutschen Bevölkerung der CSR bildeten die Nazi-Gegner zwischen 5 bis 10%; in den Antifa-Transporten nach dem Krieg gingen etwa 70.000 Sozialdemokraten in die westlichen Besatzungszonen, 50.000 Kommunisten in die sowjetische Besatzungszone, etwa 7.000 überwiegend ältere Menschen blieben in der CSR. Die Narratoren (Interviewten) gehören drei Generationen an: Die kleinste Gruppe bilden die bis zum Jahre 1920 Geborenen, die die Jahre des Kampfes gegen die Henlein-Bewegung noch als junge Erwachsene erlebten und sich an diesem Kampf aktiv beteiligten. Die größte Gruppe unter den Narratoren bilden die Jahrgänge 1920 bis 1928, Menschen, die als Heranwachsende diese Zeit aktiv miterlebten. Die Jüngsten in den Jahren zwischen 1928 und 1932 Geborenen sind in der Regel Kinder aktiver Antifaschisten, die als Kinder in den kritischen dreißiger Jahren viel miterlebt und in Erinnerungen behalten hatten und die Nachkriegssituation der Umsiedlung  als Heranwachsende bzw. junge Erwachsene erlebten. Was die politische Zugehörigkeit anbelangt, bildeten unter den Nazigegnern Sozialdemokraten und Kommunisten die größte Gruppe. Einen eher individuellen Widerstand übten Mitglieder der katholischen Kirche, insbesondere katholische Priester aus, einzelne Mitglieder der Partei Bund der Landwirte und die Liberalen. Angehörige dieser kleinen Gruppen wurden in diesem Projekt nur in zwei Fällen erfasst. Alle anderen Interviewten kamen aus dem sozialdemokratischen oder kommunistischen Milieu. Wie unterschiedlich die Generationszugehörigkeit, das individuelle Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit zu erzählen auch sind, ergeben sich aus den Interviews doch folgende Grundlinien, die mit individuellen Abweichungen für die ganze Gruppe der Befragten typisch sind. Diese aufgezeichneten Grundlinien sollen auch als Hinweise für weitere Nutzung dieser Ergebnisse in der politischen Bildung verstanden werden. 1. Bis auf drei oder vier Ausnahmen stammen alle Zeitzeugen in der zweiten bis dritten Generation von sozialdemokratischen Familien ab. Die Großväter, manchmal auch Großmütter, sind in der Regel Sozialdemokraten gewesen, die 1921 zu Gründungsmitgliedern der KPTsch wurden. Diesem linken Milieu gehört in der Regel auch die breite Verwandtschaft an. Man kann von richtigen kommunistischen oder sozialdemokratischen Familienclans sprechen. Nur in Ausnahmefällen sind die Zeitzeugen selbst zur sozialdemokratischen oder kommunistischen Überzeugung gekommen, sind also Kommunisten oder Sozialdemokraten erster Generation. Auffallend ist auch die aktive Beteiligung der Frauen am politischen Geschehen. Die meisten Zeitzeugen kommen aus den industrialisierten Regionen der Grenzgebiete, wobei nach der Herkunft der Zeitzeugen urteilend, in der Region um Karlsbad besonders stark die Sozialdemokratie, in der Reichenberger Industrieregion besonders stark die Kommunistische Partei war. 2. Sehr ausgeprägt sind bei den Zeitzeugen Erinnerungen an das intensive Vereinsleben (Chöre, Laienspielgruppen, Radfahrergruppen, Sportvereine), in der Regel gegliedert nach politischer Zugehörigkeit. Die Sozialisation der Kinder erfolgt seit frühester Kindheit durch die sehr aktiven Turnvereine (z.B. ATUS). Über sie führt der Weg mit der Gruppe der Gleichaltrigen in die sozialdemokratischen oder kommunistischen Jugendverbände. Bedenkt man die minimalen finanziellen Mittel, die den oft Arbeitslosen zur Verfügung standen, handelt es sich um beachtenswerte Aktivitäten. Für das Vereinsleben werden aus Spenden Arbeiterhäuser und Naturfreudehäuser gebaut. 3. Allgemein hatte die Bildung einen sehr hohen Stellenwert: „Für Bücher gab es bei uns immer Geld“, diese Aussage eines Zeitzeugen ist für das Milieu bezeichnend und wiederholt sich. (Während des Krieges wird die sozialistische Literatur versteckt, teilweise sind diese Bibliotheken bis heute erhalten geblieben.) 4. Hitlers Machtübernahme in Deutschland stellt ein wichtiges, bewusst erlebtes Ereignis dar. Fast alle Zeitzeugen sprechen über die Hilfe für die Flüchtlinge aus dem Dritten Reich und erzählen über die Art der Hilfe, die ihre Familie leistete. (Einzelne Flüchtlinge kommen z.B. regelmäßig zum Essen.) Sie erinnern sich an einzelne Gäste in ihren Familien (W. Ulbricht z.B.) und auch an Schulungen oder Informationsabende, bei welchen die Emigranten aus dem Reich über die Situation dort informieren. Zwischen dem Dritten Reich und den Sozialdemokraten und Kommunisten gibt es nach den Erinnerungen der Zeitzeugen einen reger Austausch von Pressematerial, Flugblättern etc. Die Flüchtlinge bleiben anonym, es wäre allerdings möglich, durch weitere Forschung die Netzwerke zwischen den im Dritten Reich und im Exil in der CSR wirkenden Parteimitgliedern zu rekonstruieren. Das Echo der politischen Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Kurs in der UdSSR oder über die Einheitsfront wird in den Gesprächen kaum thematisiert. Nur der Hitler-Stalin-Pakt wird mitunter mit unterschiedlicher Deutung erwähnt. 5. Als ein wichtiges Ereignis wird in den Interviews der spanische Bürgerkrieg erwähnt, das Sammeln von Spenden für Freiwillige, an dem sich die damaligen Kinder beteiligten, und Erinnerungen an die Verabschiedung der Spanienkämpfer. Unter den Zeitzeugen sind zwar keine Spanienkämpfer mehr, dafür aber noch einige Witwen der Spanienkämpfer und ihre Kinder, die stolz sind auf diese Tradition. 6. Alle Zeugen erzählen von der zunehmenden Verschärfung der Situation in den Grenzgebieten während der dreißiger Jahre, über die Erfahrung, dass einige Parteimitglieder zur Henlein-Bewegung überwechseln, von Saalschlachten, Entlassungen der Linken aus den Betrieben, dem Boykott der Konsumläden durch Henlein Anhänger etc. Diese Erinnerungen sind regionalspezifisch. 7. Fast alle Zeitzeugen berichten über die Flucht in das Landesinnere der CSR im Sommer 1938 und die schwierige Lage der Eltern oder ihre eigene. Der Empfang im Landesinneren wird als freundlich und hilfsbereit geschildert. Die Wege der Zeitzeugen teilen sich: Einige bekommen die Möglichkeit, ins Exil nach Großbritannien, Schweden, Sowjetunion und Kanada zu gehen, andere kehren nach der Besetzung der tschechischen Grenzgebiete Anfang September zurück, werden oft gleich bei der Ankunft auf dem Bahnhof abgefangen, gedemütigt, die Väter werden verhaftet, interniert oder ins KZ geschickt (Dachau, Flossenburg, Mauthausen). Einige kehren erst nach dem 15. März 1939 aus dem Landesinneren zurück, in Einzelfällen gelingt es den Flüchtlingen, im Protektorat zu bleiben. (Es gibt Hinweise, dass auch in dieser Zeit noch Parteinetzwerke existieren.) Es wird über diverse Formen des „kleinen“ Widerstands berichtet: Sammeln für die Rote Hilfe, Hören der Auslandssender, Hilfe für die Zwangsarbeiter, kleine Sabotageakte bei der Wehrmacht, Überlaufen zu den Sowjets u.ä.
Ein besonderes Kapitel bildet offensichtlich die Teilnahme der Deutschen aus der CSR an der tschechoslowakischen Auslandsarmee. In den Gesprächen gibt es aufgrund von Familienüberlieferungen Hinweise auf politische und nationale Auseinandersetzungen dort. (Die Tschechen wollen nicht mit den Deutschen dienen, es gab halbillegale Parteiorganisationen usw.) Sehr oft waren es Spanienkämpfer, die in die tschechische Auslandsarmee angeworben wurden. 8. Das Ende des Krieges erleben die Zeitzeugen als eine große Enttäuschung, sie werden zwar in der Regel als Antifaschisten anerkannt, als Deutsche aber in zunehmenden Maße von der politischen Arbeit ferngehalten und ausgegrenzt. Diese Situation verschlimmert sich mit dem Zuzug der neuen tschechischen Bevölkerung in die Grenzgebiete, während die Kooperation mit den sog. Alttschechen, die schon vor dem Krieg in den Grenzgebieten wohnten, als gut geschildert wird. Diese Enttäuschung kommt praktisch in allen Interviews in unterschiedlicher Intensität vor. Das Fazit, besonders ausgeprägt bei den Bürgern aus der ehemaligen DDR: „Auch wir mussten unseren Teil der deutschen Schuld tragen“. Auf dem deutschen Boden einen sozialistischen Staat aufzubauen ist die neue Aufgabe, der sich die enttäuschten sudetendeutschen Antifaschisten mit Engagement zuwenden. Das kollektive Schicksal bekommt individuelle Ausprägungen je nach den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Einzelnen, eine Palette von Biographien, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Insgesamt kann gelten, dass beim Aufbau der DDR den sudetendeutschen Antifaschisten eine nicht unwichtige Rolle in der Wirtschaft wie in der Politik und den Gewerkschaften zukam. Ihre Herkunft spielte dabei kaum eine Rolle. Heimweh ist bei den Bürgern der ehemaligen DDR kaum ausgeprägt. Interessant ist eine durchweg negative Haltung der Zeitzeugen zum Prager Frühling als einem Versuch, den Kapitalismus zu rekonstruieren, während die Zeitzeugen aus Westdeutschland ihn sehr positiv bewerten. 9. Alle Zeitzeugen aus den neuen Bundesländern thematisieren in den Interviews die Gründe für das Scheitern der DDR bzw. dieser Form des Sozialismus. Diese Reflexion ist oft überraschend selbstkritisch, auch bei den ehemaligen Funktionären der SED, bildet einen sehr interessanten und auch bewegenden Bestandteil der Interviews und sicherlich auch einen Beitrag zur DDR-Forschung. Gemeinsam ist allen Zeitzeugen eine wache und besorgte Haltung gegenüber dem Rechtsextremismus (auch in der Generation der Enkel). Das Wort Antifaschist behielt bei ihnen die ursprüngliche Bedeutung und wird mit einem positiven Akzent als eine Ehrung benutzt. 10. Auf die Frage, ob für sie das Interesse an ihrem Schicksal von der tschechischen Seite etwas bedeutet, reagieren alle Zeitzeugen mit großer Freude und Genugtuung.
Saarbrücken, 31. Januar 2007