Chávez! Chávez!
Zum Gigantinho, der riesigen Sporthalle von Porto Alegre, bewegt sich gegen Abend eine kilometerlange Schlange. Der Präsident Venezuelas und neue Stern des anderen Lateinamerikas, Hugo Chávez, wird sprechen. Anders als bei Lula vor zwei Tagen darf jeder, der will, rein. Hunderte können das Geschehen nur draußen auf einer Leinwand und über Lautsprecher verfolgen. Wir kommen rein. Zuvor werden wir abgetastet, und unsere Taschen werden untersucht. Man drückt uns ein Winkelement in die Hand, die Fahne Venezuelas. Drinnen vibriert der Saal. Sänger und Sängerinnen bringen die großen Revolutionslieder Lateinamerikas. Venceremos! Wir werden siegen! Die mal leise, mal laute Musik geht unter die Haut. Die Bässe dröhnen. Die Menschen singen, sie tanzen, sie springen von ihren Sitzen, schwenken die Arme, und plötzlich kann ich die brasilianischen Lieder leise mitsingen.
Immer wieder ertönen Sprechchöre, vor allem einer: „Olé! Olé-ola-olé! Chávé(z)! Chávé(z)!“ Die Menschen feiern sich in Chávez auch ein wenig selbst, was den Personenkult erträglicher macht. Außerdem habe ich mir diese weiße Arroganz längst in den großen, mafiakontrollierten Vorstädten von Neapel und erst recht in den unendlichen Slums von Mumbai, in denen die Kinder aus Pfützen trinken, abgeschminkt. Die Menschen haben etwas verdient, an dem sie sich festhalten können.
Dann kommt Chávez. Die Leute erheben sich von ihren Sitzen und schwenken die venezolanische Fahne. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Chávé(z), Chávé(z)! Da beginnt ganz leise eine Gitarre zu spielen, dazu ein schwebender Tanz mit Fahnen vor der Bühne. Der stämmige und gedrungene Chávez im leuchtend roten Hemd klatscht den Takt auf seinen Oberschenkeln mit. Gegen ihn wirken alle anderen auf der Bühne steif und kalt. Wäre es nicht schon vorher klar gewesen, in diesem Augenblick manifestierte es sich: Er ist der Star des Abends, ungleich unter Gleichen dank seiner Ausstrahlung.
Die anderen Männer auf der Bühne erweisen sich als begnadete Redner vor dem Herrn. Es sind nur Männer, bis auf eine Frau, die im Vorprogramm reden darf. Dabei jagt gerade diese unheimlich hübsche und sehr junge Powerfrau mit ihrer wunderbar temperamentvollen Stimme einem eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Allesamt sind sie Götter des Stakkatos und des Pathos. „El viva socialismaaa!“ Die Sprache gebiert das Temperament. Vom Blatt redet hier niemand. Als jedoch der Mann der PT redet, schallen ihm laut Buhrufe und Proteste entgegen, trotz Mikrofon dringt er nur schwer durch. Die No-Lula-Fraktion liefert sich mit der 100%-Lula-Fraktion einen - teils voller Hass, meistenteils des Spaßes wegen geführten - Kampf um die größere Lautstärke. Fundamentalismus und Enttäuschung über Lula mögen die Gründe sein. Lula spaltet nicht nur die brasilianische Linke. Die Politik des einstigen Hoffnungsträgers im fünftgrößten Land der Erde ist weit darüber hinaus bedeutsam. Besonders krakeelt eine Abspaltung von der PT, die P-SOL. Diese Partei des Sozialismus und der Freiheit bringt mich dazu, gegen die Intoleranz und für Lula zu klatschen. Man mag die Politik von Lula beurteilen wie man will, die Freiheit der Rede ist es immer wert, verteidigt zu werden. Außerdem sitzen wir im Lula-Block, und da ist es allemal sicherer, für und nicht gegen Lula zu sein.
Endlich Chávez. Er bringt sie alle hinter sich, nur dadurch, dass er ans Rednerpult tritt. Chávez agitiert nicht, er spricht mit den Leuten. Kein Stakkato wie zuvor, obwohl er zum Ende hin immer häufiger zeigt, dass er auch das kann. Zeitweilig ist seine Stimme ganz ruhig wie bei einem Gespräch unter guten Freunden. Manchmal fühlt man trotz der fünfundzwanzigtausend anderen, er redet nur mit einem selbst. Chávez wird wütend und ist voller Humor. Er argumentiert, baut Spannungsbögen und schafft Höhepunkte. Er erzählt, er fragt. Plötzlich singt er mit einer Stimme, die jedem Kirchenchor zur Ehre gereichen würde, eine Strophe zu Ehren von Ché. Chávez macht Pausen und lässt Worte nachklingen. Seine Gesten sind dynamisch, ruhig und offen, meist sanft und weich, nur gelegentlich saust die Faust durch die Luft. Der Saal ist still, er lacht und antwortet, er sinkt und schreit. Er applaudiert.
Chávez redet über Fidel und Mao und über Ché. Er redet über die Linke und die Revolution, über den Tsunami, die indigenen Völker und über die amerikanische Außenministerin. Natürlich über das fórum social mundial, über Venezuela und sein Erdöl. Er streift Afrika und Arabien, Irak, Europa und China. Er beschimpft die USA mit einem Wort, das zu übersetzen sich unsere Dolmetscherin am nächsten Morgen zieren. Er erwähnt Marx, Lenin und Engels, in der Reihenfolge. Er spricht über Ökonomie, Technologie und Philosophie. Er preist den brasilianischen Bundesstaat Rio Grande de Sul, seine Hauptstadt Porto Alegre und den ganzen Süden unserer Welt. Kurz vor Schluss kommt er zu Lula, der doch einer von uns sei. Die eine Hälfte des Saales applaudiert begeistert, die andere schweigt finster. Am Ende redet er zu lange, viel zu lange. Als er nach ein und einer dreiviertel Stunde Schluss macht, hat schon gut ein Drittel der Zuhörer längst den Saal verlassen. Auch die übrigen verlassen nach den eigentlich trotz unseres Sitzplatzes auf der harten Steintreppe schnell vergangenen fünf Stunden schnell die Halle, nicht ohne dabei immer mal wieder zu singen: „Olé! Olé-ola-olé! Chávé(z)! Chávé(z)!“ Mögen ihre Hoffnungen nicht wieder enttäuscht werden.