Ein paar Forumsflugsachen
Rainer Rilling zieht eine (eigentlich unmögliche) Zwischenbilanz des WSF 2005: "Alles muss unter diesem Vorbehalt der krassen Unübersichtlichkeit stehen"
1
Bei gefühlten 40 Grad lässt sich schwer sagen, woran es einer Veranstaltung dieser Art fehlt. Oder warum und wie sie funktioniert. Auch wer sich die Füße Wund läuft, dem Papier nachjagt, sich in ungeahnte Sprachwirrnisse hineinbegibt und kein Nacht ohne ausführlichste Kommunikationsversuche verstreichen lässt – der und die hat dennoch keine Chance, eine einigermaßen zuverlässige Beurteilung zustande zu bringen, was denn da geschah und geschieht in Porto Alegre – alles muss unter diesem Vorbehalt der krassen Unübersichtlichkeit stehen. Sie wird durch die professionelle Nachrichtenverarbeitung der Journaille nur langsam konterkariert – auch sie hat keinen Überblick, sondern schlägt nur Schneisen meist nach den autoritativen und reputierten Quellen, die aus der Hierarchie des Forums und seinen well known global and local heroes lanciert werden. Wer will auch mit einem Programm fertig werden, das die Sonntagsausgabe der New York Times bei weitem hinter sich lässt – ohne Werbung übrigens.
2
Also: ich zweifle daran, dass das Forum an politisch-ideologischer Autonomie verloren hat. Es ist weiter zu groß, zu demokratisch und aktiv plural, um von einem hegemonialen Projekt bestimmt zu werden – schon gar nicht von einem sozialdemokratischen. Es scheint, als ob diese Strömung zumindest schwach repräsentiert ist. Die PT, die politisch und visuell das letzte Forum sehr stark prägte, hat stark an Präsenz verloren, die kritische Auseinandersetzung mit ihr hat gewonnen. Auch die CUT – im Unterschied zur MST – war weitaus weniger präsent. Die Kämpfe in anderen lateinamerikanischen Staaten rückten in den Vordergrund. Die RLS organisierte substantiell an einem riesigen Podium zur Frage des Wassers mit, um das in vielen lateinamerikanischen Ländern heftig gekämpft wird. Chavez, der vor zwei Jahren gleichsam durch den Hintereingang ins Forum gebracht wurde, übernimmt nun die Heroenrolle in der zentralen sonntäglichen Abschlussveranstaltung in eben jenem Giganthino – Stadion, in dem zu Beginn Lula und vor zwei Jahren zum Abschluss Chomsky und Roy sprachen. Eine bemerkenswerte Veränderung.
3
Sicher – wo vielleicht 150 000 Menschen sind, ist die Chance, vor leeren Stühlen zu predigen, relativ gering. Irgendwie bleibt überall eine Mindestmenge hängen, die dann häufig auch eben interessiert ist. Und der Raum des Forums ist wirklich offen, eine riesige Kultur-und Kommunikationsmaschine, die fünf Tage nicht aufhört zu laufen, zu schreien, zu werben, zu argumentieren, zu predigen. Das ist auch eine große Hörmaschine. Eine Schreibmaschine. Eine Sammelmaschine. Aber die Lautstärke und die Technik sind ungleich verteilt. Prominente haben große Säle und Groupies und kommen selten freiwillig in kleine Säle und stellen sich an. Sie haben Lautsprecher und verjagen nicht selten ihre Umgebung. Sie haben meistens lebendige Übersetzungsvehikel zur Hand – bei anderen ist oft genug ausgeschlossen, wer nicht spanisch kann. Und sage keiner, sie könnten nicht reden, diese Bewegungsstars – sie sind meistens deshalb welche geworden, man muss nicht nur das Richtige sagen, man muss es auch richtig sagen können.
4
Wer an den Zelten vorbeiläuft, hört in vier von fünf Männerstimmen. Wer hineingeht und schaut sich die Podien an, sieht: das war kein Irrtum. Das war schon anders – vor allem in Mumbai. Übrigens war das bei der RLS ein bisschen anders, aber nicht sonderlich.
5
Der Mainstream ist: die Stimmen sind bei weitem zu häufig aufs peinsamste nach Nationalstaaten geordnet. Die Staatsangehörigkeit bestimmt massiv mit, wie die prominenten Podien verteilt werden. Der RLS ist es passiert, dass sich der deutsche Diskutant, der übrigens flott spanisch spricht, unversehens einer unabgesprochenen Front von fünf Brasilianern gegenübersah, die dann auch über eine brasilianische Kampagne sprachen. Das Thema war allerdings Kapitalverkehrskontrollen, was irgendwie doch was Internationales an sich hat, weshalb er den Weg hierher genommen hat.
6
Ohne Staat kein Forum – er hat den Löwenanteil des Geldes bereitgestellt und verarbeitet die Raumfrage. Ein Projekt wäre allerdings: mal auszurechnen, welchen Marktpreis die öffentlichen und ehrenamtlichen SERVICES auf und vor diesem Forum haben. Das ginge mit Sicherheit in die Dutzende und Aberdutzende von Millionen. So viel zum Thema Privatisierung. Kleingewerbetreibende gab’s freilich en masse – bestimmt mehr als 5000.
7
Ohne Übersetzung kein Forum. Die Bewertung der Übersetzungsleistungen ist bei weitem zu gering. Wer nicht in die Weltsprachen kommt, ist nicht angeschlossen – nicht nur an den hegemonialen Müll, sondern auch an zahllose hochproduktive Debatten, gerade der Linken. Die spanisch sprechende Linke hat eine intellektuelle Hochzeit – die deutsche ist daran kaum anschlussfähig. Aber deren Interesse an dem, was in Deutschland geschieht, ist durchaus vorhanden – zu sehen etwa an der Veranstaltung der RLS zu Rosa Luxemburg oder zur Enteignungsökonomie.
8
Auffällig war: die radikale Rechte war kaum ein Thema. Man könnte glauben, Faschismus, Nazismus, rechtspopulistische und völkische Bewegungen interessieren nicht (mehr) auf dem Forum. Hier entwickelt sich ein großes Problem. Und nachdem die letzten Foren stark geprägt waren vom Krieg, gehörten dieses Mal Veranstaltungen zu substantiellen Themen wie militärische Forschung, Kriegsfolgen in Vietnam oder dem Irak oder zu Rüstungskonversion deutlich zu Kategorie der betrüblich ausgezehrten Unternehmen. Übrigens ist das Forum auch kein Ort, über die Eliten, herrschenden Klassen, unser aller Bourgeoisie und deren strategische Projekte nachzudenken. Aber das ist auch auf der Linken insgesamt üblich.
9
Trotzdem: das Forum und seine Bewegungen sind eigentlich die größte internationale oder transnationale Produktivkraft der Linken in der Gegenwart.