Globale Resonanzen

Dieses Jahr zog es etwa 120.000 Menschen zum WSF, das zum vierten Mal in Porto Alegre stattfand. Zwischen der Eröffnungsdemonstration und dem Abschlusspodium fanden über 2.000 Veranstaltungen statt zu allem, was ein linker Kopf sich vorstellen kann bzw. ein linkes Herz begehrt. Ulrich Brand nahm am Weltsozialforum auf Einladung der RLS teil und zieht hier sein Resümee des Forums.

Ulrich Brand arbeitet an der Universität Kassel am Fachgebiet „Globalisierung und Politik“, ist politisch aktiv in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und im wissenschaftlichen Beitrat von Attac. Im April erscheint von ihm „Gegen-Hegemonie. Bausteine für globalisierungskritische Strategien“ (Hamburg 2005: VSA-Verlag). Am Weltsozialforum nahm er auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung teil. Eine überarbeitete Version dieses Beitrages erscheint in "Blätter für deutsche und internationale Politik", Nr. 3/2005; http://www.blaetter.de In der Süddeutschen Zeitung vom 1. Februar wird in einem Kommentar an die erschütternde Tatsache erinnert, dass wöchentlich 30 000 Kinder sterben, weil sie nicht ausreichend Wasser und Medikamente zur Verfügung haben. Da die Bilder des Elends den Weg nichts ins hiesige Fernsehen finden, wird auch kaum mehr gespendet. Deshalb sollen sich westliche Regierungen, insbesondere in Konfliktregionen, einmischen. Wasser und Gesundheit waren auch zentrale Themen auf dem einen Tag vor Erscheinen des SZ-Kommentars zu Ende gegangenen 5. Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre. Allerdings wurde weniger zu einer aktiveren Rolle nördlicher Regierungen aufgerufen. Im Gegenteil. Die Einmischung von nördlichen Regierungen, IWF, Weltbank sowie Konzernen wie RWE, Suez oder Vivendi-Veolia  (die letzteren beiden mit Sitz in Frankreich) in die Prozesse der Privatisierung von Wasser wie auch die teilweise katastrophalen Folgen für die Versorgung mit Wasser und die Wasserpreise standen im Zentrum der Kritik. In dem „Manifest von Porto Alegre“ von 19 Intellektuellen, darunter Ignacio Ramonet, Bernard Cassen, Eduardo Galeano und die Nobelpreisträger José Saramago und Adolfo Pérez Esquivel, ist denn unter anderem die Forderung eines Menschenrechts auf Wasser wichtig. Dieses Jahr zog es etwa 120.000 Menschen zum WSF, das zum vierten Mal in der südbrasilianischen Stadt stattfand (letztes Jahr in Mumbai). Zwischen der Eröffnungsdemonstration am Mittwoch und dem Abschluss am Montag fanden über 2.000 Veranstaltungen statt zu allem, was ein linker Kopf sich vorstellen kann bzw. ein linkes Herz begehrt (dazu kamen unzählige spezifische Workshops vor dem eigentlichen WSF). Aus Deutschland nehmen über die Delegationen der Rosa-Luxemburg- Heinrich-Böll- und Friedrich-Ebert-Stiftung unterschiedliche Menschen aus NGOs, Bewegungen, Parteien und Hochschulen teil, dazu waren entwicklungspolitische Organisationen wie der Evangelische Entwicklungsdienst, der Deutsche Entwicklungsdienst und Misereor vertreten. Sozialpolitische Verbände fehlten weitgehend, dafür gab es eine starke Präsenz von GewerkschafterInnen. In einem partizipativen Vorbereitungsprozess wurden elf „thematische“ Achsen herausdestilliert, die für die globalen sozialen Bewegungen zentral sind: Wissen und Wiederaneignung von Technologien; Diversität, Pluralität und Identitäten; Kunst und Kultur; Kommunikation; Gemeingüter als Alternative zu Privatisierung und Kontrolle durch transnationale Konzerne; soziale Kämpfe und Demokratie; Frieden und Demilitarisierung; internationale Demokratie; alternative Ökonomie; Menschenrechte, Ethik und Spiritualität. „Transversal“ hierzu sollten die Themen soziale Emanzipation und politische Dimension von Kämpfen, Kämpfe gegen den patriarchalen Kapitalismus, Kämpfe gegen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Diversität in die Debatten eingewoben werden. Thomas Fatheuer von der Böll-Stiftung in Rio de Janeiro merkte an, dass jede und jeder sein eigenes WSF erleben würde. In der Tat – und das macht natürlich eine umfassende Einschätzung schwer. Ein Blick in das Programm zeigt, dass die Themen Privatisierung (hier besonders Wasser), Landreform, Militarisierung und Menschenrechte bedeutend waren. Das WSF erfüllt, wie seine lokalen, nationalen und regionalen „Ableger“, verschiedene „Funktionen“. Die meisten dieser Funktionen werden abseits der großen Medienöffentlichkeit erfüllt, weshalb sie nicht weniger wichtig wären. Nach außen hin stellt das Forum, schon aufgrund seiner Parallelität zum Weltwirtschaftsforum in Davos, einen wichtigen symbolischen Kontrapunkt zu den herrschenden Kräften und Prozessen der neoliberal-neoimperialen Globalisierung. Hier die farbenfrohe und enorm dynamische Suche nach einer anderen Welt – dort die unter Polizeischutz tagenden, in ihren grauen Anzügen tristen Profiteure und Verwalter des Elends. Neben den Protesten gegen G8- oder Weltbank/IWF-Versammlungen wird auf einem WSF besonders deutlich, dass es den Bewegungen nicht nur um Kritik geht, sondern um emanzipative Alternativen. Das agenda setting wird weniger von außen vorgegeben als etwa bei WTO-Verhandlungen. Auf der Ebene der Infragestellung neoliberaler Konsense sind die aktuellen Bewegungen zweifellos recht erfolgreich. Hierfür sind auch „Köpfe“ und Begriffe wie De-Globalisierung, Gemeingüter, ya basta! (es reicht), radikale Transformation wichtig. Es dient zudem der Identitätsbildung der Teilnehmenden und vieler Nicht-Teilnehmenden, die sich den Bewegungen dazugehörig fühlen. Zu wissen, dass andere Menschen ähnlich denken und handeln, stellt eine enorme Ermunterung für die eigenen Praxen dar. Zu verstehen, wie andere denken und handeln, und sich mit einigen sogar noch gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten, ist eine ungleich größere Herausforderung, mit der man bei einem WSF wächst. Deshalb spielt die fantastische Stimmung eine wesentliche Rolle und sollte das Forum nicht zum Festival abstufen. Stimmung heißt ja nicht nur, zu feiern oder sich inhaltlich-rhetorisch gelungene Vorträge anzuhören, sondern bedeutet Zufriedenheit nach einem konzentrierten dreistündigen Workshop oder neuen Bekannten. Es geht auf einem WSF auch wesentlich munterer und weniger technokratisch zu als auf NGO-Foren um bestimmte UNO-Konferenzen herum. Eine weitere Funktion ist der Erfahrungsaustausch: Das WSF ist eine weltweit einzigartige Ideenbörse und ein Forum, bei der konkrete Kämpfe gegen die herrschenden Verhältnisse sowie entstehende Alternativen beschrieben und reflektiert werden. Das ist m.E. der prickelndste Aspekt, denn hier werden die schwierigen Suchprozesse, Hindernisse und Kontingenzen am deutlichsten. Über große und kleine Diskussionen dient es der konfliktiven Selbstverständigung darüber, was die Dynamiken der gegenwärtigen Entwicklungen ausmacht. Das geschieht über Persönlichkeiten wie Immanuel Wallerstein, Vandana Shiva, Arundhati Roy oder Walden Bello eher aus Makroperspektiven oder in Workshops zur Regulierung der Finanzmärkte, Strategien gegen Stausdämme oder alternative Landwirtschaft entlang konkreter Konflikte. Insofern ist das WSF eine gigantische Bildungsveranstaltung. Und schließlich dient es für konkrete Absprachen und Strategieentwicklungen - sei es für internationale Kampagnen, weiteren Erfahrungsaustausch, Treffen von Projektpartnern, Vernetzung von Intellektuellen. Hier entsteht in face-to-face-Kommunikation jenes Vertrauen, das für ein gemeinsames Agieren notwendig ist. Place matters. Der konkrete Ort in Südbrasilien führte zu einer enormen Teilnahme aus Brasilien sowie – weit geringer – aus Uruguay und Argentinien. Relativ wenig Menschen waren aus Asien und Afrika da. Zudem gab es ein deutliches Übergewicht von Workshops zu brasilianischen und lateinamerikanischen Themen sowie in Portugiesisch und Spanisch ohne Übersetzung ins Englische. Selbst viele Pressemitteilungen waren zuvorderst auf Portugiesisch und zu innerbrasilianischen Themen. Der Umzug des Forums in das Stadtzentrum und zum Jugendcamp, in dem 30.000 meist jüngere Menschen untergebracht waren, war dagegen sinnvoll (um den Preis, dass statt in festen Räumen in Zelten sich ausgetauscht und diskutiert wurde). Gerade hier zeigen sich die Vorzüge eines Festivals, dass nämlich vor allem Leute aus dem Süden Lateinamerikas eine Woche lang sich und andere kennen lernen, diskutieren und feiern, mit Sprachproblemen umgehen, etc. Nationale Souveränität als Lösung? Nach der Kritik vergangener Jahre an „Promi-Podien“ mit bis zu 5.000 ZuhörerInnen und 2003 einer Abschlussveranstaltung mit 25.000 Menschen wurde dieses Jahr auf von den Veranstaltern konzipierte Großveranstaltungen verzichtet. Das führte natürlich dennoch dazu, dass zu einer Diskussion mit Emir Sader, einem der wichtigsten linken Intellektuellen in Brasilien, Michael Hardt und John Holloway sich 2.000 Menschen einfanden. Problematischer ist jedoch, dass der neben der Auftaktdemonstration einzige Ort des Zusammenkommens von jemandem besetzt wurde, der einem beim Stichwort WSF nicht sofort einfällt: Der Präsident Venezuelas Hugo Chávez. Nach der Enttäuschung vieler Linker Lateinamerikas gegenüber der brasilianischen Regierung von Lula da Silva – vor genau zwei Jahren wurde eben dieser auf dem WSF kurz nach Regierungsantritt frenetisch gefeiert – füllte Chávez eine offenbar von vielen so wahrgenommene Leerstelle. Er bediente aber nicht nur einen oft simplifizierenden Antiamerikanismus und das Bedürfnis einer personifizierten Projektionsfläche, sondern steht für eine wichtiger werdende Position, die ich mangels begrifflicher Alternative als „national-souveränistische“ bezeichnen würde. Die Verwerfungen der neoliberal-neoimperialistischen Globalisierung werden von einem nicht unerheblichen Teil der Bewegungen gerade in Lateinamerika in einem klassischen anti-imperialistischen Bezugsrahmen, und hier „die“ USA angreifend, verortet. Letzteres ist nicht so ganz falsch. Gleichwohl zeigen die meisten empirischen Beispiele der Durchsetzung neoliberaler Strategien, besonders deutlich bei den Privatisierungen von Staatsbetrieben, die hochgradige Verflochtenheit der eigenen inneren oder Kompradoren-Bourgeosie. Dass sich an Chávez derart viele ausrichten, könnte zum Problem für radikalerer Strömungen werden, die nicht durch die Hintertür einen Staat als Instrumente emanzipativer Transformation ins Zentrum stellt. Allzu schnell schatten die mobilisierenden und andere positive Aspekte jene der Kontrolle der Bevölkerung durch ein Militär ab. Gleichwohl zeigt das Beispiel Venezuela deutlich, inwieweit eine unfähige Bourgeoisie und Staatsklasse unter bestimmten Umständen dennoch entscheidend geschwächt werden kann. Zudem finden in Venezuela durchaus Prozesse in Richtung Demokratisierung statt, unter anderem weil Chávez auch gegen die alte Staatsbürokratie vorgehen muss. Die langsame Stärkung einer „national-souveränistischen“ Position macht ein weiteres Dilemma deutlich: Es fehlt bei den Treffen – und wahrscheinlich auch darüber hinaus - eine entwickelte Streitkultur. Über teilweise erhebliche Differenzen oder sogar sich widersprechende Perspektiven wird oft hinweggegangen. Das wird gerade dann zum Problem, wenn anerkannt wird, dass emanzipative Gesellschaftsveränderung nicht privilegiert über die Transformation staatlicher Institutionen stattfinden kann, sondern auch durch die Revolutionierung der Alltagsverhältnisse: Produktion, Reproduktion, Subjektivitäten, die Verhältnisse von Gesellschaften zu Natur. Die enorme Vielfalt von konkreten alternativen Praxen und Ideen, von Politikvorstellungen und neuartigen Konstituierungen sozialer Subjekte, mit den mexikanischen Zapatistas gesprochen: die „Neuerfindung der Revolution“ könnte zu schnell wieder eng geführt werden auf eher traditionelle Vorstellungen. Gleichzeitig, und das macht Venezuela ja deutlich, gehen letztere in der Tat mit verbesserten Lebensbedingungen für viele Menschen einher. Das WSF gibt einen – notwendig oberflächlichen – Eindruck, wie sich neue Formen materieller und sozialer Reproduktion herstellen. Der peruanische Intellektuelle Anibal Quijano fragte, ob mit diesen kriseninduziert sich verändernden Mikrostrukturen eventuell neue Reproduktionsmodi entstehen, die auf so etwas wie Staat im westlichen Sinne verzichten (müssen). Deutlich wird an Reflexionen mit Bewegungen und von ihnen selbst, dass neue Formen der Vergesellschaftung sich nicht über Postulate durchsetzen, sondern in widersprüchlichen Lernprozessen materialisieren müssen. So beschrieb etwa Nélida Jara von einer Bewegung der Erwerbslosen in Buenos Aires, dass Horizontalität für sie nicht nur ein wichtiges Prinzip sei, sondern über die konkreten Verbesserungen der Lebensbedingungen eben jene sich praktisch verankere. Ihr Kampf sei erfolgreicher, weil es das ständige Ringen um horizontale Binnenstrukturen gebe, bei allen Rückschritten eben auch Fortschritte hinsichtlich der Positionsfindung gegenüber der Regierung, der alltäglichen Versorgung, der Geschlechterverhältnisse und anderem. Bewegungen und Institutionen Eine andere, viel diskutierte Ebene neben sich widersprüchlich verändernden Alltagsverhältnissen ist jene der nationalen und internationalen institutionellen Politik, des Agierens transnationaler Konzerne und der Schwächung des Druckes, der von den internationalen Finanzmärkten ausgeht. Im Bezug auf letztere wurde es als Erfolg der Bewegungen verbucht, dass Schröder und Chirac sich in Davos zumindest symbolisch hinter die Tobin-Steuer stellten. Das wurde nicht bejubelt, weil von vielen als P.R.-Maßnahme interpretiert, aber doch erfreut zur Kenntnis genommen. Wichtiger ist wahrscheinlich, dass die Amerikanische Freihandelszone FTAA, die ursprünglich bis Januar 2005 eingerichtet sein sollte, weit von ihrer Realisierung entfernt ist. Hier spielt das Verhältnis von Bewegungen zu staatlichen Regierungen natürlich eine Rolle. Und auch die vielfältigen subtilen und offenen repressiven Politiken, denen verschiedenste Spektren der Bewegungen ausgesetzt sind, sind oft genug staatlich organisiert und müssen über Kämpfe zurückgedrängt werden, die zu anderem Staatshandeln führt. Diese Aspekte gehen in manchen „großen“ Interpretationen eines John Holloway oder Michael Hardt verloren. Auffallend ist, dass es wenig Interesse daran gibt, die Rolle des Staates in seinen je unterschiedlichen Kontexten oder internationaler Institutionen gründlicher zu diskutieren. Für viele ist der Staat neben dem Kapital die Ausgeburt des Bösen, andere sehen in ihm eine unverzichtbare Regulierungsinstanz, die es angesichts der neoliberalen Verhältnisse zu demokratisieren gelte. An der Spannung zwischen Emphase – manchmal auch Romantisierung - für sozialen Bewegungen und deren absolute Notwendigkeit einerseits und institutioneller Politik andererseits leiden jenseits von Events wie dem WSF viele Spektren der Bewegungen. Denn selbst wenn sich das einige selbsternannte Avantgardisten anderes vorstellen: Gesellschaftliche Veränderung ist eben auch das „Bohren dicker Bretter“, bedeutet „Stellungskämpfe“ (Antonio Gramsci) an vielen Orten mit klugen Strategien und langem Atem gegen Gegner, die nicht dumm sind und über ungleich mehr Ressourcen verfügen. Vorschläge für abstrakte Masterpläne oder der traditionelle Dreischritt „Analyse der Widersprüche - Programm – Bündnisse“ sind eher am Rande zu finden. An diesen Fragen wird deutlich, dass die aktuellen Bewegungen sehr ernst nehmen, dass es nicht zuletzt um alternatives Wissen geht: um konkurrierende Interpretationen zu den gegenwärtig herrschenden, sei es an den Universitäten oder im breiteren öffentlichen Diskurs; Wissen um komplizierte Sachverhalte, um gegen neoliberale Technokraten argumentieren und Vorschläge machen zu können; Wissen, wie ganz konkret das Leben anders gestaltet werden kann – sei es in der Landwirtschaft oder bei der Nutzung des Internet. Dieses Wissen ist meist nicht akademisch. Es entsteht in den Bewegungen selbst oder wird dort erhalten, weil sich Menschen dagegen wehren, fremdbestimmt modernisiert zu werden. Insbesondere NGOs spielen hier eine wichtige Rolle, da sie häufig eine bewegungsorientierte Infrastruktur bieten hinsichtlich organisatorischer Erfahrungen, materieller Ressourcen, internationaler Kontakte und Sprachkenntnisse, spezifischer Wissensformen u.a. Theoretisches Wissen verliert in dieser Konstellation seinen oftmals proklamierten (und von den „Empfängern“ akzeptierten) überlegenen Status. Deutlich wird, dass das Wissen um Strukturen und Handlungshemmnisse, um Widersprüche und Kontingenzen in die je spezifischen Kontexte und Konflikte übersetzt werden muss. Wenn emanzipative Veränderungen an unzähligen Orten und Situationen stattfindet, wenn es keinen Fahr- und Masterplan hin zu einer anderen Gesellschaft gibt, wenn Bewegungen sich gerade nicht vereinheitlichen lassen, dann stellt das enorme Anforderungen an unterschiedliche Wissensformen. Theorie bleibt wichtig als Strukturwissen und Angebot zu Reflexion. Das ist enorm viel – und in der Praxis sehr schwierig. Hier und da wurde die Frage der Repräsentation gestellt, nach dem „Mandat der Basis“. Das haben die meisten TeilnehmerInnen und genau das macht die Dynamik des WSF aus. Gleichwohl sind viele TeilnehmerInnen aus eigenem Interesse da, AkademikerInnen, NGO-MitarbeiterInnen – und das ist wichtig. Solch ein Treffen kann nicht den Anspruch auf Repräsentativität erheben, allenfalls handelt es sich um eine regulative Idee, damit die TeilnehmerInnen regional und thematisch möglichst vielfältig sind. Bereits von den früheren Veranstaltungen bekannt Probleme wiederholten oder verschärften sich: Zum einen dominierte eine Veranstaltungsform, bei der vier bis acht Menschen zunächst referierten und dann mit dem Publikum diskutiert wurde. Zudem waren nach meiner Schätzung und dem Eindruck aus etwa 30 Veranstaltungen über drei Viertel der ReferentInnen Männer. Wie weiter? Das Weltsozialforum, das ist inzwischen deutlich geworden, ist ein Kristallisationspunkt enorm vieler Akteure und konkreter Kämpfe. Im kommenden Jahr soll es dezentral stattfinden, was für Europa wohl heißen wird, dass es mit dem Europäischen Sozialforum in Athen im April 2006 stattfinden wird. In Lateinamerika wird höchstwahrscheinlich Caracás, eventuell mit Buenos Aires, das dezentralisierte WSF beherbergen. 2007 soll es ein zentralisiertes WSF in Afrika geben. Marokko und Südafrika hörte man hie und da am Rande genannt. Die Frage, ob es sich beim WSF um einen Raum oder um einen spezifischeren Akteur handeln soll, beantwortet sich m.E. von selbst in Richtung ersteren. Der Versuch von Bernard Cassen beispielsweise, im Namen des Forums zu sprechen, haben keine orientierende Wirkung. Die oben genannte „Gruppe der 19“ hat sich mit dem Vorstoß nicht nur Sympathien erworben, da hier der ohnehin immer aufscheinende und kritisierte Wunsch von Intellektuellen nach Prominenz und orientierender Funktion aufscheint. War das WSF 2005 ein Erfolg? Das hängt natürlich von den jeweiligen Erwartungen und konkreten Erfahrungen ab. Die Sozialforen auf unterschiedlichsten Ebenen sind eine Form des Austauschs der globalen sozialen Bewegungen. Sie werden ihre Anliegen einer besseren Welt nur vorantreiben können, wenn sie über sich selbst hinaus wirken. Es geht daher von ganz konkreten Auseinandersetzungen „vor Ort“, in Betrieben, Universitäten, persönlichen Nahverhältnissen oder von bestimmten Aspekten nationaler und internationaler Politik zum Weltsozialforum – und wieder zurück. Eine andere Welt wird nur möglich, wenn die vielfältigen emanzipatorischen Ansprüche, Ideen, Strategien, Erfahrungen mit anderen Resonanzen bilden, Lern- und Erfahrungsprozesse sowie Gegenmacht im umfassenden Sinne bilden.
>>WSF 2005 - Dokumentation