Wir müssen etwas wagen
Autor: Candido Grzybowski, Soziologe, Direktor von IBASE (Brasilianisches Institut für Sozialökonomische Analyse) und einer der acht Mitglieder des Organisationskomitees des Weltsozialforums. Der Artikel ist abgedruckt auf englisch in Terra Viva, 29. Januar 2005. Übersetzung: Michael Brie
Das Weltsozialforum ist eine lebendige Quelle von Alternativen, und doch ist der Prozess der Diskussion und des Vergleichs, der sie hervorbringt, wichtiger als die Alternativen selbst. Das Forum ist eine Art öffentlicher Platz, ein offener Raum, in dem sich die Bürger als Gleiche treffen können, ein Platz der Information und Debatte, der Leidenschaft und des Genusses, ein originärer Ort für die Erfindung und Praktizierung von Demokratie.
Es reicht, am Forum teilzunehmen, um zu sehen, wie diese Energie verschiedene Menschen verbindet und die Batterien, aus denen sich Hoffnung speist, auflädt. Das Forum erlaubt es, Ideen zu revidieren, und stärkt den kollektiven Willen, da alle Teilnehmer gestärkt werden in ihrem Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten und an die Kraft ihrer Erfahrungen und Überzeugungen.
Es ist klar, dass das WSF ein politisches Experiment und eine Macht der intellektuellen Erneuerung ist, das Träume inspiriert und die Entschlossenheit stärkt, sich der Krise zu stellen, die der globale Kapitalismus erzeugt hat.
Neue politische Kultur
Das Forum bietet die Möglichkeit, neue Denkweisen zu ersinnen und zur Formierung einer neuen politischen Kultur einer radikal demokratischen sozialen Transformation mit effektiven Vorschlägen der Schaffung anderer Welten beizutragen.
Dies hervorhebend, erkenne ich natürlich die ungeheuren Schwierigkeiten an, die bei der Entwicklung und Umsetzung der Ideen und Prozesse auftreten werden, die im Forum debattiert werden.
Die gegenwärtige Globalisierung erzwingt homogene Muster des Lebens und der Kultur; sie zerstört, grenzt aus und konzentriert. Wir antworten darauf mit der Behauptung von Gleichheit in der Verschiedenheit, mit dem Recht auf Inklusion aller Menschen und mit der Überzeugung, dass Menschenrechte Rechte aller Menschen sind, die aus dem Respekt vor dem gemeinsamen Erbe erwachsen, dem Planeten Erde.
Das Treffen des WSF in Indien im letzten Jahr hat uns Universalität gegeben, aber das Universum ist viel größer und durch noch höhere Verschiedenheit geprägt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir im Jahr 2007 mit dem Forum nach Afrika gehen. Aber wie steht es um die anderen Regionen und Kulturen? Was ist mit Osteuropa, Zentralasien, der Karibik, Zentralamerika und der arabischen Welt?
Wir sind nur eine Elite
Ich bestätige hier nur, was in den Statistiken über das Forum reflektiert wird: Wir sind legitime Aktivisten der entstehenden planetaren Bürgerschaft, aber wir sind nur eine Elite. Die Vertreter normaler Leute bilden in unseren Treffen nur eine Minderheit. Wie können wir dieser Herausforderung mit der notwendigen Dringlichkeit und Radikalität begegnen?
Wir müssen fähig sein zu mobilisieren jenseits geographischer, sozialer und kultureller Schranken. Wir müssen Wege entwickeln, um aktiv die unsichtbaren Gruppen in unserer Gesellschaft zu absorbieren, da sie nicht über die Ressourcen und Organisation zur Teilnahme verfügen.
Das WSF besteht auf dem Primat der Politik, nicht der Märkte, über das menschliche Leben. Zu diesem Zweck ist das Forum ein Prozess und Raum demokratischer Innovation, der verschiedene soziale Subjekte zur Teilnahme und zur Durchsetzung ihres Willens gegenüber staatlicher Macht, multilateralen Institutionen, Großkonzernen und Märkten anspornt.
Avantgardismus überwinden
Das WSF muss sich zugleich in wachsendem Maße auf die Stärke seiner Teilnehmer stützen, ihre Diversität und Pluralität nutzen. Wir müssen deshalb über den radikalen, aber passiven Respekt für selbstbestimmte Aktivitäten hinausgehen, den wir auf dem diesjährigen Forum 2005 begonnen haben zu zeigen.
Dazu müssen wir die innere Demokratie radikalisieren, so dass das Differente transformiert wird in Diversität, bloßer Gegensatz, Wiederholung und Konfusion mannigfaltiger Aktivitäten in die Anerkennung aller.
Wir müssen demokratisch und aktiv handeln, mit Respekt vor der Totalität der Menschen, wir müssen danach streben, eine wahre Diversität zu schaffen, die jede Vorherrschaft, Ghettos und Avantgardismus überwindet, so dass die pluralen Visionen und Analysen das Maximum an möglichem Konsens und dynamisierendem Dissens aus ihrer eigenen Demokratie ziehen, was zugleich neue gemeinsam Suche verlangt.
Das WSF ist kein Projekt oder eine Strategie, der alle folgen müssen. Alle erkennen wir dies an. Es kann nur ein offener Raum sein für strategisches Denken, orientiert auf transformatives Handeln, der die Teilnehmer frei lässt zu entscheiden, was zu tun, wie und mit wem, in Übereinstimmung mit ihren eigenen Möglichkeiten, Bedingungen und Sehnsüchten.
Verwegenheit
Auf der anderen Seite brauchen wir eine Dosis Verwegenheit. Wir haben enorme Hoffnungen in der Welt erweckt. Das WSF ist heute tatsächlich ein Symbol der Hoffnung. Wir dürfen nicht auf den Zauber der Utopie verzichten. Auch das ist Politik.
Wir haben die Herausforderung angenommen, die Welt nach einem menschlichen Maß neu zu entwerfen, für alle Menschen. Wir müssen zur Entwicklung neuer Tagesordnungen beitragen. Und wir dürfen nicht erlauben, dass Kriegshetzer und Terroristen, Marktoperateure und Eigentümer von Konzernen mit ihrem Fundamentalismus die Prioritäten für die Menschheit setzen.
Wir müssen Alternativen vorschlagen. Die Lösungen, zu denen wir kommen werden, werden zwangsläufig provisorisch, vorläufig und lokal sein. Aber wir müssen etwas wagen und erfolgreich sein, Lösungen zu finden, die praktikabel sind in der konkreten Situation. Wir brauchen eine Agenda, die hier und jetzt die Welt und die Menschheit umfasst, mit größtem Respekt, aber ohne Angst vor Risiken oder der Absicht, jemandem irgendetwas aufzuzwingen.
Eine kollektive Konstruktion ohne Modelle oder universelle Lösungen verlangt einen radikalen Respekt vor dem Unvollständigen, der Verschiedenheit, dem Pluralen, also eine dauerhafte Suche.