Zettel-Wirtschaft

Ich habe noch einen Zettel in der Tasche. Darauf steht eine Adresse. In der Uruguay-Straße 155 im 9. Stock könne ich Näheres über den Bürgerhaushalt erfahren, wurde mir im Rathaus gesagt. Gesine Lötzsch, die Hälfte der PDS im Bundestag, wie sie selber gerne sagt, und Evelyn Wittich, die Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und natürlich eine Dolmetscherin kommen mit. Nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt und Besucherkarten empfangen haben, werden wir, der unangemeldete, neugierige Besuch aus Deutschland, tatsächlich empfangen. Fast eine Stunde lang nehmen sich die beiden seitens der Stadtverwaltung für den Bürgerhaushalt zuständigen jüngeren Männer die Zeit, uns alles zu erklären. Sie stellen uns den „Cycle du Budget participatif“, die Uhr des Bürgerhaushaltes vor. Das Ganze beginnt im Januar mit ersten Diskussionen über die Grundzüge des Haushaltes und den Ressourcen für die einzelnen Stadtbezirke und Themen. Im März, April und Mai finden erst vorbereitende kleinere Treffen statt, dann die großen regionalen und thematische Versammlungen. Von Mai bis Juli werden die Probleme diskutiert. Zugleich werden die Vertreter für den Rat des Bürgerhaushaltes gewählt. Dieser sammelt die verschiedenen Forderungen mit ihren Prioritäten und ordnet sie. Aus dem Ergebnis macht die Stadtverwaltung im Juli, August und September einen Haushaltsentwurf, dessen Details in enger Abstimmung mit dem Rat des Bürgerhaushaltes beraten werden, bis dann im Dezember der Haushalt vom Parlament verabschiedet wird. Im November und Dezember wird darüber hinaus diskutiert, wie sich das ganze Verfahren bewährt hat und was möglicherweise verändert werden sollte. Und selbstverständlich – selbstverständlich? – wird den Bürgern Rechenschaft darüber gegeben, was aus ihren Vorschlägen geworden ist und wie der Haushalt umgesetzt wurde. Geduldig beantworten die beiden Angestellten alle unsere Fragen. Wie viele Bürger nehmen denn überhaupt an diesem aufwendigen Verfahren teil? Leider nur wenige, so zwischen dreißig- und fünfzigtausend. Worüber entscheiden die Bürger genau? Vor allem über die geplanten Investitionen und die neuen öffentlichen Dienstleistungen. Gibt es nicht Konflikte mit den Stadtverordneten? Ja, manche Politiker können sich mit ihrer veränderten Rolle nicht abfinden und versuchen immer mal wieder zu klagen. Sie würden gerne weiter selbst damit werben, wie sie sich für die Belange der Bürger einsetzen. Die meisten Politiker unterstützen jedoch die Sache. Wie geht es denn mit dem Bürgerhaushalt weiter, nachdem die Regierung, die ihn eingeführt hatte, abgewählt wurde? Das Verfahren hat sich so bewährt, dass es ganz normal weiter gehen wird. Die neue Stadtregierung hat fest versichert, dass sie wie bisher die nötigen Ressourcen bereitstellen wird. Sie ist inzwischen sogar selbst daran interessiert, das Verfahren weiter zu entwickeln. Natürlich wollen wir noch alle möglichen Materialien mitnehmen. Vielmals entschuldigen sich die beiden Männer, dass die englischsprachigen Erklärungen und Werbebroschüren nicht mehr vorrätig sind. Das Interesse war wohl zu groß. Immerhin kommen inzwischen Linke und Konservative, Politiker und Verwaltungen aus aller Welt nach Porto Alegre, um mit eigenen Augen zu sehen, was an dieser verrückten Sache dran ist. Eine neue Stufe der Demokratie, der Bürgerhaushalt hat Porto Alegre weltbekannt gemacht. Porto Alegre gehört heute - nicht nur wegen des Bürgerhaushaltes, aber auch deswegen - zu den bestverwalteten Großstädten der Welt, wofür es mehrfach national und international ausgezeichnet wurde. Nicht zufällig wurden die ersten Organtransplantationen Brasiliens in den öffentlichen Krankenhäusern Porto Alegros und nicht in den noblen Privatkliniken Rio de Janeiros durchgeführt. Wir wollen eigentlich auch keine Werbebroschüren, sondern die Materialien des Orçamento paricipativo, des Bürgerhaushaltes, selbst. Dieser Wunsch wird nach einiger Verwunderung gern erfüllt. So fahren wir alle mit dicken, schweren Stapeln Papier nach Hause. Im Gepäck haben wir mehrere Exemplare des Plans der Investitionen und der Rechenschaftslegung der Stadtverwaltungen, so wie diese Materialien an jeden Haushalt gehen. Mit im Gepäck auch zwei ganz kleine Zettel. Mit dem einen Zettel kann jeder Interessierte den Block mit jeweils zwei Vertretern und Stellvertretern wählen, die seine Region im Rat des Bürgerhaushaltes vertreten sollen. Auf dem anderen Zettel kann er festlegen, welche Prioritäten er für den Haushalt setzen möchte. Nach dieser kleinen Lehrstunde in partizipativer Demokratie verabschieden wir uns von Porto Alegre. Auf dem Flughafen von São Paulo lassen wir uns von den zusammengekratzten Reais noch einen letzten, besonders exquisiten Caipirinha mischen. Zwei Limonen werden geviertelt, der innere Streifen wird herausgeschnitten. Dazu gibt man zwei Löffel Zucker und zerquetscht das Ganze. Zusammen mit reichlich Eis wird das Ganze gut durchgerührt oder besser noch geschüttelt. Anschließend füllt man das Glas mit Cachaça, einem Zuckerrohrschnaps auf – und lässt es sich schmecken. Auf dem über elfstündigem Flug nach Europa erklärt mir die neben mir sitzende nette, junge Deutsche aus Paraguay, die zum ersten Mal ins Land ihrer Vorfahren reist, um dort als Au pair zu arbeiten, und sich besonders auf den ersten Schnee ihres Lebens freut, ein anderes typisches Getränk der Region – Mate, eine Art Tee. Dazu bedarf es neben dem Tee zweier spezieller Gerätschaften, eines Behälters aus Kürbis und eines metallenen Filters mit Trinkrohr. Dann gibt man die grüne, pulvrige Matemasse leicht schräg in den Behälter und formt eine kleine Mulde. In diese gibt man drei, vier Schluck heißen Wassers. Nun kann man am Rohr den Tee saugen. Ist man mit guten Freunden beisammen, reicht man das pfeifenähnliche Gefäß im Kreis herum und gießt, je nach Bedarf, immer wieder neues Wasser nach. In Porto Alegre wie in der ganzen Gaúcho-Gegend Südamerikas sieht man Leute herumlaufen, die in der einen Hand die Mate-Pfeife halten, in der anderen eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Wie Mate schmeckt? Wenn ich zu Hause bin, werde ich die mitgebrachte Pfeife im Kreis der Familie herumgehen lassen. Fröstelnd steige ich in Deutschland aus dem Flugzeug. Erstmals seit siebzig Jahren - so die erste politische Nachricht aus Deutschland, die mich erreicht - ist die Zahl der Arbeitslosen über fünf Millionen gestiegen. Mir fällt die Broschüre in meinem Rucksack ein: „Good jobs, bad jobs, no jobs“, die den Arbeitsmarkt in Ägypten, El Salvador, Indien, Russland und Südafrika analysiert, nicht den in Deutschland. Das Weltsozialforum bleibt nahe. Ich erinnere mich an den informativen Flyer über die „Esconomia Solidária“, die solidarische Ökonomie, und lasse die Wärme des Forums in mir nachklingen. Gönnt mir ein wenig Schlaf, und dann - an die Arbeit, companheiros!