Dokumentation «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern»

Auf Spurensuche - Ausstellungseröffnung und Salongespräch

Information

Zeit

27.01.2016 - 20.02.2016

Veranstalter

Effi Böhlke,

Mit

Joanna Sobolewska-Pyz (Vorsitzende der Assoziation «Kinder des Holocaust», Polen), Rabbiner Stas Wojciechowicz (Jüdische Gemeinde Warschau), Joanna Gwiazdecka (Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Warschau), Florian Weis (geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Themenbereiche

Geschichte, Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Deutsche / Europäische Geschichte, Rassismus / Neonazismus, Kultur / Medien, Osteuropa, 8. Mai 1945

Auf der Suche nach den verlorenen Bildern oder: Von Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten

«Rechne mit niemandem. Du bist meine und nur meine Tochter.»* So sprach im Jahre 1958 die im Sterben liegende Anastazja Sobolewska zu ihrer Tochter Joanna. In all ihrer Trauer dachte diese nun, dass sie womöglich ein uneheliches Kind sei. Kurze Zeit später geriet sie mit ihrem Vater in einen Disput, während dessen er ihr vorhielt, dass sie gar nicht wisse, wieviel sie ihren Eltern zu verdanken habe. Schließlich eröffnete er ihr, dass sie weder ihrer Mutter noch ihres Vaters leibliches Kind sei. «Das war ein entsetzlicher Augenblick für uns beide. Zunächst schwiegen wir lange, dann erzählte er mir, was er über mein Schicksal wusste. So erfuhr ich also im Alter von 18 Jahren, dass ich ein jüdisches Kind war, das man aus dem Ghetto gerettet hatte. Es war ein gewaltiger Schock. Mir schien, als habe meine Welt innerhalb einer einzigen Sekunde aufgehört zu existieren. Alles, was ich von mir wusste, erwies sich als unwahr.

Joanna Sobolewska-Pyz, von ihren Freunden Inka genannt, gehört zu den etwa 5.000 polnischen Kindern jüdischer Herkunft, die während der deutschen Okkupation Polens gerettet werden konnten, weil Frauen und Männer Zivilcourage bewiesen und sich unter der Gefahr der eigenen Vernichtung ihre Menschlichkeit bewahrten. Und so gelang es ihren leiblichen Eltern, Halina und Tadeusz Grynszpan, ihrer Tochter das Leben zu ermöglichen, bevor sie selbst dem Tod in der deutschen Vernichtungsmaschinerie entgegengingen: Vermutlich setzten sie ihr Kind in einem der Warschauer Abwasserkanäle aus, wo ein sog. Blauer Polizist sie fand (die Hilfspolizisten, die im Warschauer Ghetto Dienst taten, trugen blaue Uniformen), der sie zu Wanda Nicz brachte, einer Lehrerin ihrer leiblichen Mutter. «Ich war in einem elenden Zustand, schmutzig und verlaust. An meiner Kleidung hing ein Zettel mit ihrer Adresse in Żoliborz. Das war am 18. April 1943. Die Lehrerin selbst konnte das Kind nicht bei sich behalten, fand aber neue Eltern für sie – eben jene Anastazja Sobolewska und ihren Mann Walerian.

Heute ist Joanna Sobolewska-Pyz Vorsitzende des Vereins «Die Kinder des Holocaust» in Polen. Gemeinsam mit weiteren Mitgliedern des Vereins hat sie eine Ausstellung erarbeitet, in der 15 nunmehr betagte polnische BürgerInnen jüdischer Herkunft über ihr Schicksal Auskunft geben. Es ist eine Hommage an ihre Eltern, und zwar sowohl an ihre jüdischen, die sie nicht kennenlernen konnten und von denen ihnen oftmals nicht einmal ein Bild zur Verfügung steht, als auch an ihre polnischen Eltern, die sie mit viel Liebe großzogen und die ihnen zumeist lange Zeit ihre jüdische Herkunft verschwiegen, wenn sie diese überhaupt aufdeckten. Die Gründe dafür sind divers.

Diese Ausstellung wurde am Holocaust-Gedenktag, am 27.1.2016, durch den geschäftsführenden Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dr. Florian Weis, eröffnet. Im Anschluss an ihn sprachen Joanna Sobolewska-Pyz und Rabbiner Stas Wojciechowicz, Jüdische Gemeinde Warschau, sowie Dr. Joanna Gwiazdecka, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Warschau. Nach der Vernissage fand im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein durch Dr. Detlef Nakath, Historiker und Mitglied des Stiftungsvorstandes, moderiertes Gespräch mit Joanna Sobolewska-Pyz und Joanna Gwiazdecka statt. Die Idee zu der Ausstellung, so Joanna Sobolewska-Pyz, sei ihr gekommen, als ihr beim Aufräumen die Fotografie ihrer polnischen Mutter Anastazja in die Hände fiel. Und von Joanna Gwiazdecka sei die Anregung gekommen, doch auch die jüdischen Eltern darzustellen.

Und so fehlt denn an mancher Stelle ein Bild.

Effi Böhlke

Auf Spurensuche

Details

Eröffnungsgespräch zur Ausstellung «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern»

Veranstaltungsankündigung

Während der deutschen Okkupation Polens im II. Weltkrieg konnten ungefähr 5.000 jüdische Kinder gerettet werden. Viele Jahrzehnte später erzählen 15 von ihnen die ergreifende, gleichermaßen erschütternde Geschichte ihres Lebens – in Form einer künstlerisch sensibel umgesetzten Ausstellung: «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern». Alle sind Mitglieder des Verbandes der Kinder des Holocausts, einer weltweiten Organisation, in der diejenigen sich zusammenfanden, die als Kinder und Kleinkinder gerettet wurden vor dem Ungeheuerlichen, das sich ringsum abspielte.

Fast alle unter ihnen waren bereits erwachsene Menschen, als sie erfuhren, wer sie wirklich sind. Die Spurensuche nach dem eigenen verlorenen Leben brachte meistens die Gewissheit – sie waren die einzigen in ihren Familien, die der Hölle auf Erden lebend entkamen. Und immer war die Rettung zuerst den jüdischen Eltern zu verdanken gewesen, ein Verzweiflungsakt ungeahnten Ausmaßes.

Vertraut waren den Kindern des Holocausts nur die polnischen Eltern oder Mütter. Sie hatten in den Zeiten, als Bestialität straflos war, den Mut aufgebracht, sich der jüdischen Kinder anzunehmen. Alle wussten, woher die Kinder kamen. Was auf den Ausstellungstafeln zu lesen steht, ist aber auch eine kleine Geschichte Nachkriegspolens, eingebunden in fast alles, was seither in diesem Teil Europas stattgefunden hat.

Die Ausstellung wurde im Frühjahr 2015 in Warschau im Museum zur Geschichte der polnischen Juden gezeigt. Weit über 10.000 Besucher wurden gezählt, Menschen aller Altersgruppen und aus vieler Herren Länder. Im Sommer 2015 zeigte das Österreichische Kulturzentrum in Warschau diese Ausstellung mit großem Zuspruch – jetzt kommt sie nach Berlin. Sie wird am 27. Januar 2016 eröffnet werden in Anwesenheit von Joanna Sobolewska-Pyz, der Vorsitzenden der Assoziation «Kinder des Holocaust», Polen, und Rabbiner Stas Wojciechowicz, Jüdische Gemeinde Warschau.

Vernissage-Programm am 27. Januar 2016
18 Uhr, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Foyer: 
Vernissage der Ausstellung «Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern» durch Dr. Florian Weis, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Unter Anwesenheit von Joanna Sobolewska-Pyz, Vorsitzende der Assoziation «Kinder des Holocaust», Polen, und Rabbiner Stas Wojciechowicz, Jüdische Gemeinde Warschau

19 Uhr, Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 1. Etage:
Salongespräch «Auf Spurensuche» mit Joanna Sobolewska-Pyz und Dr. Joanna Gwiazdecka, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Warschau, Moderation: Dr. Detlef Nakath, Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

* Joanna Sobolewska-Pyz/ Inka, in: Anna Kołacińka-Gałazka, Jacek Gałazka (Hrsg.): Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern. Katalog zur Ausstellung der Vereinigung «Die Kinder des Holocaust» in Polen (in polnischer, englischer und deutscher Sprache). Mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Warschau 2015, S. 35.