«Rechne mit niemandem. Du bist meine und nur meine Tochter.»* So sprach im Jahre 1958 die im Sterben liegende Anastazja Sobolewska zu ihrer Tochter Joanna. In all ihrer Trauer dachte diese nun, dass sie womöglich ein uneheliches Kind sei. Kurze Zeit später geriet sie mit ihrem Vater in einen Disput, während dessen er ihr vorhielt, dass sie gar nicht wisse, wieviel sie ihren Eltern zu verdanken habe. Schließlich eröffnete er ihr, dass sie weder ihrer Mutter noch ihres Vaters leibliches Kind sei. «Das war ein entsetzlicher Augenblick für uns beide. Zunächst schwiegen wir lange, dann erzählte er mir, was er über mein Schicksal wusste. So erfuhr ich also im Alter von 18 Jahren, dass ich ein jüdisches Kind war, das man aus dem Ghetto gerettet hatte. Es war ein gewaltiger Schock. Mir schien, als habe meine Welt innerhalb einer einzigen Sekunde aufgehört zu existieren. Alles, was ich von mir wusste, erwies sich als unwahr.
Joanna Sobolewska-Pyz, von ihren Freunden Inka genannt, gehört zu den etwa 5.000 polnischen Kindern jüdischer Herkunft, die während der deutschen Okkupation Polens gerettet werden konnten, weil Frauen und Männer Zivilcourage bewiesen und sich unter der Gefahr der eigenen Vernichtung ihre Menschlichkeit bewahrten. Und so gelang es ihren leiblichen Eltern, Halina und Tadeusz Grynszpan, ihrer Tochter das Leben zu ermöglichen, bevor sie selbst dem Tod in der deutschen Vernichtungsmaschinerie entgegengingen: Vermutlich setzten sie ihr Kind in einem der Warschauer Abwasserkanäle aus, wo ein sog. Blauer Polizist sie fand (die Hilfspolizisten, die im Warschauer Ghetto Dienst taten, trugen blaue Uniformen), der sie zu Wanda Nicz brachte, einer Lehrerin ihrer leiblichen Mutter. «Ich war in einem elenden Zustand, schmutzig und verlaust. An meiner Kleidung hing ein Zettel mit ihrer Adresse in Żoliborz. Das war am 18. April 1943. Die Lehrerin selbst konnte das Kind nicht bei sich behalten, fand aber neue Eltern für sie – eben jene Anastazja Sobolewska und ihren Mann Walerian.
Heute ist Joanna Sobolewska-Pyz Vorsitzende des Vereins «Die Kinder des Holocaust» in Polen. Gemeinsam mit weiteren Mitgliedern des Vereins hat sie eine Ausstellung erarbeitet, in der 15 nunmehr betagte polnische BürgerInnen jüdischer Herkunft über ihr Schicksal Auskunft geben. Es ist eine Hommage an ihre Eltern, und zwar sowohl an ihre jüdischen, die sie nicht kennenlernen konnten und von denen ihnen oftmals nicht einmal ein Bild zur Verfügung steht, als auch an ihre polnischen Eltern, die sie mit viel Liebe großzogen und die ihnen zumeist lange Zeit ihre jüdische Herkunft verschwiegen, wenn sie diese überhaupt aufdeckten. Die Gründe dafür sind divers.
Diese Ausstellung wurde am Holocaust-Gedenktag, am 27.1.2016, durch den geschäftsführenden Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dr. Florian Weis, eröffnet. Im Anschluss an ihn sprachen Joanna Sobolewska-Pyz und Rabbiner Stas Wojciechowicz, Jüdische Gemeinde Warschau, sowie Dr. Joanna Gwiazdecka, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Warschau. Nach der Vernissage fand im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein durch Dr. Detlef Nakath, Historiker und Mitglied des Stiftungsvorstandes, moderiertes Gespräch mit Joanna Sobolewska-Pyz und Joanna Gwiazdecka statt. Die Idee zu der Ausstellung, so Joanna Sobolewska-Pyz, sei ihr gekommen, als ihr beim Aufräumen die Fotografie ihrer polnischen Mutter Anastazja in die Hände fiel. Und von Joanna Gwiazdecka sei die Anregung gekommen, doch auch die jüdischen Eltern darzustellen.
Und so fehlt denn an mancher Stelle ein Bild.
Effi Böhlke
Auf Spurensuche
* Joanna Sobolewska-Pyz/ Inka, in: Anna Kołacińka-Gałazka, Jacek Gałazka (Hrsg.): Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern. Katalog zur Ausstellung der Vereinigung «Die Kinder des Holocaust» in Polen (in polnischer, englischer und deutscher Sprache). Mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Warschau 2015, S. 35.