Die Verträge sind gemacht ...

Der September 1990 steht im Zeichen der bevorstehenden deutschen Einheit. Am 20. September verabschiedet die Volkskammer gegen 90 Stimmen von PDS und Bündnis 90 den Einigungsvertrag. Die PDS hatte dabei gleich zwei Herausforderungenn zu bewältigen, um zu überleben: Die Erneuerung der Partei und die Schaffung eines bundesweiten Wahlbündnisses. (zur Chronik)

Mit dem Einigungsvertrag vom 20.09.1990 wird die Vereinigung zum Beitritt. Schon am 12. September war der 2+4-Vertrag unterzeichnet worden, womit die äußeren Voraussetzungen für die neue deutsche Einheit geklärt waren. An den Wortlaut des Vertrages sei auch erinnert, weil er die Unsinnigkeit massenwirksam gewordener Verschwörungsideologien deutlich macht.

Obwohl schon seit der Einführung der D-Mark weitgehend bundesdeutsches Recht gilt, wird der Unterschied von Vereinigung und Beitritt mehr und mehr bewusst. Von massenhafter Ernüchterung zu sprechen, ist vielleicht noch zu früh, aber die Eckpunkte kommender Auseinandersetzungen werden langsam sichtbar. Der BRD-deutsche Schriftsteller Günter Grass kritisiert, wie viele andere auch, die Geschwindigkeit des Prozesses und hätte eine Konföderation für einen besseren Weg des Übergangs gehalten. Die DDR-deutsche Malerin und Grafikerin Heidrun Hegewald spricht davon, dass die Einheit nicht nur einen, sondern viele Preise haben wird. Die jüngste Vergangenheit von 16 Millionen Menschen werde gerade «überwältigt».

Die Abwertung des Lebens in der DDR wird immer handgreiflicher, z.B. im Zusammenhang mit der Affäre um die plötzliche Abschaltung des Jugendsenders DT64 am 7. September und die Übernahme seiner Frequenzen durch den noch unter US-amerikanischer Hoheit stehenden RIAS. 

«Die Redakteure erfuhren von Technikern, daß 20 Uhr 12 Frequenzen abgeschaltet und dem RIAS übereignet werden, alle Frequenzen außerhalb des Raumes Berlin. ARD-Intendant Keim sprach von einem ‹befremdlichen Alleingang des RIAS› der geschäftsführende Intendant des DDR-Rundfunks, Christoph Singeinstein, verwies seinerseits auf seit Wochen stattfindende Gespräche über Kooperation mit dem RIAS. Schließlich gab RIAS-Intendant Drück zu, daß die ganze Aktion für den 15. September vorgesehen gewesen sei. Eine Indiskretion hätte schnelles Handeln erforderlich gemacht.»

Wenige Tag später wurde bekannt, dass ein westdeutscher Funktionär gefordert hatte, dass die DDR-Volleyballjuniorinnen in einem Spiel gegen die BRD-Mannschaft verlieren sollten. Nachdem Funktionäre und Spielerinnen das ignoriert hatten, wurden sie als «Stalinisten» beschimpft und es wurde mit «Konsequenzen» im zukünftigen gesamtdeutschen Verband gedroht …

An Schärfe nehmen auch die Auseinandersetzungen um den Umgang mit den Akten des früheren Geheimdienstes zu. Am 4. September wird ein Gebäude des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit von BürgerrechtsaktivistInnen besetzt. Sie fürchten, dass die Akten von westlichen Geheimdiensten unkontrolliert genutzt werden könnten und dass Betroffene keinen Zugang erhalten würden. Schon in den vorhergehenden Monaten war es immer wieder zu Konflikten zur Auflösung des MfS und zum Umgang mit den Akten gekommen. Der Vorwurf, für das MfS gearbeitet zu haben, wird zu einer oft gebrauchten politischen Waffe. In dieser Situation bekennt sich Rainer Börner, einer der führenden Erneuerer der PDS, Mitglied des Parteivorstandes und Volkskammerabgeordneter, am 20. September zu seiner Tätigkeit für das MfS als inoffizieller Mitarbeiter. Er tut dies von sich aus, ohne, dass es irgendeinen Druck gegeben hätte. Worum es ihm geht, ist das Vorantreiben der Erneuerung der PDS.

Dieser Erneuerungsprozess war schmerzhaft und kompliziert. Michael Schumann, eine der zentralen Figuren der PDS in den 1990er Jahren, skizziert 1997 das Grundsätzliche dieses Prozesses in einem Stichwort im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM) und hält fest, das Erneuerung alle Dimensionen des programmatischen und strategischen Wirkens der Linken umfasse.[1] Die Erneuerungskonferenz der PDS am 8. und 9. September 1990 ist Teil der Suche nach dem Neuen in Konzept und Handeln der Partei. In vier Arbeitsgruppen wurden die Themen Geschichtsaufarbeitung, Programm, PDS-Demokratisierung und Zukunft der Linken diskutiert. Gregor Gysi betonte, dass es nicht um eine «Renovierung der SED» gehe.

«Vielmehr sollte unser Anliegen sein, die sozialistische Idee zu befreien von allen alten Tapeten, mit denen sie verdeckt wurde, von jeglichem Mißbrauch durch spießige Despoten, aber auch von, allen Irrtümern. Wir müssen das tun, um einen Beitrag zu leisten zur Durchsetzung des Gedankens und des Weges der Menschlichkeit aus globaler Sicht der Lösung der Menschheitsfragen.»

Bezugnehmend auf die Bemerkung Lafontaines, dass die PDS, wenn sie sich als kommunistische Partei verstünde, zu bekämpfen wäre, und wenn sie sich als sozialdemokratische Partei verstünde, der SPD anschließen solle, bemerkte Gysi:

«Wir sind weder eine sozialdemokratische noch eine im bisherigen Sinne kommunistische Partei … Sondern wir sind auf dem Weg zu einer modernen sozialistischen und internationalistischen demokratischen deutschen Partei, die in Programm und Politik an sozialistischen Inhalten festhält und ihnen auf wirksame, auf neue Weise versucht, Nachdruck zu verleihen.»

Die Hoffnungen (oder besser Illusion) der Erneuerer beschreibt Andre Brie, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Vorsitzender und Wahlkampfleiter der Partei, mit den Worten:

«Der reale Sozialismus, der ein entscheidender Punkt für den Streit der Linken gebildet hat. Ist endgültig gescheitert. Damit ist der Blick frei auf modernes sozialistisches Denken, moderne linke Politik. Die zweite Voraussetzung, die heute existiert, ist. Daß ein beträchtlicher Teil dieser Linkskräfte angesichts der ungeheuren Verantwortung, die wir haben, bereit und fähig ist, die Differenzen beiseite zu lassen.»

Ein Teil dieses Veränderungsprozesses in diesem Sinne ist auch die Entscheidung, den Einzug in den Bundestag über ein Personenbündnis von Linken verschiedenster Strömungen, die Linke Liste/PDS, zu erreichen. Gleichzeitig war das unter den gegebenen Bedingungen auch die einzige Chance, die Partei dauerhaft als Machtfaktor im bundesdeutschen Parteiensystem zu verankern. Der Wahlkongress der Linke Liste/PDS am 15./16. September ist so nicht nur ein Schritt in den Bundestag, sondern lotet erstmals in dieser Breite die Chancen für eine gesamtdeutsche linke Partei aus.

Das verabschiedete Wahlprogramm betont als Ziele des Wahlbündnisses:

  • Demokratisierung und Entmilitarisierung
  • Soziale Sicherheit und radikalen ökologischen Umbau der Wirtschaft
  • Überwindung des Patriarchats
  • Gleichstellung von Minderheiten
  • Kulturellen Reichtum für alle BürgerInnen
  • Aktive Auseinandersetzung mit faschistischen und neofaschistischen Tendenzen in der Gesellschaft
  • Ein solidarisches Zusammenleben aller Völker.

«Die Linke Liste/PDS will dazu beitragen, daß sich im künftigen Deutschland eine größere linke, radikaldemokratische, ökologische und feministische Kraft herausbildet, als deren Teil wir uns verstehen und deren politischen Einfluß wir stärken wollen.»

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs)


[1] Schumann, Michael (2004). Erneuerung. Beitrag für das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (1997), in: Adolphi, Wolfram (Hrsg.): Michael Schumann - Hoffnung PDS: Reden, Aufsätze, Entwürfe 1989 - 2000, Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin: Karl Dietz Verlag, 243–250, S. 248f.