Ideologie statt Taten

Am 19. September stellte das Neue Forum offiziell den Antrag auf Zulassung als Bürgervereinigung.

Die drei Tage später erfolgende Ablehnung konnte angesichts der ohnehin angespannten Atmosphäre nur zu einer weiteren Politisierung vieler Menschen, die bisher das Geschehen eher als Zuschauer betrachteten, führen. Damit trat die Formierung der Opposition in eine nächste Phase. Es wurde offensichtlich, dass ein Konsens mit der Staatsmacht, wie sie bestand, nicht möglich war. Was immer die Intentionen des differenzierten Kreises der AntragstellerInnen und UnterstützerInnen im Einzelnen gewesen sein mögen, der Antrag bewegte sich im Rahmen der Rechtsordnung und hätte dem Dialog mit der Opposition einen ganz anderen Rahmen gegeben. In dieser Phase bedeutete Opposition auch nicht automatisch, die weitere Existenz der DDR oder auch einer sozialistischen DDR in Frage zu stellen. Das Gemeinsame der Gründungsaufrufe und Erklärungen dieser Tage ist die Absage an die dominierende Stellung der SED in Staat und Gesellschaft.

Schon am 11. September war aus dem Kreis um das Neue Forum ein «Problemkatalog» veröffentlicht worden, der die in der Öffentlichkeit ohnehin bekannten und in den täglichen Diskussionen präsenten Fragen der weiteren Entwicklung der DDR zusammenfasste. Am 12. September wurden ein Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei und ein «Aufruf zur Einmischung in eigener Sache» der Bürgerbewegung «Demokratie jetzt» veröffentlicht. Die Berliner Sektion des Schriftstellerverbandes wandte sich am 14. September unter der Überschrift «Aus Sorge um die weitere Entwicklung zum Sozialismus» an die Öffentlichkeit. Vier Tage später entstand eine Resolution bekannter KünstlerInnen zur Situation und am 26. September verabschiedeten die KünstlerInnen des Berliner Ensembles eine entsprechende Erklärung. Am gleichen Tag wurde bekanntgegeben, dass sich der «Demokratische Aufbruch» als Sammlungsbewegung gründen werde und die Fraueninitiative «lila offensive» erarbeitet einen ersten Entwurf eines «Standortpapiers», das dann in endgültiger Form am 23. November präsentiert wird. Auch in den Betrieben begann der Umbruch. Am 29.9. formulierten GewerkschafterInnen aus dem VEB Bergmann-Borsig einen Offenen Brief «Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten».

Zeigten schon der zunehmende Umfang der Montagsdemonstrationen, dass Opposition nicht mehr eine Frage eines kleinen Kreises von AktivistInnen und Intellektuellen war, so wird in diesen Erklärungen und Gründungsaktivitäten deutlich, wie tief das Ansehen von «Partei und Staat» gefallen war: Lösungen schienen nur noch ohne die SED denkbar. Die Forderung, «den Menschen eine Perspektive zu geben» war sicher richtig – aber sie wurde von einer zunehmenden Zahl von Menschen nicht mehr mit Hoffnung verbunden. Gregor Gysi beschreibt seinen Eindruck aus den Gesprächen, die er als Abgesandter der DDR-Regierung in der Prager BRD-Botschaft am 12. September geführt hatte[1], so:

«Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Gefühlsstau, wie es der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz formulierte. Von der Möglichkeit, mit dem Bus in die DDR zurückzureisen, machten nur wenige Gebrauch, in Prag wie in Warschau. Die Mehrzahl der Leute wollte nicht den Umweg über die DDR… Die meisten Menschen in den Botschaften wollten keinerlei Risiko mehr eingehen.»[2]

Weder in der Frage der Reisefreiheiten, noch in der nach der Zukunft des politischen Systems waren also tragfähige Lösungen gefunden, offensichtlich noch nicht einmal die Tragweite der ablaufenden Prozesse erkannt worden. Insofern war es die SED-Führung selbst, die der Formierung der Opposition Dynamik verlieh. Aus deren Sicht beschreibt Jens Schöne mit Blick auf die Fluchtbewegungen über Ungarn die Situation so: «In dem immer mehr Menschen den Ausweg über sozialistische Drittstaaten suchten, delegitimierten sie nicht nur die SED-Politik, sondern legitimierten damit im Umkehrschluss auch alternative Modelle und forcierten so einen gewissen Handlungszwang für die Protagonisten der Opposition…»[3]

Es gehört zu den tragischen Absurditäten des Jahres 1989, dass die Führung der SED über alle diese Entwicklungen wie auch über soziale, ökologische und Versorgungsprobleme bestens informiert war. Dies betraf auch die Gründung oppositioneller Gruppen, die durch die Staatssicherheit sorgfältig beobachtet wurde. Letztlich wurden alle Probleme aber in den Bereich der Ideologie verschoben. So sah dann auch die Reaktion auf die Öffnung der ungarischen Grenze , auf die anhaltende Ausreisewelle und die zunehmenden Proteste aus. Die Ursachen wurden ausschließlich im Ausland verortet – im Verrat der Ungarn, im Alleinvertretungsanspruch der BRD – über die inneren Ursachen wurde nicht mit Konsequenz gesprochen. Die Parteimitglieder sollten aktiver werden (so forderte es auch das MfS) – nur wofür? Die im September stattfindenden «Bestarbeiterkonferenzen», die vielleicht die Möglichkeit geboten hätten, eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, boten auch diesmal keinen Raum für die nötige grundsätzliche Kritik. Zu tief waren diejenigen, die diese Veranstaltungen vorbereiteten, in die Rituale und unausgesprochenen Gesetze des SED-Parteilebens verstrickt. Auf der Sitzung des Politbüros am 12. September wurde von verschiedenen Funktionären auf die verschiedensten brennenden Probleme verwiesen – so z.B. im Gesundheitswesen. Kurt Hager, der noch wenige Monate zuvor von «Kontinuität und Erneuerung» in recht konservativer Weise geredet hatte, sprach nun von der Notwendigkeit «qualitativ neuer Schritte» und konstatierte «Hoffnungslosigkeit» unter Schriftstellern. Günter Mittag, der den Generalsekretär vertrat, verschob die schon zu diesem Zeitpunkt überfällige Diskussion mit den Worten:

«Nach dem 40. Jahrestag der DDR müssen wir einiges analysieren, was mit der Weiterführung unserer Politik zusammenhängt.»[4]


[1] Möller, Horst/Amos, Heike/Geiger, Tim/Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) (2015). Dok. 5: Gespräch der DDR-Rechtsanwälte Vogel und Gysi mit zufluchtsuchenden DDR-Bürgern in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag, 12. September 1989, in: Die Einheit: das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, V & R Academic. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 85–89

[2] Gysi, Gregor (2017). Ein Leben ist zu wenig: die Autobiographie, Berlin: Aufbau

[3] Schöne, Jens (2011). Vorbedingungen der Revolution. Anmerkungen zur Opposition in der DDR bis zum Oktober 1989, in: Gutzeit, Martin/Heidemeyer, Helge/Tüffers, Bettina (Hrsg.): Opposition und SED in der friedlichen Revolution: Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/1990 ; [Dokumentation einer Tagung am 25. und 26. November 2008 in Berlin], Düsseldorf: Droste, 42–52, S. 48.

[4] Stephan, Gerd-Rüdiger/Küchenmeister, Daniel (Hrsg.) (1994). Dokument 30: Verlauf der Sitzung des SED-Politbüros am 12. September 1989, in: «Vorwärts immer, rückwärts nimmer!»: Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin: Dietz, 146–154. S. 148