Die Nähfabriken in der Ukraine erwiesen sich unerwarteter Weise als versteckte geheime Orte. Obwohl man sie leicht finden kann - in Telefonbüchern, im Netz, in unterschiedlichen Unternehmensregistern. Sie bleiben unzugänglich. Unter offiziell angegebenen Telefonnummern meldet sich niemand oder die Antwort lautet: «Rufen Sie nächste Woche oder im nächsten Monat nochmal an.»
Die Suche nach einer Textilfabrik, in der ich fotografieren konnte, dauerte lange.
Als ich in meiner Verzweiflung schon nahe am Aufgeben war, traf ich plötzlich, fast zufällig eine ehemalige Näherin, eigentlich eine Kleidungsdesignerin, die 15 Jahre in einer Fabrik in der Region Winnyzja im Westen des Landes gearbeitet hat. Sie half mir. Ich lernte den Direktor kennen und konnte einige Tage in der Fabrik Fotos machen.
Yevgenia Belorusets ist Autorin und Künstlerin, lebt und arbeitet in Berlin und Kiew.
Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sie im Sommer 2017 Arbeiterinnen in ukrainischen Textilbetrieben fotografiert. Die Aufnahmen entstanden in der Region Winnyzja.
Die hier porträtierten Frauen sind nicht identisch mit den Näherinnen, die für das Länderprofil Ukraine interviewt wurden.
Bei einem unserer Telefongespräche hat sie mich gefragt: «Willst du über unsere Tränen oder über unsere Freude erzählen? Ich habe viel geweint in den ersten Arbeitsjahren da, aber jetzt bin ich sogar stolz, dass ich so eine Schule aushalten konnte.»
Ihre etwas melodramatische Frage hat mich verwundert. Mir war längst klar, dass es schwer ist, nicht nur schablonenhaft mit meinen Fotos über die Arbeit der Näherinnen reden zu können. Ich musste begreifen, um urteilen zu können.
Die Fabrik, in der ich fotografierte, war einmal eine große Fabrik mit mehr als 2.000 Beschäftigten. Nach der Privatisierung, die sehr rasch in den 1990iger Jahren ablief, wurde sie von Jahr zu Jahr kleiner. Jetzt arbeiten hier nur noch 300 Menschen.
A typical Ukrainian garment factory 2017
Zur Fabrik gehören Wohnheime, die in den 1970ern gebaut wurden und wo jede Familie «temporär» oft nur ein kleines Zimmer bewohnte. Mit der Zeit wurden aus dem ehemaligen Wohnheim private Zimmer die einzeln vermietet wurden, in denen sich die Familien drängten und darauf hofften, dass der Fabrikbesitzer das Haus nicht verkaufen wird.
Der große fünfstöckige Block der Fabrik war in der damaligen Zeit nicht nur ein Arbeitsort, sondern auch ein Lebensort – eine kleine geschlossene Welt mit eigenem Kulturprogramm. Es gab einen Veranstaltungssaal, eine Bibliothek, ein Erholungszimmer und ein Arztzentrum für die Beschäftigten. Alle diese Räume sind heute leicht umgebaut und an kleine Unternehmen vermietet. Nicht weist mehr auf die frühere Bestimmung hin.
In den Produktionsräumen finden sich noch alle Schichten der Zeit. Die sowjetische Uhr, die anzeigt, ob der «Plan» realisiert wurde, Raumpläne aber auch Ikonen. An einem Ort ein Leninportrait, daneben ein Werbeposter – der vergeblicher Versuch, den Arbeitsort angenehm zu gestalten.
Wie die meisten solcher Unternehmen überlebt die Fabrik nur durch Aufträge von Zwischenhändlern, die wiederum für Auftragnehmer aus der EU arbeiten.
Ambitionen, eigene Kleidung oder Kollektionen zu entwickeln, hat man hier längst nicht mehr.
Eines Tages tauchte während ich arbeitete ein Vertreter eines ungarischen Auftragsvermittlers auf. Mit angespanntem Gesicht lief er durch die Reihen der Näherinnen. Er war unzufrieden mit der Geschwindigkeit ihrer Arbeit und drohte, weniger Geld zu zahlen. Mit meiner Anwesenheit war er auch sehr unzufrieden und fragte mehrmals den Direktor, ob das in Ordnung sei, wenn eine Frau mit einer Fotokamera hier während der Arbeit herumliefe. Niemand von den Beschäftigten, auch nicht die Näherinnen, wussten, wie seine Firma heißt. Er war sehr darum besorgt, nicht von mir fotografiert zu werden.
Der Direktor sagte ihm, er brauche sich keine Sorgen machen, ich wäre nur eine Künstlerin und keine Journalistin. Ich würde über die Arbeit erzählen, er verstehe mein Projekt auch nicht ganz, versicherte aber, dass keine überflüssige Information die Fabrik verlassen würde.
Ich kann das Gesehene und Erlebte nicht nacherzählen. Es ist zu unglaublich. Ich habe nicht investigativ gearbeitet, um die Arbeiterinnen durch meine Bilder nicht zu gefährden.
Aber ich weiß, dass meine Bilder nicht so unschuldig sind, wie der Direktor der Fabrik hoffte. Sie reden über etwas, was für mich immer noch unbegreiflich ist. Man spürt beim Betrachten die kaum erträglichen Arbeitsbedingungen. Es ist der Versuch, die Situation nicht mit Wörtern, sondern mit einer fotografischen Sprache zu berichten, die mehr zu sagen hat, als Worte es beschreiben können.
Yevgenia Belorusets, November 2017