In keinem anderen Land wird mehr Braunkohle verfeuert als in Deutschland. Teil 1 unserer Reihe »Mythos Klimaretter Deutschland«.
Von Tobias Haas und Tadzio Müller
Nationale Mythen sind eine spannende Sache. In den USA zum Beispiel grassiert seit Jahrzehnten der Mythos, das Land sei the greatest country in the world, und zwar in absolut jeder Hinsicht. In Frankreich wird gerne geflunkert, das ganze Land sei in der Resistance und der französische Kolonialismus eine ‚zivilisatorische Mission’ gewesen. Diese nationalen Mythen aber haben ungefähr den empirischen Gehalt von Grimms Märchen. Ihre Entzauberung ist eine wichtige Aufgabe linker Gesellschaftskritik – auch in Bezug auf Deutschland.
Den Mythos entlarven
Anlässlich des 23. UN-Klimagipfels in Bonn ist es Zeit, einen der wichtigsten Gründungsmythen der »Berliner Republik« zu entlarven: die Erzählung, die BRD sei nicht nur ein, sondern der Vorreiter der internationalen Klimapolitik. Das Märchen, das es zu entzaubern gilt, geht so: Es gibt ein reiches Land im Herzen Europas, dem es gelingt, Industrienation und Exportweltmeister zu sein und dabei Klimaschutz ohne Einbußen an Wirtschaftskraft und Konsum voranzutreiben. Deutschland zeigt, dass es grünes, klimafreundliches Wachstum geben kann. Als Donald Trump im Juni den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen angekündigte, wurde der Mythos umso wichtiger – und damit die vermeintliche Rolle Deutschlands als Klimaschutzvorreiter. Denn wenn internationale Kooperation ohne die USA ins Straucheln kommt, ist es umso entscheidender, dass sich die Prophezeiung des grünen Wachstums von selbst erfüllt.
In einer vierteiligen Serie entlarven wir den Mythos vom "Klima-Champion Deutschland"
- Den Mythos entlarven In keinem anderen Land wird mehr Braunkohle verfeuert als in Deutschland."
- Die Autoindustrie im Blick Wer den Wandel will, muss sich mit der Autoindustrie anlegen.
- Lebensfeindlicher Agrar-Export Im deutschen Landwirtschaftssektor zeigt sich die "imperiale Lebensweise"
- Geklauter Wohlstand an der Nadel Die Rohstoffpolitik des Exportweltmeisters schadet Klima, Menschenrechten und Entwicklung
Als Beweis für diesen Mythos wird die »Energiewende« herangezogen. Der Begriff wurde 1980 im Zuge der Umwelt- und Anti-Atom-Bewegung vom Freiburger Öko-Institut geprägt. Die stetige Verbesserung von Windkraft- und Solaranlagen sorgte in Verbindung mit dem im Jahr 1990 verabschiedeten Stromeinspeisegesetz für einen wachsenden Zubau von erneuerbaren Energien. Im Jahr 2000 wurde das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) auf die Initiative einiger Bundestagsabgeordneter um Hermann Scheer (SPD) gegen das federführende Wirtschaftsministerium durchgesetzt. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung stieg von 6,6 Prozent im Jahr 2000 auf 32,5 Prozent im Jahr 2016 an. Hinzu kommt, dass der erneuerbare Energien-Sektor hierzulande (noch) nicht von großen Energiefirmen dominiert wird, sondern tendenziell noch relativ energie-demokratisch’ daherkommt. Es befinden sich ungefähr die Hälfte aller installierten erneuerbaren Kapazitäten in der Kontrolle von kleinen Anlegern, Individuen, Stadtwerken oder Kooperativen.
Während Deutschland die vermeintliche Energiewende vor sich her trägt, bewahrt es die Interessen der fossilen Energiewirtschaft.
Die Realität hinter der »Energiewende« sieht jedoch anders aus: Die Wende zu erneuerbaren Energien ist bisher weitgehend auf den Strombereich beschränkt, und selbst dort sind fossile Energieträger dominant. In keinem anderen Land der Welt wurde mehr Braunkohle verbrannt als in Deutschland. Im vergangenen Jahr betrug ihr Anteil noch mehr als die Hälfte an der Stromerzeugung. Der Anteil der besonders klimaschädlichen Braunkohle lag bei 23,1 Prozent. Deutschland ist zudem Stromexportweltmeister: 8,6 Prozent des produzierten Stroms flossen in die Nachbarländer. Damit wird das Potential für Energiewenden dort eingeschränkt. Zugleich hat die Große Koalition anknüpfend an ihre Vorgängerregierung den Ausbau regenerativer Energieträger massiv behindert. Das System garantierter Einspeisevergütung, der zentrale Baustein der dezentralen Energiewende, wurde nach und nach ausgehöhlt. Die Neugründungen von Energiegenossenschaften ging von 167 im Jahr 2011 auf 40 im Jahr 2015 zurück. Wurden zwischen 2010 und 2012 jährlich im Umfang von über sieben Gigawatt Solarpanele installiert, sank diese Zahl auf circa ein Gigawatt im vergangenen Jahr. Kein Wunder also, dass vermutlich nicht nur die deutschen Klimaziele für 2020 verfehlt werden, sondern der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch bis dahin vermutlich noch nicht mal auf 18 Prozent gesteigert wird. Das EU-weite Ziel beträgt übrigens 20 Prozent.
Kurz: Während Deutschland die vermeintliche Energiewende vor sich her trägt, bremst es selbst das zarte Pflänzlein der Stromwende aus und bewahrt die Interessen der fossilen Energiewirtschaft und der emissionsintensiven Industrien. Ein rascher Kohleausstieg wäre zwar nur ein kleiner, aber dafür ein bedeutender Schritt in Richtung globaler Klimagerechtigkeit.
Dieser Text ist zuerst hier in "Neues Deutschland" erschienen.