Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine am 21. Juli 2019 brachten einen kategorischen Sieg der Präsidentenpartei «Diener des Volkes» (Sluha Narodu). Bei einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung (49,3 Prozent) gewann die Partei des im April 2019 direkt gewählten Präsidenten Selenskyj 43,1 Prozent der Stimmen und inklusive Direktmandaten 254 von 450 Sitzen in der Werchowna Rada. Erstmals gelingt es damit einer ukrainischen Partei, die absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen. Wolodymyr Selenskyj hat seinen Wahlerfolg bei der Präsidentschaftswahl damit eindrucksvoll wiederholt, seine Partei gewann in allen Regionen des Landes mit Ausnahme der Oblast Lviv deutlich die Mehrheit der Stimmen. Die traditionelle Spaltung des Landes bei Wahlen in einen «prorussischen Osten» und einen «proeuropäischen Westen» scheint sich seit den vergangenen Wahlen zunehmend aufzulösen.
Auf den zweiten Platz schaffte es mit großem Abstand die russlandfreundliche «Oppositionsplattform – Für das Leben» (Oposyzijna platforma – Sa zhyttja) der Oligarchen Viktor Medwedtschuk und Jurij Bojko. Sie erreichte 13 Prozent der Stimmen und 43 Sitze im Parlament. Die öffentliche Unterstützung der russischen Staatsführung für diese Partei hat nur im Osten des Landes zu ihrem Achtungserfolg beigetragen. Auf Platz drei und vier folgen Julia Tymoschenkos-Vaterlandspartei (Bat’kiwschtschyna) mit 8,2 Prozent (26 Sitze) und «Europäische Solidarität» (Jewropejs‘ka solidarnist‘) des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko mit 8,1 Prozent (25 Abgeordneten). Damit sind die beiden alten «post-Maidan»-Parteien die klaren Verlierer dieser Wahl.
Die fünfte Partei im neuen Parlament ist die ebenfalls neugegründete konservativ-liberale Partei «Stimme» (Holos) mit dem bekannten Sänger und Entertainer Swjatoslaw Wakartschuk an der Spitze, die 5,8 Prozent der Stimmen und damit 20 Sitze erringen konnte. Die Präsenz der Frauen ist im neuen Parlament von 12,5 Prozent auf 20,5 Prozent (87 Abgeordnete) gestiegen.
Eine radikale Erneuerung der politischen Elite
Das Wahlergebnis zeigt vor allem die eingetretene radikale Erneuerung der politischen Elite der Ukraine. Rund 70 Prozent der neugewählten Abgeordneten sind neue Gesichter, viele haben keinerlei Erfahrungen in Parteien oder Verwaltungsstrukturen und sind nicht mit oligarchischen Netzwerken verbunden. Das ist ein beispielloser Elitenwechsel in der Geschichte des Landes und eine schallende Ohrfeige für die etablierten Parteien, die in den letzten Jahren drastisch an Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung eingebüßt haben. Sowohl die Präsidentenpartei als auch «Holos» bestehen größtenteils aus unverbrauchten jungen Menschen, die zwar keine Erfahrung in der «großen Politik», dafür aber einen direkten Draht zu ihren Wählern haben – viele von ihnen konnten sich in ihren Wahlkreisen als Direktkandidaten durchsetzen.
Die alten, Oligarchen-gesteuerten Parteien – egal, ob mit sozial-populistischem Anstrich oder mit nationalistischer Rhetorik – verspielten das Vertrauen der ukrainischen Bürger und konnten sich nur auf ihre Kernwählerschaft verlassen. Die geopolitische Orientierung (pro-Russisch gegenüber pro-Westlich) sowie Differenzen aufgrund ethnonationaler Faktoren (zum Beispiel Herkunft und Sprache) verlieren weiter an Bedeutung für das Wahlverhalten.
Die linken Parteien
Trotz des radikalen Umbruchs wird es auch in diesem Parlament keine linken Parteien geben. Seit 2015 gilt in der Ukraine das sogenannte Dekommunisierungsgesetz, das die Verbrechen der Nationalsozialisten mit denen der Sowjetunion gleichsetzt und die Verwendung «kommunistischer» Symbolik in der Öffentlichkeit unter Strafe stellt. Aus diesem Grund wurden die «Kommunistische Partei der Ukraine» (KPU) sowie zwei weitere kommunistische Parteien praktisch verboten. Trotz der eindeutigen Stellungnahme der Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht), das Dekommunisierungsgesetz berge Gefahren für die Demokratie und könne die Meinungsfreiheit eingrenzen, hat das ukrainische Verfassungsgericht es Anfang Juli 2019 für verfassungskonform erklärt.
Da dem KPU-Leiter Petro Symonenko die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 2019 untersagt wurde, ist seine Partei zu den Parlamentswahlen gar nicht erst angetreten. Am 23. Juli 2019 ging die KPU wegen des Parteiverbots mit einem Berufungsverfahren erneut vor Gericht. Auch die ukrainischen Sozialisten, ohnehin geschwächt und zerstritten, sind nicht zu diesen Wahlen angetreten, andere kleinere Gruppen wurden zur Wahl nicht zugelassen. Nur zwei einzelne Vertreter der neuen Linken versuchten, über Direktmandate ins Parlament zu gelangen. So ist Vitalij Dudin von der NGO «Soziale Bewegung» (Sozialnyj Ruch) in Krywyj Rih angetreten – in einer Region mit starker Selbstorganisation der Bergarbeiter und starker Gewerkschaftsbewegung. Der Sozialdemokrat Bogdan Ferens von der SD-Plattform hat seine Chancen in der ukrainischen Hauptstadt getestet. Beide Kandidaten haben nicht einmal 1 Prozent der Stimmen erhalten. Mögliche Gründe dafür sind chronischer Ressourcenmangel, systematischer Antikommunismus und Linken-bashing in der Öffentlichkeit sowie schwache Organisationsstrukturen.
Die rechtsradikalen Parteien
Trotz ihrer Versuche sich gegenseitig zu stärken, haben es auch die parteiorganisierten Rechtsradikalen nicht ins Parlament geschafft. Angetreten sind sie zu den Wahlen mit einer Sammelliste von «Freiheitspartei» (WO Swoboda), «Nationalem Corps» (Nazionalnyj korpus), «Rechtem Sektor» (Prawyj sektor), «Staatlicher Initiative von Dmytro Jarosch » (Derzhawna iniziatywa Jaroscha, eine radikale Abspaltung vom Rechten Sektor), «Organisation der ukrainischen Nationalisten» (OUN) und dem «Kongress der ukrainischen Nationalisten». Dennoch hat es für alle zusammen nur mit Mühe und Not für knapp 2 Prozent der Stimmen gereicht.
Auch wenn es erfreulich ist, dass die rechtsradikalen Parteien deutlich an der 5 Prozent-Hürde gescheitert sind – ihr Interesse gilt ohnehin nicht der Partei- und Parlamentspolitik. Sie wollen ihre Präsenz auf der Straße stärken. Seit einigen Jahren kontrollieren sie die öffentlichen Räume in der Ukraine, werden zur Einschüchterung und Verfolgung politischer Gegner sowie für organisierte nationalistische Aufmärsche eingesetzt. Bisher wurden nur einige ihrer Jugendorganisationen vom Staat finanziert, jetzt können sie den Anspruch auf Parteifinanzierung erheben – das entsprechende Gesetz wurde im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union in der Ukraine 2016 verabschiedet. So können die Rechtradikalen mit rund 400.000 Euro im Jahr rechnen. Die Ultrarechten bleiben nach wie vor ein gravierendes Problem mit hohem Gefahrenpotential für die ukrainische Gesellschaft.
Selenskyj und seine «Diener des Volkes»
Präsident Selenskyj und seine Partei sind in einer komfortablen Situation: Sie genießen die landesweite Unterstützung der Wähler (es wird spekuliert, dass sie deswegen sogar die Kommunalwalen 2020 vorziehen könnten) und haben ein starkes Mandat für die notwendigen Reformen erhalten. Die «Diener des Volkes» stehen in keiner direkten Abhängigkeit von den einflussreichen ukrainischen Oligarchen, obwohl Kontakte des Staatspräsidenten zum Oligarchen Igor Kolomojskij nicht zu bestreiten sind. Eine Mehrheit der Abgeordneten der Partei vertritt die Interessen der jungen ukrainischen Mittelschicht. Nichtsdestotrotz sind die Perspektiven für das Land nicht eindeutig: dem unerfahrenen Selenskyj fehlt es an Experten, soliden Parteistrukturen und Verbündeten. Seine Partei wurde kurzfristig aus verschiedensten Personen zusammengesetzt, so sind die Risiken der internen Spaltung und Fragmentierung sehr hoch. Die nationalkonservative (Poroschenko, Tymoschenko) und prorussische Opposition (Medwedtschuk, Bojko) werden viel Druck auf die neue politische Kraft ausüben. Wichtige Reformvorhaben wie Änderungen der Verfassung brauchen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die neue Regierungspartei ist also dennoch punktuell auf Zusammenarbeit mit der Opposition angewiesen.
Die Erwartungen
Die Erwartungen an die neue Regierungspartei sind riesig. Selenskyj hat seinen Wählerinnen und Wählern drei große Versprechungen gemacht: er will die Armut bekämpfen, die grassierende Korruption bezwingen und den Krieg im Donbass beenden. Mit seinem politischen Erfolg hat Wolodymyr Selenskyj große Hoffnungen in sich und seine Partei geweckt, die kaum alle zu erfüllen sein werden. Beobachter sind skeptisch und verweisen auf den engen Spielraum für Reformen, den die desolate Wirtschaftslage des Landes und die Abhängigkeit von ausländischen Geberinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds der Politik setzen.
Der neoliberale Kurs in der Wirtschaftspolitik wird mit großer Wahrscheinlichkeit fortgesetzt. Und doch bleibt das Fenster der Möglichkeiten für eine Demokratisierung und Befriedung des Landes offen. Zur Regulierung des Donbass-Konfliktes in der Ostukraine machte Selenskyj bereits erste wichtige Schritte: Er schlug einen umfassenden Gefangenenaustausch mit Russland vor und übernahm die Initiative für weitere Verhandlungen zur Umsetzung des Minsker Abkommens.
Es bleibt zu hoffen, dass trotz der schwierigen Ausgangslage das Vertrauen in die Institutionen und die Eliten, die zuletzt katastrophale Zustimmungswerte hatten, gestärkt und die krisengeplagte ukrainische Demokratie damit gefestigt wird.