Kaum eine Figur der historischen Linken ist so vielschichtig wie Willi Münzenberg (1889-1940), betrachtet man allein die Eckdaten zu seiner herausgehobenen Rolle in den globalen Solidaritätsinitiativen der Zwischenkriegszeit. Er inspiriert und organisiert die Jugend-Internationale, die größte Antikriegsorganisation gegen den Ersten Weltkrieg. Er koordiniert internationale Hungerhilfe für Sowjetrussland. Anfang der 1920er Jahre schafft er daraus die Internationale Arbeiterhilfe (IAH). Als Filmverleiher und Produzent bringt er den modernen russischen Film nach Deutschland und Europa. Als Publizist und Betreiber des einflussreichsten linken Medienimperiums der Weimarer Republik wurde der langjährige Reichstagsabgeordnete der KPD zum ernsthaftesten Gegenspieler von Goebbels und Hugenberg. Gleichzeitig initiiert er mit der Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit das weltweit größte anti-koloniale Netzwerk der Zwischenkriegszeit.
Nach 1933 steht sein Name wie kein zweiter für eine Reihe charismatischer, antifaschistischer Aktionen. Im französischen Exil kämpft er für eine deutsche Volksfront, bevor er nach dem Stalin-Hitler-Pakt mit seinem Artikel „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ zu einem der exponiertesten Kritiker des Stalinismus wird. Zuletzt vernetzt er, erneut als Medienorganisator, jedoch unabhängig von Parteibefehlen, große Teile der deutschen und europäischen Anti-Hitler-Koalition, um den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu verhindern. Im Sommer 1940 flieht er vor der deutschen Wehrmacht aus einem südfranzösischen Internierungslager, Monate später wird seine Leiche gefunden. Keine der Thesen über seinen Tod (Selbstmord, NS- oder stalinistischer Meuchelmord) konnte bisher endgültig verifiziert werden.
Globales Denken, Vernetzen und Agieren in sozialen Bewegungen aus einer parteiübergreifenden internationalistischen Lebenswelt heraus: Zurecht wurde Willi Münzenberg auf der ersten Europäischen Willi-Münzenberg-Arbeitstagung (2012) als eine paradigmatische Figur dargestellt, die das Potential für eine Neubestimmung der Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen sozialdemokratischem Reformismus und stalinistischer Orthodoxie habe (vgl. den Tagungsbericht http://www.rosalux.de/documentation/46882/). Ein Vierteljahrhundert nach der "Archivrevolution" ist es Zeit für eine Bilanz der Historiographie aus Ost und West. Das fragmentierte "Erbe" Münzenbergs gilt es nun aus der Perspektive transnationaler, sozialer Organisationen neu zu beleuchten.
Aus diesen Gründen findet vom 17. bis 20. September 2015 in Berlin der Erste Internationale Willi-Münzenberg-Kongress statt. Er zielt auf die Darstellung und Analyse von Akteuren, Formen und Praktiken globaler Solidaritätsnetzwerke vor dem Hintergrund der sozialen, kulturellen und humanitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Imagination kultureller Internationalen wird in den Blick genommen, ihrer Medien und ästhetischen Mittel, die in der Zwischenkriegszeit ebenso um die Frage aus Brecht/Eislers Solidaritätslied kreisten: "Wessen Morgen ist der Morgen, wessen Welt ist die Welt?". Anhand mehrerer Fallbeispiele untersucht der Kongress ideengeschichtliche Verschiebungen zwischen revolutionärem Internationalismus, Antifaschismus und Antistalinismus der 1930er Jahre. Weitere Schwerpunkte bilden die Geschichte anti-kolonialer Bewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika sowie das Netzwerk um die Zeitschrift "Die Zukunft", dem letzten "Medienimperium" Münzenbergs. Von 1938-1940 stand es für ein neues, freiheitlich-sozialistisches Deutschland und für ein, auf der "Deutsch-Französischen Union" ruhendes, vereinigtes Europa. Wie so viele andere auch, fanden beide Konzepte nach 1945 vielfach kaum Beachtung. Nicht zuletzt deswegen werden einzelne Wirkungsgeschichten, Zäsuren und Kontinuitätslinien transnationaler Solidaritätsnetzwerke durch das 20. Jahrhundert weiterverfolgt: in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik, in Dritte-Welt-Solidaritätsbewegungen, aber auch in südamerikanischen Emanzipationskämpfen und dem Agieren von NGOs bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.
Während des Kongresses wird Raum für Vernetzung und Kooperation von Nachwuchswissenschaftler/innen geboten. Ein Roundtable zur Situation der Archive ist geplant. In das viertägige Programm sind vielfältige Kulturbeiträge integriert, die sowohl historische Filme aus dem Fundus der Meshrabpomfilm (die "rote Traumfabrik") mit zeitgenössischen Clips zu synchronisieren suchen, als auch den "Rote Revue Rummel" (Erwin Piscator) der 1920er Jahre mit Anleihen am Kongressthema "Globale Räume für Radikale Solidarität" anreichern.
Keynote-Speaker: David Featherstone (Glasgow), Cristina Flesher-Fominaja (Aberdeen), Holger Weiss (Turku), N.N.
Ort: Münzenberg-Saal, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
Termin: 17.-20. September 2015
Veranstalter (Stand 14. April 2015):
Åbo Akademi University, Turku, Finnland
Arbejdermuseet, Kopenhagen, Dänemark
Grundstücksgesellschaft Franz-Mehring-Platz 1 (FMP1), Berlin, Deutschland
Institut für soziale Bewegungen (ISB), Ruhr-Universität Bochum, Deutschland
Maison des Sciences de l’homme, Université de Bourgogne, Dijon, Frankreich
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, Deutschland
Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, Schweiz
Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, Deutschland
Die Mitglieder des Organisationskomitees sind Dr. habil. Bernhard H. Bayerlein (ISB), Dr. des. Uwe Sonnenberg (ZZF), Dr. Kasper Braskén (Åbo Akademi). Die Kongresssprachen sind Deutsch und Englisch. Eine Simultanübersetzung wird angeboten. Das vorläufige Programm erscheint Ende Juni hier und auf der Seite www.muenzenbergforum.de. Seit 2013 bietet dieses Internet-Portal einem lockeren Verbund aus wissenschaftlichen Projektgruppen, Einrichtungen politisch-kultureller Bildung und Medienunternehmungen eine Plattform für die weitere Aufarbeitung der Lebensleistung und des historischen Erbes Willi Münzenbergs. Mit Unterstützung der internationalen Forschergemeinschaft soll es sukzessive zu einem Online-Archiv globaler Solidaritätsbewegungen der Zwischenkriegszeit ausgebaut werden.
Dossier der Tageszeitung "Neues Deutschland" zu Münzenberg bzw. zum Kongress: dasND.de/muenzenberg