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Wie die Revolution im Irak sich selbst organisiert. Eine Reportage vom besetzten Tahrir-Platz in Bagdad.

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Autor*innen

Ansar Jasim, Schluwa Sama,

Tutuk mit dem Slogan «Hau ab» auf Arabisch, Kurdisch und Englisch
Tutuk, das dreirädrige Transportfahrzeig in Bagdad, ist zum Symbol der Revolution geworden. Hier mir dem Slogan «Hau ab» auf Arabisch, Kurdisch und Englisch. Ansar Jasim / Schluwa Sama

Selbstorganisierung auf dem Tahrir-Platz

Um auf den derzeitigen Hauptprotest-Platz zu kommen, den Befreiungsplatz (Sahit Tahrir), steigen wir am Platz der Sa´adoun-Straße aus. Dort hat die Regierung die Straße mit Mauern aus Betonblöcken gesperrt, etwas, das in Bagdad nicht unbekannt ist. Wir laufen zwischen den Straßensperren hindurch. Unbewaffnete Polizisten stehen dort. Einige Meter weiter steht der selbstorganisierte Sicherheitsdienst der Protestierenden. Hier werden Taschen nach Messern und anderen Waffen durchsucht. Es ist die erste Form der Selbstorganisation, auf die wir stoßen. Die Sicherheitsleute gehören dem «Komitee für Sicherheit» an. Es sind Frauen und Männer, die über das gesamte Gebiet der Proteste  verteilt sind, denn trotz revolutionärer Stimmung mischen sich immer wieder Unruhestifter unter die Protestierenden. Die Aktivist*innen in dem Zelt, in dem wir durchsucht werden, haben die Schicht die letzten drei Tage lang übernommen und freuen sich, dass sie die ersten  sind, die die Protestierenden und Unterstützer*innen begrüßen können.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

Schluwa Sama hat in Berlin, Marburg und London, Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert und anschließend in Sulaymaniya, Kurdistan-Irak gearbeitet. Zurzeit promoviert sie zur politischen Ökonomie des Iraks und Kurdistans am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter.

Anschließend läuft man in einen Tunnel hinein, der hier in den 70ern als Unterführung des Tahrir-Platzes gebaut wurde und den Platz eigentlich total entstellt hat. Nun aber tut sich dort eine Galerie auf. Aktivist*innen haben Künstler*innen aufgefordert, sich mit ihren Werken an der Revolution zu beteiligen. An der ca. 100 m langen Strecke entstehen täglich neue Werke. Sie tragen verschiedene Botschaften, die maßgebend für die Bewegung sind: die Rolle der Frauen in allen Bereichen, die Rolle der Tuktuk-Fahrer als Symbol für die Rolle der Unterschicht. Und überall auf den Bildern wird auf die sumerische und assyrische Geschichte des Irak als vereinendes Symbol verwiesen. Vertreten ist auch das «Türkische Restaurant», ein großes 14-stöckiges Gebäude, das besetzt wurde, und natürlich das Nasb Al-Hurriya, das Freiheitsmonument auf dem Tahrir-Platz selbst, ein Mahnmal der Geschichte der Unterdrückung der Iraker*innen während der Kolonialzeit und des Feudalismus bis zur Befreiung durch die Revolution von 1958. Der Tunnel wurde wie alle besetzen Bereiche mit Blumen dekoriert, abends werden für die Gefallenen der Revolution Kerzen angezündet. Die Selbstorganisation ist auch hier sehr deutlich und zentral: Die Protestierenden haben die Straßen organisiert: Es gibt zwei Fahrbahnen und eine Schlenderzone.

 

Besetzer des «Türkischen Restaurants» blickt auf den Tahrir-Platz
  Ansar Jasim / Schluwa Sama

Auf dem Befreiungsplatz stehen etliche Zelte von Protestierenden: keine Parteien, sondern spontane Nachbarschaftszusammenschlüsse, linke Aktivist*innengruppen, Stadtvertretungen, Gewerkschaften von Lehrer*innen, Ärzt*innen und Anwält*innen sind zentrale Orte der Selbstorganisation: Hier gibt es medizinische Utensilien, Helme, Wasser, hier wird für alle gemeinsam gekocht und diskutiert oder es werden Nachrichten über das ausschließlich lokal sendende Radio verbreitet. Teilweise gibt es Familienzelte im Park hinter dem Monument. Es gibt mehrere Ausstellungen, mal von einem Comic-Künstler, dann wieder von einer Moschee – Moscheen sind auf dem Platz allerdings kaum präsent. Vom Park kommt man zu einer Unterführung. Hier, wo die Läden seit Jahren geschlossen und vermüllt sind, haben Aktivist*innen Wasser- und Stromleitungen angebracht, alle Verschläge sind mit politischer Kunst bemalt. Dort treffen wir mehrere Leute, die nicht aus Bagdad, sondern aus anderen Gouvernements kommen und sich den Protestierenden solidarisch angeschlossen haben. Es sind aber oft Menschen, die nichts haben und vom Takatuf[1] des Platzes leben: Solidarität auf Augenhöhe – Schulter an Schulter. Das türkische Restaurant gegenüber vom Freiheits-Monument ist nach seiner Bombardierung von 2003 stillgelegt, wird uns erzählt. Es liegt neben einer der drei besetzten Brücken, der al-Jumhuriyah-Brücke, die direkt auf die Greenzone führt. Die Besetzung dieses türkischen Restaurants ist symbolhaft für die gescheiterte Politik seit 2003, für die Korruption und für die politische Klasse, die sich in der Greenzone versteckt – so das Verständnis der Protestierenden, welches Iqbal als neues «Massenverständnis» (wa´i jamahiri) beschreibt. Zunächst hatten sich dort bei den Protesten Anfang Oktober Scharfschützen verschanzt, die auf die Protestierenden schossen. Das Gebäude wurde besetzt, um zu verhindern, dass sich dort Militär oder Milizen festsetzen. Die Besetzung verkörpert die Protestbewegung: das Gebäude wurde entmüllt, es wurden Strom und Internet verlegt, von außen säumen das Gebäude politische Slogans, die Forderungen der Protestierenden und eine Aufforderung an die UN endlich einzugreifen. Auf allen Etagen gibt es Schlafplätze, für die Sicherheit der Protestierenden sorgen auf jeder Ebene teilweise auch sehr junge Protestierende, die einen auf alle Regeln hinweisen, die sie bisher ausgehandelt haben. Toiletten werden derzeit gebaut, solange hängen überall Schilder, die das öffentliche Urinieren unterbinden sollen. Es gibt Schutz- und Putzschichten, um eine permanente Präsenz im Gebäude zu garantieren. Für die Aktivist*innen geht es aber nicht nur darum. Das Gebäude ist für sie der «Wiederaufbau des Heimatlandes». Der Ort sei für die meisten Iraker*innen symbolisch geworden für die Bewegung.

Alle Aktivist*innen, zu denen wir sprechen, sind sich sicher: Das ist eine soziale und gesellschaftliche Revolution.

Immer wieder wiederholen die Aktivist*innen: «Wir haben in einer Woche geschafft, was die Regierung in den letzten 15 Jahren nicht geschafft hat». «Es ist diese Generation, die das Heimatland aufbaut», schreibt die lokale (auf dem Tahrir-Platz) erscheinende Zeitung «Tuktuk» in ihrer dritten Ausgabe. Alle Aktivist*innen, zu denen wir sprechen, sind sich sicher: Das ist eine soziale und gesellschaftliche Revolution. «Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ein*e Sanitäter*in einfach so einen Mann oder eine Frau behandelt, aber hier ist das normal. Wir brechen hier ständig mit den gesellschaftlichen Normen und erfinden sie neu“, erklären mehrere Aktivist*innen in einer Diskussion einstimmig.

Die Läden um den Tahrir-Platz herum, deren Lager mit Waren im Wert von Millionen gefüllt sind, ebenso wie die öffentlichen Generatoren, wurden von den Protestierenden abgesichert und mit Schlössern abgeschlossen: «Wenn hier einer herkäme, um zu klauen, würden ihn die Massen auffressen», meint Haider, der Teil einer Gruppe aus Hussainiya ist und mit einer Gruppe von 20 Aktivist*innen ein Zelt auf dem Tahrir-Platz organisiert. Weil ihnen der Name seiner Stadtteils nicht zusagt, hat die Gruppe sich Sharro Ken (Sargon) nach dem König des alten assyrischen Reiches um ca. 1920 v. Chr. benannt.

Einheiten zur Bekämpfung des Volkes

Gewalt tritt auf dem besetzten Gebiet unterschiedlich und ambivalent auf: durch Scharfschützen, die willkürlich auf Demonstranten schießen, Tränengas in Metallkanistern, die auf Rücken und Kopf geschossen werden. Die Herkunft der Anti-Riot Einheiten, die ironisch von den Protestierenden als Einheiten zur Bekämpfung des Volkes beschrieben werden, bleibt für viele unbekannt: «Das ist weder Militär noch Polizei. Du kannst ja hier sehen, dass auf dem Protestplatz sogar auch Polizei umherläuft, aber unbewaffnet. Wir wissen aber nicht, wer hinter der Brücke ist. Wir wissen ja nicht mal, ob das staatliche oder paramilitärische Einheiten sind, vielleicht steckt da der Iran dahinter», berichtet Maha, eine 26- jährige Zahlmedizinstudentin, die von Anfang an  durch ihr medizinisches Wissen die Protestierenden dazu befähigen wollte, weiter zu machen. Fotografieren der Aktivist*innen in den medizinischen Zelten und auch im Türkischen Restaurant ist untersagt. Viele befürchten, dass eine Welle der Verfolgung gegen sie einsetzen wird, falls die Bewegung niedergeschlagen wird, und wollen sich schützen.

Es gibt immer wieder Eindringlinge, die Aktivist*innen schnell und unbeobachtet auf dem Platz bedrohen, von ihnen Fotos machen und ihnen mitteilen, dass sie nun «gesucht» werden. Für Haider Grund genug, seit Mitte Oktober den Platz nicht mehr zu verlassen. Einige Aktivist*innen hält es auch davon ab wiederzukommen. Saba Al Mahdawi, die sich im medizinischen Team engagiert hat, und Mari Mohammad, die Geld für die Tuktuk-Fahrer gesammelt hat, sind beide seit Tagen verschwunden, nachdem sie den Tahrir-Platz verlassen haben.

Das Gefühl von Sicherheit auf dem Platz ist ambivalent: Diebstahl oder Belästigung sind für die Leute keine Themen, wohl aber plötzlicher Beschuss, deswegen wechseln die Sicherheitseinschätzungen auch ständig. Je mehr Menschen da sind, desto sicherer fühlen sich alle. Als am Dienstag, dem 12. November, eine Gruppe von Schüler*innen, die Schule schwänzend, auf dem Platz demonstriert, entspannt sich die angespannte Stimmung des Vorabends. Und dennoch: Während am Mittag ein Sarg mit Trauerzug durch die Menge getragen wird, tanzen die Menschen zehn Minuten später wieder.

 
Junge Demonstranten posieren im Tunnel zum Tahrir-Platz vor einem Graffiti mit dem das Tuktuk als fliegende Superkraft. Ansar Jasim / Schluwa Sama

«Irhal – Bro – Out!»

Schon am Eingang zu den Protesten begrüßen die Tuktuks die Protestierenden mit der arabischen Aufschrift «Irhal» und der kurdischen Aufschrift «Bro» – Hau ab! Beide Aufschriften sind an mehreren Orten auf dem Platz verteilt. Ein kurdisch-arabisches Zelt lädt die Protestierenden zudem zu kostenlosem Tee ein. Immer wieder erzählen die Protestierenden von der unglaublichen Solidarität der Yezid*innen, die ihnen sowohl Geldspenden schicken als auch persönlich Essen und Wasser auf dem Platz vorbeibringen. Auch wenn sie selbst keine direkte Präsenz auf dem Platz haben, drücken sie damit aus, dass sie für den Wandel und mit der Bewegung sind, die eine neue irakische Identität hervorbringen kann. «Das ist eine Bewegung von uns allen, deine Herkunft spielt hier keine Rolle, wir sind alle von einer politischen Klasse unterdrückt», erzählt eine Aktivistin. Explizit wurden überall Plakate aufgehängt, die «im Namen des Volkes» konfessionalistisches Vokabular verbieten. Stattdessen wird Bezug genommen auf eine verbindende anti-konfessionalistische Geschichte. Bei religiöseren Kreisen äußert sich das in Jesus-Bildern neben Bildern von Hussein und Ali, alle drei religiöse Figuren, die auch für ihre Opferbereitschaft bekannt sind. Auch auf dem besetzen Türkischen Restaurant wurde ein Kreuz angebracht. Aber die dominierende Symbolik sind Keilschrift und Figuren aus dem mesopotamischen Erbe. Dadurch schließen die Demonstranten also nicht an eine islamische oder exkludierende arabische nationale Identität an, sondern an eine Identität, die die Differenzen im Land aushält und zelebriert. Immer wieder wird uns genau aufgezählt, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen Identitäten auf dem Platz präsent sind.

Seit einigen Tagen nehmen auch die Clans und Stämme solidarisch an den Protesten teil. Ein sunnitischer Stamm aus Falludscha, den westlichen Gebieten des Irak, hat sogar ein Plakat mit der vor allem für Schiiten relevanten Figur Hussein aufgehängt: «Wir kommen nach Bagdad und unterstützen die Revolutionäre.» Für viele Demonstrant*innen ist dies eher symbolisch zu verstehen, denn in Bagdad würden sie sich sowieso nicht mehr mit den Stämmen identifizieren.

Die zermürbte Klasse wird zelebriert

«Die zermürbte Klasse» so bezeichnet der Tuktuk-Fahrer Ahmed, der ebenfalls die Vereinigung der Tuktuk-Fahrer gegründet hat, sich selbst und alle anderen Tuktuk-Fahrer. Das Tuktuk ist ein Fahrzeug auf drei Rädern. Innerhalb der Revolution ist die zermürbte Klasse der Tuktuk-Fahrer zum Symbol der Revolution selbst geworden. Sie werden künstlerisch auf den Wänden und Tunneln des Tahrir Platzes repräsentiert und gemalt. Lieder über Tuktuks werden geschrieben und gesungen. Sie fahren auf der gesamten von den Demonstranten besetzten Zone umher und werden von Menschen begrüßt. Die Revolutionszeitung, die nun jeden Tag über die Aktivitäten der Demonstranten berichtet und von Demonstrant*innen selber geschrieben wird, heißt Tuktuk.

Vor dem Beginn der Revolution waren Tuktuk-Fahrer gesellschaftlich abgewertet. Ahmed erklärt, dass es vor allem junge, minderjährige Fahrer waren, die nicht ordentlich fuhren und auch oft Unfälle verursachten. Daher ihr schlechtes Bild innerhalb der Gesellschaft. Gleichzeitig hatten sie auch keine andere Wahl, denn die Tuktuks sind Resultat von Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Armut. Ahmed selbst hat vorher als Bauarbeiter gearbeitet. Danach brauchte er einen Job. Eine Anstellung beim Staat gab es für ihn nicht. Er lieh sich also Geld und kaufte ein Tuktuk: «Ich arbeite immer um die acht Stunden, vor allem in Sadr City. Ich verdiene um die 15 Dollar täglich. Davon muss ich meine Frau und zwei Kinder ernähren. Es reicht also kaum aus. Dann habe ich noch ca. fünf US-Dollar täglich als Ausgabe für Benzin.» Gäbe es eine andere Form von Einkommen, würde Ahmed auch sofort mit dem Tuktukfahren aufhören.

Zunächst hat die Revolution seine Position als Tuktuk-Fahrer aufgewertet, sodass er heute stolz auf seine Arbeit ist. «Als die Proteste losgingen, kamen wir als Tuktuk-Fahrer und haben die Proteste unterstützt. Wir haben vor allem Verletzte transportiert. Die Leute haben angefangen uns zu respektieren und wir wurden beliebt.» Es blieb nicht nur bei einer erhöhten gesellschaftlichen Anerkennung, sondern es gab auch vermehrt solidarische Spenden. Besonders aus anderen gesellschaftlichen Schichten kam Solidarität in materieller und gesellschaftlicher Form. «Es gibt echte Solidarität: Der Arzt nimmt ein Tuktuk und der Tuktuk-Fahrer transportiert ihn. Vorher wäre das undenkbar gewesen, dass ein Arzt ein Tuktuk genommen hätte.» Aber auch die Tuktuk-Fahrer sind solidarisch: «Es gibt Menschen, die haben einfach gar kein Geld, um aus ihren Stadtteilen hierher zu kommen. Wir transportieren sie kostenlos», fährt er fort.

Woher kommt diese gesellschaftliche Solidarität auf dem Tahrir-Platz?

Es sind nicht nur gemeinsame politische Ziele, sondern auch gemeinsamer Frust über ein korruptes System, ein gemeinsames Bewusstsein, dass Ungerechtigkeit herrscht, die Erfahrung, dass ein konfessionelles politisches System nicht am Wohl des Volkes interessiert ist, und eine Arbeitslosigkeit, die sowohl Tuktuk-Fahrer als auch Ingenieure betrifft, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen.

So unterstützt auch Nabil die Proteste. Er selber erklärt, dass er eigentlich alles hat: Ein Haus, ein Auto, genügend Geld. Trotzdem geht er jeden Tag auf den Tahrir-Platz. Es sei eine nationale Pflicht. Nabil hatte 2012 für eine der Milizen in Bagdad als Fahrer gearbeitet. Für ihn waren Vorstellungen von Gerechtigkeit entscheidend, um aus seinem Job bei der Miliz wieder auszusteigen. «Ich habe gesehen, wie sie Menschen Geld abgenommen haben. Es gab einfach viel Ungerechtigkeit, die ich nicht ertragen konnte. Ich kannte viele ihrer Geheimnisse nicht. Deswegen konnte ich meine Arbeit als Fahrer bei der Miliz wieder kündigen. Sie hatten mir eigentlich ein gutes Einkommen von 600 Dollar pro Monat gegeben.»

In seinem Zelt erklärt Ahmed, dass auch viele Händler die Protestierenden unterstützen würden. Er erhält Waren und andere Spenden von ihnen. Die Händler seien es satt, dass die verschiedenen Milizen jedes Mal die Khawa, die illegalen Steuern, bei ihnen eintreiben. Ähnliche ökonomische und politische Ziele bringen verschiedene Schichten auf den Tahrir-Platz, wo unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinander treffen und man sich austauscht. Der Tuktuk-Fahrer Ahmed beschreibt in seinen politischen Zielen dieses Aufeinandertreffen als gelebte Solidarität:

«Wir wollen ein Leben: Wasser, Strom, Sicherheit und Bildung. Wir wollen nicht, dass andere unser Schicksal bestimmen. Hier auf dem Platz jetzt, obwohl ich die Leute vorher nicht kannte, fühlt es sich an, als wären es alte Freunde. Es gibt hier eine große Solidarität auf den Demonstrationen, dem Tahrir-Platz und allen Protest-Plätzen überall im Irak.»

 
Unterführung des Tahrir-Platzes: «Ich sage dir, im Sommer regnet es nicht» / Alice in Bagdad Ansar Jasim / Schluwa Sama

Im Sommer regnet es nicht

Ein junger Mann kommt an uns vorbei, verteilt Flyer, gibt uns welche, auf denen steht: «Ich gehe hinaus und nehme mein Recht und ich werde es nicht verlieren.» Wir freuen uns zunächst über den Flyer, als uns andere Menschen im Zelt darauf hinweisen, dass der junge Mann zu Muqtada as-Sadr gehört. Adil, der aus Sadr City kommt und dort wohnt, erklärt, dass as-Sadr versucht, hier auf dem Platz eine indirekte Präsenz zu zeigen. Sadr City ist bekannt für seine arme Bevölkerung. As-Sadr hat dort großen Einfluss. Teilweise ist er sehr populär, teilweise müssen Ladenbesitzer Schutzzölle, sogenannte Khawa, zahlen. Adil erklärt, dass sie nicht zulassen wollen, dass as-Sadr hier Einfluss gewinnt: «Er versucht hier Slogans unter den Demonstrant*innen zu verteilen und sich unauffällig unterzumischen. Alle wissen das, aber wir alle sind dagegen, denn seine Präsenz ist für uns gefährlich.»

Ähnlich beurteilt Ahmed, ein Tuktuk-Fahrer, die Stimmung unter den Protestierenden, wenn es um as-Sadr geht: «Ja, er wird versuchen, sich hier breit zu machen und seine Unterstützer auch. Aber wir reden nicht über die normalen Unterstützer, die ja auch arm sind. Diese Demonstrationen sind auch gegen as-Sadr gerichtet. «Alle heißt alle» und er ist einer von den Korrupten. Er hat es versucht, sich hier einzumischen, aber konnte es nicht. Es gibt jetzt ein größeres Bewusstsein für seine destruktive Rolle in den Protesten.»

Es ist nicht nur ein klares Bewusstsein für die gefährliche Rolle von as-Sadr, die wir unter anderen Demonstrant*innen erkennen. Als wir unter der Brücke am Tahrir-Platz an Lagern vorbeilaufen, in denen nun junge Demonstranten aus Nasiriya wohnen, die die Wände mit Graffitis bemalen und den Platz sauber halten, unterhalten wir uns kurz über die Graffiti.

Auf einem steht «Es kommt der Regen im Sommer». In Bagdad fällt kein Tropfen Regen im Sommer. Direkt an der Nebenwand ein Graffiti mit dem Spruch «Alice in Bagdad». Die jungen Demonstranten aus Nassiriya, einer Stadt südlich von Bagdad, lachen und erklären uns: «Ja macht am besten den Hashtag as-Sadr zu diesen beiden Graffitis – das passt am besten». Es geht hier nicht nur um ein Bewusstsein zu as-Sadrs Rolle, sondern auch um den Kampf gegen seine Selbstinszenierung als Unterstützer der Protestierenden, die hier als Lüge enttarnt wird.

 
Eine junge Demonstrantin malt ein neues Graffiti auf den Wänden des Tahrir-Platz-Tunnels. Ansar Jasim / Schluwa Sama

Ich mache Musik, um meine Revolution zu feiern

Auf dem Platz finden sich überall Zeichen gegen Belästigungen von Frauen. In Gesprächen mit Aktivistinnen betonen Frauen, dass es auf dem Platz zu keinerlei Belästigungen gekommen ist. Dies ist eine entscheidende Veränderung, erklärt Iqbal. Nachts wären sie hier nicht herumgelaufen. Das ist jetzt anders. Außerdem hätten Frauen auf früheren Protesten abgegrenzt von Männern protestiert. Heute protestieren sie gemeinsam. Was sie vereint, ist das Ziel, das politische System zu stürzen. Sie respektieren sich als Protestierende. Das bedeutet auch, dass sich Iqbal auf dem Platz nichts gefallen lässt. So erklärt sie, dass konservative Kräfte ihr untersagen wollten, Musik zu machen, da es Märtyrer gäbe. «Ich fühle mich aber mit der Musik wohl und das ist für mich wichtig, um meine Revolution zu feiern. Ich bin auf dem Platz, um mir meine Rechte zurückzuholen.» Jeden Tag besucht sie also nach ihrer eigentlichen Arbeitsschicht den Tahrir-Platz. Es ist wie eine weitere Arbeitsschicht. Ein Muss. Sie lässt sich dann auf dem Platz im Zelt der Mediziner*innen die Bandagen wechseln.

Dieses klientelistische System muss weg.

Musawa – Gleichheit heißt für Iqbal auch Sozialismus, den sie ausdrücklich zu einem ihrer Ziele erklärt: «Ja, natürlich wollen wir Sozialismus. Alle wollen das. Die Menschen reden nicht unbedingt von Sozialismus, aber jeder, den du fragst, sagt, dass er Gerechtigkeit will. Warum gibt es in diesem Land mit soviel Ölressourcen arme Menschen? Es gibt einige, die haben auf einmal ein Haus, ein Auto etc. und einige, die gearbeitet oder lange studiert haben und keinen solchen Besitz haben. Warum? Dieses klientelistische System muss weg.»

Das klientelistische System ist für sie auch im Parlament verankert, wo die verschiedenen Abgeordneten nur ihre partikularen (konfessionellen) Gruppen vertreten. Auch die Frauen im Parlament gehören zu dieser Politik. Es seien elitäre Frauen, die verschiedenste Privilegien als Parlamentarierinnen genießen, wie zum Beispiel eine lebenslange Rente. Ihre Interessen seien weit entfernt von irakischen Frauen wie ihr. Mit Feminismus habe dies nicht viel zu tun. Eine feministische Organisation findet sich auf dem Tahrir-Platz nicht. Allerdings sind Frauen überall. Sie sind sichtbar als Demonstrant*innen, Student*innen und auch in den ersten Reihen der Konfrontation mit der Regierung. Als wir an einer der blockierten Brücken vorbeilaufen, kommt uns eine Frau in voller Montur mit Helm, Anti-Tränengas-Montur, eingewickelt in eine irakische Flagge entgegen. Sie fragt ihren Kollegen, was die letzten Ereignisse sind, um seine Schicht zu übernehmen. Ihre Aufgabe? Sie versucht, die Tränengas-Kanister der Regierung abzufangen, sodass sie nicht auf den Platz gelangen. Frauen wie sie machen die anhaltende Besetzung des Platzes erst möglich.

Von der Entzauberung des Parlamentarismus

Auch wenn der Staat immer wieder Scheinzugeständnisse gemacht hat und nun auch zur Diskussion steht, ob es vorgezogene Neuwahlen gibt: In den Diskussionen auf dem Platz wird klar, vorgezogene Neuwahlen mit den gleichen korrupten Parteien würden noch mehr Frustration mit der Politik im Irak hervorrufen. Die meisten Protestierenden machen zudem deutlich: Nach mehreren hundert Toten gibt es kein Zurück mehr, wenn die Regierung und insbesondere der Premierminister nicht zurücktreten.

Politische Parteien und Slogans haben bei dieser Generation von Iraker*innen große Frustration ausgelöst und in großen Teilen zunächst eher zu einer Entpolitisierung geführt, aber nun «lernen viele der jungen Leute Politik und es entstehen hier auf dem Tahrir-Platz neue politische Kräfte. Wer diese Form von Selbstorganisation hinkriegt, kann auch ein Land führen», glaubt Iqbal. Maha, die inzwischen eine feministische Zeitung leitet, ist vor Jahren vor ihrer Familie in eine Notunterkunft geflohen. Ihre konservative Familie wollte nicht, dass sie sich scheiden lässt. Nun ist sie eine von vielen Frauen in den ersten Reihen der Selbstorganisation auf dem Tahrir-Platz und erklärt: «Nach 2003 dachten wir Schiiten, dass nun doch alles super sei, weil die wichtigsten politischen Ämter im Staat von Schiiten besetzt waren. Tatsächlich haben wir dann gesehen, dass sich für uns selbst in der Infrastruktur und der Lebenssituation in mehrheitlich schiitischen Gegenden überhaupt nichts geändert hat. Was wir wirklich brauchen, ist ein säkularer Staat».

Der scheinbarer Parteienpluralismus nach 2003 hat nicht zu mehr politischem Pluralismus, sondern nur zu einer Intensivierung des klientelistischen Systems geführt: «Vor 2003 hatten wir einen Diktator und ein Ein-Parteien-System, da wussten wir, woran wir sind. Heute aber haben wir 329 Parlamentarier, die nur die Interessen ihrer Partei durchsetzen wollen und dafür auch noch hohe Gehälter und Renten erhalten. Die Politik im Irak steht still, da jede dieser Parteien den Staat und die staatlichen Ministerien nur als Ressource zur Ausbeutung sieht», fügt Maha hinzu. Ihre Meinung wird von den meisten hier geteilt.

Nur wenn man diese Frustration mit dem parlamentarischen System nach 2003 versteht, kann man eine der inzwischen dominanten Forderungen der Protestierenden nachvollziehen: die Einführung eines Präsidialsystems. Dieser Präsident sollte eine unabhängige Person sein, die keiner der politischen Parteien angehört und somit die Rechte des Volkes schützt – und zwar vor den Parlamentsabgeordneten. Es soll ein Präsident mit sehr beschränkten Kompetenzen sein. Viele Menschen fühlten sich nach den letzten Wahlen betrogen, als das Parlament einen Ministerpräsidenten wählte, den viele ablehnten. Es ist ganz und gar nicht so, dass die Leute sich «nach dem starken Mann» sehnen. Viel mehr will man einen Mechanismus der direkten Wahlen einführen und somit tatsächlichen Einfluss auf das politische Leben im Staat haben:

«Ich bin bei den letzten Wahlen wählen gegangen. Als dann Abdelmahdi Ministerpräsident geworden ist, habe ich mich verarscht gefühlt. Den hatte ich doch nicht gewählt. Der repräsentiert mich nicht und niemanden im Volk. Direkte Wahlen hießen aber, dass das Volk im politischen System von einem der seinen repräsentiert wird», meint Ahmad von der Tuktuk-Gewerkschaft.

Für ihn lässt sich die Frage des politischen Systems nicht von sozio-ökonomischen Fragen trennen. Er erklärt weiter: «Wir sind ein reiches Land, aber unsere Industrie und Landwirtschaft wurden nach 2003 komplett von den USA und dem Iran zerstört.» Das hören wir immer wieder. Der Öl-Sektor produziert zwar 65 Prozenz des GDP, aber beschäftigt nur 1 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, einen privaten Sektor gibt es so gut wie nicht. Einige der Plakate auf dem besetzten Platz fordern den Exportstopp von Öl, da der Ressourcen-Segen des Irak auch sein Fluch sein kann. Politischer Wandel und Ökonomie werden von den Protestierenden gemeinsam gedacht.


[1] gegenseitige Hilfe, wörtlich: Schulter an Schulter.