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Die Tragödie des Krieges in Nordwestsyrien

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Syrische Weißhelme in Idlib
Tägliche Bombardierungen: Syrische Weißhelme bergen Verletzte nach einem Angriff auf das Dorf Milaja / Idlib am 17. November 2019. Syria Civil Defence – The White Helmets (Facebook)

Der Einmarsch der Türkei Anfang Oktober hat Syrien für eine kurze Zeit noch einmal in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Weltweit protestierten Menschen gegen die türkische Aggression, in den Medien wurden die (geo-) politischen Folgen dieser neuen dramatischen Entwicklung ausführlich dargestellt und analysiert.

Dies steht in einem auffallenden Kontrast zu dem Schweigen und der scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber einer anderen syrischen Tragödie, die sich seit sieben Monaten ein paar Hundert Kilometer weiter südwestlich abspielt: der systematische Vernichtungsfeldzug des syrischen Regimes und Russlands mit beinahe täglichen Artillerie- und Bombenangriffen in der Provinz Idlib im Nordwesten des Landes.

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Dorthin waren nach den zum Teil jahrelangen Belagerungen oppositioneller Gebiete (Aleppo, Ost-Ghouta und andere) systematisch alle Gegner*innen des Regimes deportiert worden. Beobachter*innen war daher schon seit langem klar, dass das Assad-Regime plante, hier den finalen Schlag gegen jede Art von Widerstand und Opposition zu führen. Seit Ende April diesen Jahres erlebt die Provinz – trotz gelegentlicher Waffenstillstände – beinahe tägliche Bombardierungen durch die russische Luftwaffe und Artilleriebeschuss der Städte und Dörfer durch die Armee des Assad-Regimes.

Insgesamt wurden mindestens 11.500 Luftangriffe durchgeführt, wobei der Einsatz von mehr als 460 Streubomben und 1.280 Fassbomben dokumentiert werden konnte – Waffen, die nach internationalem Recht illegal sind und die gegen die zivile Ziele wie Schulen und Krankenhäuser eingesetzt werden.

Nach UN-Angaben sind als Folge der Offensive in Idlib und im Norden der Provinz Hama zwischen dem 29. April und dem 29. August diesen Jahres 1089 Zivilist*innen, darunter 304 Kinder ums Leben gekommen. Die meisten von ihnen – 1031 Menschen – sind Opfer der Angriffe und Bombardierungen durch Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Neuere Berichte sprechen von mittlerweile 1300 getöteten Zivilist*innen.
Von den drei Millionen Einwohner*innen der Provinz besteht die Hälfte aus Binnenflüchtlingen, die aus anderen Regionen Syriens hierhin vertrieben wurden. Allein seit April haben nach Schätzungen der UN etwa 400.000 Menschen in Idlib Schutz gesucht. Viele von ihnen sind nun erneut gezwungen, zu fliehen. Seit Anfang August sind 70.000 Menschen von den Angriffen vertrieben worden, heißt es in einer Erklärung des örtlichen Gesundheitsdirektorats Idlib und der Hilfsorganisation Syrian American Medical Society (SAMS).

Dramatisch ist auch die Zerstörung der Infrastruktur. Die Hilfsorganisation Save the Children berichtete Anfang September, dass nur die Hälfte der Kinder in Idlib überhaupt die Möglichkeit haben, eine Schule zu besuchen. 87 Bildungseinrichtungen seien während der monatelangen Kämpfe zerstört und Hunderte beschädigt worden. Die Schulen, die offen blieben, seien ständig von Luftangriffen und Artilleriebeschuss bedroht, so die Hilfsorganisation weiter. Neben Schulen sind Krankenhäuser bevorzugte Ziele für die Angriffe der Regimetruppen und ihrer russischen Verbündeten. Seit April hat es insgesamt 67 Angriffe auf 47 Krankenhäuser und medizinische Versorgungseinrichtungen gegeben. Viele der Einrichtungen wurden dabei endgültig zerstört.

Das russische Militär hat bestritten, solche Angriffe auf zivile Ziele geflogen zu haben. Belegt werden diese Aktionen jedoch durch zwei umfassende investigative Reportagen des britischen Senders Sky News und der New York Times. Der Bericht von Sky News konzentriert sich im Wesentlichen auf die verheerende Bombardierung der Stadt Maarat an-Numan am 22. Juli. Hierbei waren bei vier aufeinanderfolgenden Angriffen auf ein Wohnviertel 44 Menschen getötet worden, darunter acht Kinder. Augenzeugenberichte und der Abgleich mit Flugdaten russischer Bomber, die kurz zuvor von einem Militärflughafen in der benachbarten Provinz Latakia gestartet waren, zeigen eindeutig, dass es die russische Luftwaffe war, die das Massaker verübte. Der Bericht zeigt auch die Taktik des «zweifachen Schlags»: Unmittelbar nach dem ersten Angriff erfolgt ein zweiter, der den herbeigerufenen Helfer*innen gilt.

Die Reportage der New York Times analysiert die Bombardierung von vier Krankenhäusern Anfang Mai dieses Jahres. Am 6. November wurde eines dieser Untergrundkrankenhäuser erneut von russischen Bomben getroffen und funktionsunfähig gemacht. Die Verantwortung der russischen Luftwaffe ist in allen Fällen durch den mitgeschnittenen Funkverkehr zwischen den Bomberpiloten und ihren Kommandostationen am Boden, durch die Sichtung der Flugdaten, die Analyse von Videos der Bombenabwürfe und den Abgleich mit Aussagen von Augenzeugen über den genauen Zeitpunkt der Angriffe eindeutig nachweisbar.    

Aus Angst vor den Bomben oder auch schlichtweg, weil sie keine andere Möglichkeit finden, kampieren viele Menschen mittlerweile im Freien – eine Situation, die mit dem heranbrechenden Winter zunehmend untragbar wird. Zudem gibt es auch hier keinen Schutz vor den Angriffen, auch Zeltlager von Geflüchteten wurden bereits bombardiert. Mitte November traf es zum Beispiel ein Lager nördlich der Stadt Saraqib.  Nur einige Tage später, am 21. November, beschoss die syrische Armee ein Flüchtlingslager mit 7.000 Menschen in der Nähe des Dorfes Qah nahe der türkischen Grenze. Bei dem Angriff mit einer mit Streubombenmunition gefüllten Boden-Boden-Rakete wurden mindestens 16 Menschen getötet, Dutzende weitere verletzt und das Lager teilweise in Brand gesetzt. Eine weitere Rakete beschädigte kurz darauf eine 30 Meter vom Lager entfernte Entbindungsstation. Dabei wurden zwei Frauen und sechs Kinder getötet sowie vier Mitarbeiter*innen verletzt, wie die Syrian American Medical Society (Sams) in einer Erklärung mitteilte. Alle Patient*innen wurden evakuiert, und die Einrichtung wurde inzwischen aufgegeben.

Begründet wird diese mörderische Artillerie- und Bombenkampagne mit der Anwesenheit dschihadistischer Gruppen in Idlib, insbesondere des vor Ort dominierenden Bündnisses  Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), das als al-Qaida nahestehend gilt und vor Ort herrscht. Faktisch sind jedoch vor allem Zivilist*innen betroffen. Aktivist*innen schätzen, dass es nur etwa 10.000 HTS-Kämpfer gibt und ein geringer Teil der Bevölkerung die Extremisten unterstützt.

Dass HTS tatsächlich kaum über eine Basis in der Bevölkerung verfügt, hat sich in den letzten Monaten immer wieder gezeigt, als es wiederholt zu Demonstrationen gegen die Organisation kam. Anfang November brach der Konflikt offen aus, nachdem HTS die Steuern auf einige Produkte des täglichen Bedarfs (Brot, Olivenöl, Elektrizität) erhöht hatte. In Kafar Takharim, einer Stadt im Nordwesten von Idlib, kam es zu einem regelrechten Aufstand, bei dem es den Einwohner*innen schließlich gelang, HTS zu vertreiben.

Am 6. November begannen HTS-Einheiten die Stadt mit Mörsern und Maschinengewehren anzugreifen, wobei mindestens drei Menschen getötet und mehrere verletzt wurden. Die Folge war eine Solidaritätsbewegung mit Kafar Takharim. In mehreren Städten in Idlib gingen die Menschen auf die Straße und forderten, dass HTS und ihr Führer al-Dschaulani die Provinz verlassen sollen.

Idlib ist zu einer Falle geworden: Im Süden, Osten und Westen stehen Truppen des Assad-Regimes und russischen Militärs, im Norden hat die Türkei einen Grenzzaun errichtet, an dem auf flüchtende Menschen geschossen wird, und im Innern kämpft die Bevölkerung gegen die Brutalität einer extremistischen Miliz. Was schmerzlich fehlt, ist internationale Aufmerksamkeit und Solidarität; eine Bewegung, die fordert, dass zumindest die täglichen Bombardierungen aufhören.