Nachricht | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus Die Konstruktion devianter Mädchen in der Sozialfürsorge des 20. Jahrhundert

Tagungsbericht zum Ravensbrücker Kolloquium (29.-30.11. 2019, Gedenkstätte Ravensbrück)

Information

Autorin

Anna Schiff,

Das Ravensbrücker Kolloquium ist ein seit 2002 bestehendes Veranstaltungsformat. Ziel sei es, so Matthias Heyl in seinen Begrüßungsworten, eine «angstfreie Atmosphäre» zu schaffen, in der thematisch ausgewiesene Expert*innen mit Nachwuchswissenschaftler*innen und Interessierten miteinander in ein produktives Gespräch auf Augenhöhe kommen können. Thema des diesjährigen Kolloquiums war «Die Konstruktion des devianten Mädchens in der Sozialfürsorge im 20. Jahrhundert».

Anna Schiff ist Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Zum Lagerkomplex des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück gehörte auch das «Jugendschutzlager» Uckermark für Mädchen und junge Frauen. Zwischen 1942 und 1945 waren etwa 1200 Mädchen und junge Frauen im Alter von 16 bis 21 Jahren inhaftiert. Viele von ihnen waren vor ihrer Inhaftierung «Zöglinge» in Einrichtungen der Jugendfürsorge und wurden von den Erziehungsheimen in das Jugendkonzentrationslager überwiesen. 1

Den Auftakt des Ravensbrücker Kolloquiums machte ein Einführungsvortrag von Christa Schikorra, Leiterin der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Schikorras Dissertation zu «asozialen» Häftlingen im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück war seinerzeit wegweisend für dieses Forschungsfeld.2 Entsprechend bezogen sich mehrere der folgenden Vorträge auf Schikorras Forschung. Neben einem thematischen Überblick formulierte Schikorra Leitfragen, die innerhalb der Diskussionen des zweitägigen Kolloquiums immer wieder aufgegriffen wurden. Hierzu gehörte die Frage nach Kontinuitätslinien der Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Vorstellungen von Geschlecht und einem ‚normalen‘, respektive ‚natürlichen‘, Verhalten der Geschlechter einerseits und Deutungen von und Umgang mit nicht-konformen und widerständigem Verhalten andererseits.

Jay Baltruschs Vortrag – «Vorgebliche Fürsorge und faktische Degradierung am Beispiel inhaftierter junger Frauen* im Jugend-Konzentrationslager Uckermark (1942- 1945)» – widmete sich der Geschichte der Sozialen Arbeit unter der Leitfrage, ob und inwiefern diese von Ideologien der Ungleichwertigkeit geprägt war und sie wiederum (mit-)prägten. Anhand von Fallbeispielen von Mädchen, die als «erzieherische Maßnahme» von Erziehungsheimen in das «Jugendschutzlager» Uckermark überstellt wurden, arbeitete Baltrusch deutlich heraus, dass die Institution «Fürsorge» (der zeitgenössische Begriff für Soziale Arbeit) nicht «klientenparteilich» agierte, sondern eine Fortführung bzw. Ausführung gewaltvoller Exklusion nicht-konformer Jugendlicher darstellte. Baltruschs kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Fachdisziplin schließt so an die Arbeiten von Esther Lehnert oder Carola Kuhlmann an.3

Oliver Gaidas Vortrag zur Zwangserziehung von (weiblichen) Jugendlichen in Berlin (1920-1950) legte den Fokus auf Arbeit und Sexualität als Kategorien sozialfürsorgerischer Deutungen und Beurteilungen weiblicher, jugendlicher Devianz. Gaida veranschaulichte – unter anderem anhand von Gutachten, verfasst zur Zeit des Nationalsozialismus von der Berliner Neurologin und Psychoanalytikerin Marie Kalau vom Hofe, Leiterin der kriminalpsychologischen Forschung und forensischen Psychiatrie am sog. Göring-Institut – die enge Verzahnung zwischen attestierter «Arbeitswilligkeit» bzw. «Arbeitsscheue» und diagnostizierter «sexueller Verwahrlosung» bzw. «Asozialität». War ein Mädchen «arbeitsscheu», dann galt sie fast automatisch auch als «sexuell verwahrlost», gleichgültig, ob dem Mädchen sexuelle Handlungen nachgewiesen werden konnten oder nicht. «Arbeitswilligkeit» sei allerdings bereits vor 1933 eine zentrale Kategorie der Exklusion gewesen und blieb es auch nach 1945, so Gaida.

Anna Schiffs Vortrag nahm zwei Fallbeispiele von adoptierten Mädchen, die zur Zeit des Nationalsozialismus und erneut in der BRD in geschlossene Heime eingewiesen wurden, zum Ausgangspunkt, um die mitunter aktive Rolle der Eltern bei der Einweisung ihrer Kinder in geschlossene Heime aufzuzeigen.

Regine Heider widmete sich in ihrem Vortrag einem Forschungsdesiderat – «Spuren lesbischer Mädchen und junger Frauen in geschlossenen Fürsorgeeinrichtungen von 1945 bis Mitte der 1970er Jahren in der BRD.» Heider legte dar, dass diese Forschungslücke unter anderem aufgrund der zeitgenössischen Tabuisierung weiblicher Homosexualität bestünde. Die Unsichtbarkeit weiblicher Homosexualität sei allerdings nicht mit ihrer Inexistenz zu verwechseln: Lesbische Mädchen und junge Frauen werden in den Quellen zwar selten explizit als solche benannt, gleichzeitig wurde in den Erziehungsheimen rigoros gegen „intensive Mädchenfreundschaften“ vorgegangen. Dies geschah, so Heider, nicht zuletzt auch deshalb, um die anderen Insassinnen der Erziehungsheime vor «schädlichen Einflüssen» zu «schützen». Die Vortragende legte dar, dass lesbisches L(i)eben innerhalb der Heime unterschiedliche Funktionen innen haben konnte: ein Rettungsanker gegen Vereinsamung, ein sexuelles Experimentierfeld sowie ein eigenständiges Beziehungskonzept.

Juliane Rölekes Vortrag «Geteert, gefedert, kahlrasiert: weibliche Devianz und informelle Justiz gegen Frauen im Nordirlandkonflikt 1971-1979» stellte einen gewinnbringenden Abschluss dieses «Ravensbrücker Kolloquiums» dar. Zum einen, weil Rölekes Beitrag zu öffentlichen Demütigungsstrafen ein wenig bekanntes und unzureichend untersuchtes Thema beleuchtete. Zum anderen, weil er als Impulsgeber für eine Diskussion über den Erkenntnisgewinn einer transnationalen Perspektive bei der Erforschung von Konstruktionsmechanismen weiblicher (jugendlicher) Devianz diente.

Zwei Filmvorführungen rundeten das Programm des Ravensbrücker Kolloquiums ab: Der 1957 erschienen DDR-Spielfilm Vergeßt mir meine Traudel nicht sowie das Fernsehspiel Bambule aus dem Jahr 1970, für das Ulrike Meinhof das Drehbuch verfasst hat. Beide Filme boten zahlreiche Anknüpfungspunkte zu den Vorträgen und vorangegangenen Diskussionen. Die geschah nicht zuletzt auch durch die kontextualisierenden Einführungen von Matthias Heyl und Kristin Witte.

Der an sich gestellte Anspruch des Formats, einen Rahmen für einen produktiven, hierarchiefreien (wissenschaftlichen) Austausch zu schaffen, wurde zweifelsfrei erfüllt. Ein zentrales Ergebnis der Beiträge und Diskussionen war die Feststellung von Kontinuitätslinien der Ausgrenzung und Stigmatisierung devianter Mädchen und junger Frauen im Kontext der Sozialfürsorge. Ein weiteres war, dass Untersuchungen zu devianten Mädchen zwar vorwiegend im Bereich der Forschung zur Geschlechtergeschichte und zur Geschichte der Sozialen Arbeit angesiedelt sind, ihre Ergebnisse aber durchaus auch für die Politikgeschichte relevant sind.

1 Limbächer, Katja; Merten, Maike; Pfefferle, Bettina (Hrsg.): Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, Münster 2000.

2 Schikorra, Christa: Kontinuitäten der Ausgrenzung. «Asoziale" Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001.

3 Lehnert, Esther: Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie `minderwertig` im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2003. Kuhlmann, Carola: Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe zwischen Zuwendung und Vernichtung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen 1933-1945, Weinheim und München 1989.