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Namibia@30: Das Erbe des Kolonialismus und der Ruf nach postkolonialer Gerechtigkeit

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Independence Museum und Genozidstatue in Windhoek
«Their blood waters our freedom» Independence Museum und Genozidstatue in Windhoek, Foto: Heike Becker

Trotz der geplanten Feierlichkeiten und Freuden anlässlich der dreißigjährigen Unabhängigkeit, sehen wir uns auch an die Missstände einer postkolonialen Gesellschaft erinnert. Das von kolonialer Ungerechtigkeit in Form von Armut, Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit geplagte Namibia erlebt seit drei Jahrzehnten einen harten Kampf, insbesondere um Wiedergutmachung (restaurative justice) kolonialer Schuld, den Angehörige der Ovaherero und Nama mit Deutschland austragen, der ersten Kolonialmacht in Namibia. Eine Gruppe von Aktivist*innen, unter ihnen traditionelle Führer*innen, Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen haben dabei den Umgang mit unserer düsteren kolonialen Vergangenheit kritisch infrage gestellt. Heute, nach dreißig Jahren namibischer Unabhängigkeit, ist es nötiger denn je, darüber nachzudenken, was all das für das Land bedeutet.

Bayron van Wyk studierte Geschichte auf Bachelor und nun Anthropologie auf Master an der University of the Western Cape (UWC) in Südafrika. Seine Forschung beschäftigt sich mit dem Erinnerungsaktivismus des Völkermordkommittees im südlichen Namibia.

Zwischen 1904 und 1908 beging Deutschland das, was als «erster Völkermord des 20. Jahrhunderts» bezeichnet wurde. Schätzungen zufolge kamen damals 80 Prozent der Ovaherero und 50 Prozent der Nama durch Hunger, Durst, Zwangsarbeit und fehlenden Schutz vor rauen klimatischen Bedingungen zu Tode. Infolge des berüchtigten Vernichtungsbefehls vom 2. Oktober 1904, den General Lothar von Trotha nach der Schlacht bei Ohamakari («Waterberg») im August 1904 erteilt hatte, wurde eine große Zahl von Ovaherero in die Omaheke-Wüste getrieben, wo viele schließlich verdursteten. Die Überlebenden wurden gefasst und gewaltsam in Konzentrationslager in Windhoek, Swakopmund sowie auf Shark Island in der Lüderitzbucht gebracht, um dort Zwangsarbeit zu leisten. Viele Gefangene fielen den unmenschlichen Bedingungen dieser Lager zum Opfer. Ganze Gemeinschaften wurden von ihrem ursprünglichen Gebiet vertrieben und teilweise in andere deutsche Kolonien wie Kamerun und Togo deportiert.

Die deutschen Kolonialtruppen nahmen auch sterbliche Überreste (oft lediglich als «Schädel» bezeichnet) für sogenannte Rassenexperimente mit nach Deutschland. Eugen Fischer, deutscher «Wissenschaftler» auf dem Gebiet der Rassenhygiene und Eugenik, führte 1908 eine Studie am «Mischvolk» der Baster durch, aus dem auch ich, der Autor dieses Artikels, stamme. Diese durch und durch von rassistischen Vorurteilen geprägten Untersuchungen lieferten den Nährboden für die später in Nazideutschland verabschiedeten Rassengesetze. In ebendiesen Kontext ist auch das genozidale Vorgehen des deutschen Kolonialreichs in Namibia einzuordnen.

Das intergenerationale Gedächtnis an den Völkermord in Form von  Performance und historischen Nachstellungen aufrechtzuerhalten, besonders im Rahmen alljährlicher Gedenkveranstaltungen, ist wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Gemeinschaften, die vom kolonialen Völkermord betroffenen sind. Diese Veranstaltungen haben eine lange Tradition und sind für Erinnerungsaktivist*innen zu wichtigen Plattformen geworden, um ihre Forderungen nach Wiedergutmachung gegenüber Deutschland geltend zu machen.

2004 bat die deutsche Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Rahmen des hundertjährigen Gedenkens an die Schlacht von Omahakari die Nachkommen der Opfer des kolonialen Völkermords um Verzeihung. Ihre Entschuldigung war die erste öffentliche Anerkennung des kolonialen Völkermords von offizieller deutscher Seite. Sie unterschied sich deutlich von der gleichgültigen und arroganten Haltung gegenüber Aktivist*innen, die der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog bei ihren ersten offiziellen Besuchen in Namibia kurz nach der Unabhängigkeit gezeigt hatten. Allerdings zog die deutsche Regierung die Entschuldigung nachträglich zurück. Es sollte danach noch über zehn Jahre dauern, bis Deutschland im Juli 2015 den Völkermord an den Ovaherero und Nama anerkannte und sich verpflichtete, eine offizielle Entschuldigung an die betroffenen Gemeinschaften auszuarbeiten. Finanzielle Entschädigungen schließt Deutschland allerdings aus und plant stattdessen, weiterhin Entwicklungsinitiativen in den vom Völkermord betroffenen Gegenden zu unterstützen. Seit Präsident Hage Geingob die deutsche Ablehnung von Reparationszahlungen in seiner Rede zur Lage der Nation 2019 anerkannt hat, scheint es, als habe die namibische Regierung diese Position akzeptiert.

Die Regierung Namibias hat sich den Forderungen der Ovaherero und Nama nach einer Aufarbeitung kolonialer Ungerechtigkeiten nur zögerlich angeschlossen. Zwar stimmte 2006 eine Mehrheit der Abgeordneten der Nationalversammlung für einen Antrag auf Reparationen, dies schlägt sich jedoch nicht in der offiziellen Regierungspolitik  nieder. Die Rückführungen von sterblichen Überresten und Kulturgegenständen in den letzten Jahren waren umstritten. Die Gemeinschaften warfen der namibischen Regierung vor, nur halbherzig auf die Belange einzugehen. Statt die Ereignisse zum Anlass zu nehmen, koloniale Ungerechtigkeit zu thematisieren, habe die Regierung stärker denn je ihr hegemoniales Narrativ vom nationalen Widerstand bedient.

Seit der Unabhängigkeit hat dieses Narrativ das Augenmerk vor allem auf die Erinnerung an den Befreiungskampf zwischen 1966 und 1989 gelenkt. Durch nationale Gedenk- und Erinnerungsakte wurde ein Bild plaziert, das die Rolle der ehemaligen nationalen Befreiungsbewegung SWAPO (South-West African People’s Organisation, nach der Unabhängigkeit in «SWAPO Party» umbenannt) innerhalb des antikolonialen Widerstands hervorhebt. Dieses nationale Narrativ stützt sich besonders auf die Erfahrungen der im Exil lebenden Elite des Freiheitskampfes, um so ein heroisches Bild der SWAPO zu zeichnen. Andere Formen des Widerstands gegen den Kolonialismus geraten dabei in den Hintergrund. Das gilt sowohl für die Rolle der Zivilbevölkerung in Nordnamibia als auch für den Kampf der Ovaherero und Nama und ihrer traditionellen Führer im Kolonialkrieg von 1904 bis 1908. Der Ausschluss der Perspektiven dieser Gruppen macht sich auch bei den aktuellen Reparationsverhandlungen bemerkbar, die seit 2015 zwischen der namibischen und der deutschen Regierung laufen. Hier hält nicht nur Deutschland strikt an einem Verhandlungsverfahren auf Regierungsebene fest, auch die namibische Regierung besteht darauf, dass die Gespräche ohne die Einbeziehung der vom Völkermord-betroffenenGemeinschaften vonstattengehen. Dies bewog die Ovaherero Traditional Authority (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) zu einer weiteren Klage in den USA, mit der sie erreichen wollen, dass sie in alle Verhandlungen über die Entschädigungen für den Völkermord einbezogen werden.

Während einer Reise nach Bremen im Jahr 2019 bekam ich im Zuge eines «Decolonizing Walk-Shops» einen guten Eindruck davon, wie insbesondere Deutschland mit seiner kolonialen Vergangenheit umgeht. Bei einem kurzen Tagesausflug zum Bremer Antikolonialdenkmal fiel mir sofort der verwahrloste Zustand des Geländes auf. Das Mahnmal war von wucherndem Unkraut umgeben. Auf einer Gedenktafel vor den Steinen aus Ohamakari, die so klein und im Gras versteckt ist, dass man sie leicht übersieht, steht: «Im Gedenken an die Opfer des Völkermords in Namibia 1904–1908 und der Schlacht am Waterberg».

Gedenktafel vor den Steinen aus Ohamakari in Bremen
Gedenktafel vor den Steinen aus Ohamakari in Bremen Foto: Bayron van Wyk

All das erinnert an die Situation in Namibia, wo das Völkermorddenkmal im Schatten des Unabhängigkeitsmuseum und der Statue des ersten Präsidenten Sam Nujoma kaum Widerhall bei vom kolonialen Völkermord betroffenen Communities findet. Viele Aktivist*innen und Angehörige der betroffenen Gemeinschaften sind darüber enttäuscht, dass beim Bau des Mahnmals außen vor gelassen wurden. Kürzlich erst wurde ohne das Wissen der meisten Aktivist*innen am Denkmal eine Gedenktafel angebracht. Als sie auf Facebook Nachforschungen zu den Verantwortlichen anstellten, fanden sie heraus, dass keinerlei Enthüllungszeremonie stattgefunden hatte. Zeremonien sind jedoch ein wichtiges Mittel, damit Vergangenheitsbilder in das kollektive Gedächtnis eingehen. Ohne sie hält (gerade, wenn es um den kolonialen Völkermord geht) die nationale Amnesie an. Hier wurde eine weitere Chance vertan, die Belange von Opfer-Gemeinschaften ernst zu nehmen.

Auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit tut sich das postkoloniale Namibia noch immer schwer beim Umgang mit seiner düsteren Vergangenheit. Die Regierung Namibias hat den Belangen der Ovaherero- und Nama-Gemeinschaften, die von Deutschland restaurative justice einfordern, bisher nur unzureichend Rechnung getragen. Die SWAPO-Regierung bedient weiterhin ein Narrativ vom nationalen Widerstand, das sich ausschließlich auf die Erfahrungen der ehemaligen Freiheitsbewegung – und heutigen Regierungspartei – während des Unabhängigkeitskampfs stützt. Mit der wachsenden Ungeduld angesichts des kolonialen Erbes, das sich in Form von hoher Arbeitslosenquote, Armut und Einkommensungleichheit zeigt, ist dieses nationale Narrativ bedroht. Die Anzeichen dafür sind bereits erkennbar; die SWAPO-Partei konnte ihre Zweidrittelmehrheit bei den Parlamentswahlen 2019 nicht verteidigen. Solange die namibische Regierung koloniale Ungerechtigkeit nicht ausreichend thematisiert, ist die Reparations-Bewegung die einzig wahre Option zur Sicherung ökonomischer Gerechtigkeit.
 

[Übersetzung von Katharina Martl und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.]