Die Corona-Krise hält auch die Ukraine fest in ihrem Griff. Seit dem 13. März gelten strenge Quarantäne-Auflagen, die Außengrenzen wurden bereits am 17. März fast vollständig geschlossen. Flugverbindungen und sogar Passagierzüge wurden eingestellt, der öffentliche Verkehr in der Hauptstadt drastisch heruntergefahren, Schulen, Kitas und weitere Bildungsinstitutionen, sowie alle Restaurants und Kleingewerbe bis auf Weiteres geschlossen.
Ivo Georgiev leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew.
Seit dem 6. April gelten noch strengere Regeln zur sozialen Distanzierung: Das Tragen eines Mundschutzes ist Pflicht, Spaziergänge in öffentlichen Parks und Grünanlagen sind nicht erlaubt, mehr als zwei Personen dürfen zusammen nicht auf die Straße, Kinder unter 14 Jahren nur in Begleitung von Erwachsenen. Und: Seit dem 28. März sind auch die Kontrollposten an der Konfliktlinie zu den Separatistenrepubliken im östlichen Donbass geschlossen. All das sollte die Verbreitung des Virus innerhalb der Bevölkerung und insbesondere in den Reihen der Armeeangehörigen verhindern.
Die Situation heute
Die Angst der Ukrainer vor Corona ist verständlich, denn das Land ist arm und seit sechs Jahren von einem ruinösen Krieg im Osten, unterstützt durch Russland, schwer erschüttert. Die notorisch unterfinanzierten öffentlichen Krankenhäuser sind auf eine Epidemie nicht vorbereitet. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums stehen etwa 3500 Beatmungsgeräte zur Verfügung, bei einer Bevölkerungszahl von 42 Millionen Menschen ist das nicht viel. Zwar sind die festgestellten Fallzahlen mit 3372 Infizierten und 98 Todesfällen (Stand 14. April) verhältnismäßig gering. Getestet wird allerdings nur wenig, denn es fehlen die Kapazitäten. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher. Befürchtungen scheinen berechtigt, dass die Corona-Pandemie die ohnehin instabile politische, wirtschaftliche und humanitäre Situation in der Ukraine noch weiter verschärfen wird.
Entwicklungen in der Politik
Der Präsident nutzt die Krise derweil geschickt für seine eigenen politischen Projekte aus. Vor einer Woche setzte Wolodymyr Selenskyi das sehr umstrittene Gesetz über die Öffnung des Bodenmarktes im Parlament durch. Dem Land drohe die Zahlungsunfähigkeit, wenn die seit langem vorbereitete Reform des Bodenmarktes vom Parlament nicht beschlossen würde. Dies war eine Vorbedingung für die Unterzeichnung eines weiteren Finanzhilfeprogramms des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.
Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung dieses Gesetz klar ablehnt, waren öffentliche Proteste dagegen nicht möglich: Es gilt Kontaktsperre im öffentlichen Raum. Die Ukraine stehe mit dem Rücken zur Wand, behauptete Selenskyi und konnte so Teile der Opposition in der Verchovna Rada von seinem Vorschlag überzeugen. Bei der Abstimmung waren die «Diener des Volkes», die eigentlich über eine absolute Mehrheit verfügen, auf die Stimmen der Poroschenko-Partei «Europäische Solidarität» und der patriotischen Partei «Golos» angewiesen. Der wirtschaftliche Kollaps wurde so vorerst abgewendet, doch die Konflikte in Selenskyis Partei liegen nun offen.
Ein Teil seiner eigenen Partei widersetzte sich ihm und votierte gegen die Parteilinie. Die Einhelligkeit in der Regierungsfraktion bröckelt, auch bei anderen Themen verschärfen sich die Konflikte dramatisch. Damit endet für Selenskyi die Zeit der bequemen absoluten Mehrheit im ukrainischen Parlament. Die Regierungspartei ist nun von situativen Mehrheiten von Abgeordneten anderer Parteien abhängig, die «Diener des Volkes» stehen offenbar vor einer Spaltung, die parteipolitische Instabilität wächst.
Von der Corona-Krise profitieren bislang eindeutig die rechtpopulistischen und national-konservativen Bewegungen. So wurden blitzschnell sogenannte Munizipale Bürgerwehren in vielen Ortschaften gegründet, die die Polizei bei der Kontrolle der sozialen Distanzierung in der Öffentlichkeit unterstützen sollten. In Kiew sieht man nun in vielen Parks und Erholungsgebieten diese Patrouillen, die «für Ordnung sorgen». In ihren Reihen finden sich auffällig viele aktive Mitglieder rechtsradikaler Gruppen wie C-14, berichten linke Aktivisten.
Folgen für die Wirtschaft
Die Bilanz der ukrainischen Wirtschaft nach drei Wochen Corona-Virus-Notstand ist alarmierend. Sechs Prozent der Unternehmen haben ihre Arbeit komplett eingestellt, zwischen zehn und 25 Prozent der Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen wurden bereits entlassen, mehr als die Hälfe aller gastronomischen Betriebe wurde geschlossen. Nicht nur der Immobilienmarkt steht still, sondern auch die Gerichte arbeiten nicht mehr, alle Gerichtsverhandlungen sind auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Dabei hat die Ukraine den Höhepunkt der Epidemie noch gar nicht erreicht.
Die internationale Hilfe der Vereinten Nationen für die Bekämpfung von Covid-19 in Höhe von bis zu 165 Millionen US-Dollar soll für die Verbesserung des ukrainischen Gesundheitssystems genutzt werden. Weitere 81 Millionen US-Dollar sollen für die Behebung von sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie fließen. Sollten breite Bevölkerungsteile erkranken, könnten auch diese Mittel nicht ausreichen.
Die Kombination aus schwachen Institutionen, starken regionalen Spannungen, Misstrauen gegenüber den Machthabenden und der gesamten politischen Landschaft sowie dem bewaffneten Konflikt im Osten stellen ein großes Risiko für die Stabilität und Integrität des Landes dar.
Die Lage im Osten
Besonders gefährdet ist der Osten des Landes. Laut dem Emergency Response Plan der UNO für die Ukraine hat der seit 2014 andauernde Krieg mit den von Russland unterstützten Separatistenrepubliken die Gesundheitsversorgung dauerhaft geschwächt und überfordert. Erschwerend kommt hinzu, dass mehr als ein Drittel (36 Prozent gegenüber 23 Prozent im Landesdurchschnitt) der Menschen in den östlichen Regionen Donezk und Luhansk im Rentenalter ist, die bekanntermaßen zu den Hauptrisikogruppen der Epidemie gehören. Viele ältere Menschen leben in entlegenen Dörfern und sind von medizinischen Dienstleistungen abgeschnitten. Zahlreiche Menschen aus den selbsterklärten «Volksrepubliken» können seit Ende März nicht mehr in die von Kiew kontrollierten Gebiete einreisen, um ihre Rentenzahlungen abzuholen oder Verwandte zu besuchen. Die Pandemie wird damit auch jenseits der Gesundheit endgültig zur existenziellen Bedrohung.
Im Jahr 2019 reisten monatlich 1,2 Millionen Menschen durch die Checkpoints in beide Richtungen ein und aus, nun sind alle Kontrollposten geschlossen, auch die OSZE-Beobachter dürfen nicht mehr unbeschränkt in die abtrünnigen Gebiete fahren und den Waffenstillstand beobachten.
Darüber hinaus scheint der Corona-Notstand den Positionskrieg an der sogenannten Kontaktlinie in Donbass nicht wesentlich zu beeinflussen. Fast jeden Tag berichten Medien über Artilleriebeschüsse und andere Verletzungen des Waffenstillstandabkommens, 22 verletzte Zivilisten und drei Todesopfer zählte die OSZE-Mission allein seit Anfang April 2020. So spitzt sich die Versorgungslage in dieser kriegsgeplagten Region weiter zu.
Glaubwürdige Informationen über die Situation in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten sind schwer zu bekommen. Ukrainische Medien beschreiben die Lage mit Blick auf Covid-19-Erkrankungen in den «Volksrepubliken» als unübersichtlich. Zwar gebe es keine offizielle Quarantäne, Sportstudios und Kinos seien jedoch geschlossen. In den Apotheken gebe es Engpässe, Arzneimittel für starke Grippefälle seien nicht mehr verfügbar. Man warte auf Hilfskonvois und Militärvirologen aus Russland, berichtet Novoe vremja. Eine zweiwöchige Selbstisolation sei für alle Rückkehrer vorgeschrieben, nur wenige registrierte Infektionen wurden offiziell mitgeteilt. Maßnahmen zur sozialen Distanzierung wurden nicht erlassen.
Pavel Lisyansky, Menschrechtsbeauftragter der ukrainischen Regierung für den Donbass, vermutet, dass die Fallzahlen deutlich höher liegen, die Behörden fürchten jedoch einen Massenausbruch der Epidemie und einen möglichen Ansturm auf die Kliniken beziehungsweise auf die Grenze zur benachbarten russischen Region Rostow, wo die medizinische Versorgung besser sei. Deswegen versucht man die reale Situation zu vertuschen und Panik zu vermeiden. Seine Organisation East Human Rights Group, die seit fünf Jahren von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt wird, ist eine der wenigen, die regelmäßig die soziale und humanitäre Lage in den Separatistenrepubliken dokumentiert. Die Organisation berichtet, dass in den Krankenhäusern überdurchschnittlich viele Patienten mit schwerer Lungenentzündung hospitalisiert würden.
Die Krankhäuser in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Donbass-Gebieten sind vergleichsweise besser ausgestattet und werden von internationalen Hilfsorganisationen gut unterstützt.
Nach sechs Jahren Krieg in dieser Region haben die Menschen gelernt, in extremen Situationen zu überleben, meint Lisyansky und man möchte seinen Optimismus teilen.