Seit den 1990er Jahren etablierte sich in der Ukraine ein nationalistischer Heldenkanon, der auf der Heroisierung der ukrainischen, nationalistischen Partisan*innen während des Zweiten Weltkrieges basiert. Diese alternative Lesart des Zweiten Weltkrieges stieß bei den Bewohner*innen der Westukraine und in Teilen der Zentralukraine auf breite Zustimmung und stellte den sowjetischen Mythos des «Großen Vaterländischen Krieges» infrage. Dabei weisen beide Narrative eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Sie unterstreichen den heroischen Kampf unter Vernachlässigung der Kriegsopfer und beanspruchen absolute Deutungshoheit in der Interpretation des Krieges. Im Laufe der Jahrzehnte schwand folglich die Erinnerung an die ukrainischen Opfer des Holocausts und des Porajmos, den Genozid an der Volksgruppe der Rom*nija. Der vorliegende Text untersucht, wie die nationalsozialistischen Besatzer*innen bei der Organisation ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgegangen sind.
Petro Dolhanow ist Historiker und Mitbegründer der NGO Mnemonics.
Beginn des Zweiten Weltkrieges
Das Gebiet der heutigen Ukraine fand bereits 1938 in Hitlers Expansionsplänen Erwähnung. Als Resultat des Münchner Abkommens und der Zerschlagung der Tschechoslowakei wurde auf dem Territorium der heutigen Oblast Transkarpatien die autonome Karpatenukraine ausgerufen, die wenig später vom verbündeten Ungarn besetzt wurde. Mit dem Angriffskrieg Deutschlands gegen Polen am 1. September 1939 begann auch für die Bevölkerung der Ukraine der Zweite Weltkrieg: Seit der Zwischenkriegszeit gehörte die Westukraine zur Zweiten Polnischen Republik, sodass die Bevölkerung der Westukraine den Kriegsbeginn in den Reihen der polnischen Armee erlebte. Kurz danach, am 17. September 1939, marschierte die sowjetische Armee – wie vom geheimen Zusatzprotokoll zum Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt vorgesehen – in die Westukraine ein. Das neue Regime verkündete die «Wiedervereinigung» der westukrainischen Territorien mit der UdSSR. 1940 stellte Stalin dem benachbarten Rumänien ein Ultimatum und gliederte die Nordbukowina, die in der Zwischenkriegszeit zu Rumänien gehörte, in die ukrainische Sowjetrepublik ein. Diese bis zum Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges in die Sowjetukraine eingegliederten Gebiete waren multiethnisch, jedoch stellten Ukrainer*innen die Bevölkerungsmehrheit dar. Daneben gab es große russische, polnische und jüdische Bevölkerungsanteile, zudem lebten in den Gebieten auch Rom*nija sowie deutsche, tschechische, belorussische, griechische, bulgarische, rumänische, krimtatarische und weitere Minderheiten. Nach Schätzungen von Historiker*innen starben während der nationalsozialistischen Besatzung rund die Hälfte der ukrainischen Rom*nija (etwa 20.000 Menschen) sowie fast zwei Drittel der Jüd*innen (etwa 1,6 Millionen Menschen).
Das Territorium der heutigen Ukraine war von 1941 bis 1945 von Nazideutschland und seinen Verbündeten besetzt. Das flächenmäßig größte besetzte Gebiet war das sog. «Reichskommissariat Ukraine» mit der Hauptstadt Riwne. Entlang der östlichen Besatzungsgebiete verlief die Front, die somit unter deutscher Militärverwaltung standen. Die 1940 eroberte Nordbukowina und Südbessarabien wurden von Hitler an das verbündete Rumänien zurückgegeben. Ostgalizien wurde als gesonderter «Distrikt Galizien» an das «Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete» angegliedert. Transkarpatien blieb bis zur Befreiung durch die sowjetischen Streitkräfte im Jahr 1944 durch Ungarn besetzt.
Der Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges und der Naziverbrechen
Vorgeschichte: Erschwerte Bedingungen bei der Evakuierung der Zivilbevölkerung
Für die sowjetische Führung unerwartet überfiel Nazideutschland am 22. Juni 1941 die UdSSR. Wie die übrige Bevölkerung mussten sich auch Jüd*innen vielerorts zwischen Verbleib und einer staatlichen Evakuierung entscheiden, wobei es sich, wie sich später herausstellen sollte, um eine Frage von Leben und Tod handelte. Das Überleben einiger weniger ukrainischer Jüd*innen ist größtenteils auf solche Evakuierungen zurückzuführen. Besonders in den westlichen Gebieten der Ukraine konnten nur wenige Menschen – und die geringste Zahl von Jüd*innen* – evakuiert werden. Der Hauptgrund dafür war die Nähe zur Grenze: Der unerwartete Überfall ließ keine Zeit für eine Evakuierung der Menschen vor Ort, der Rückzug der sowjetischen Armee war unkoordiniert und erschwerte die Situation zusätzlich. Der Zivilbevölkerung konnten in diesem Chaos keine Transportmittel zur Verfügung gestellt werden und die Menschen waren bei ihren Fluchtversuchen auf sich alleine gestellt.
Darüber hinaus widersetzten sich viele Jüd*innen aufgrund positiver Erfahrungen während der deutschen Besatzung im ersten Weltkrieg einer Evakuierung. Nahezu alle Jüd*innen, die nicht aus den besetzten Gebieten flohen, kamen um. Das Drama des ukrainischen Judentums vollzog sich in mehreren Etappen.
Pogrome im Sommer 1941
Die erste große Katastrophe für die ukrainischen Jüd*innen waren die Pogrome des Sommers 1941, zu denen es größtenteils unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die westukrainischen Gebiete kam. Die Zahl der Opfer wird je nach Quelle mit einigen Tausenden bis Zehntausenden beziffert. Verübt wurden diese Pogrome von der örtlichen Bevölkerung unter dem Schutz der deutschen Besatzungsmacht. Sie fanden vor dem Hintergrund der Massenhinrichtungen politischer, ukrainischer Häftlinge durch die sowjetische Armee statt, die diese kurz vor ihrem überstürzten Rückzug verübte. Insbesondere Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) fielen diesen Hinrichtungen zum Opfer. Nach dem Abzug der Sowjetarmee versuchte die OUN das kurzzeitige Chaos zu nutzen und bildete Polizeieinheiten, von denen sie hoffte, dass sie Teil des Sicherheitsapparats eines zukünftigen ukrainischen Staates werden würden. Nach ihrem Einmarsch gliederten die Nazis diese OUN-Miliz in die lokale Hilfspolizei ein und machten sich die sowjetischen Massenhinrichtungen politischer Gefangener geschickt zunutze: Mithilfe der lokalen Polizei spürten deutsche Soldat*innen die Hinrichtungsschauplätze auf und befahlen der jüdischen Bevölkerung, die verscharrten Leichen zu exhumieren und ordentlich zu bestatten. Dieses demonstrative Vorgehen sollte der ukrainischen Bevölkerung vermitteln, dass die Hinrichtungen von einer «jüdisch-bolschewistischen» Macht durchgeführt worden waren und Ressentiments gegen die Jüd*innen schüren. An den resultierenden Pogromen gegen Jüd*innen beteiligten sich Partisanen der ukrainisch-nationalistischen Gruppierungen wie auch die lokale Bevölkerung. Für letztere waren nebst dem vorhandenen Antisemitismus (ein in religiösen ukrainischen und polnischen Gemeinschaften verbreitetes Phänomen) nicht zuletzt auch wirtschaftliche Motive ausschlaggebend – vielerorts griffen Menschen ihre jüdische Nachbar*innen an, um sich selbst zu bereichern. An die Massenplünderungen jüdischer Wohnungen und Häuser im Juli 1941 in Dubrowyzi, einer Kleinstadt in Wolhynien, kann sich Maya Feldman noch gut erinnern:
«Der nicht-jüdischen Bevölkerung wurde erlaubt, in den jüdischen Häusern alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitzunehmen. Und das haben sie auch gemacht. Sie plünderten. Alles, was sie in deinem Haus unter die Finger bekamen, nahmen sie mit. Obwohl die Deutschen das Kommando gaben, nur bis Mitternacht zu plündern. Danach hätte das aufhören sollen.» [Visual History Archive USC Shoah Foundation, Nr. 9245]
Systematische Erschießungen
Die Pogrome brachten den Nazis nicht die gewünschten Resultate. Bereits im Juli und August 1941 fanden deshalb die ersten systematischen Erschießungen statt. Dafür wurden nach der Eroberung und Besetzung durch die Wehrmacht die Einsatzgruppen C und D hinzugezogen, die die Bevölkerung schikanierten und Jüd*innen ermordeten. Im Sommer 1941 wurde mit der Erschießung erwachsener Männer begonnen. Dabei hatten es die Nazis besonders auf Vertreter der jüdischen Intelligenzija abgesehen, da es einen organisierten jüdischen Widerstand erschweren würde. Ende Juli, zu Beginn des Augustes 1941 wurden die Erschießungen auf Frauen, Kinder und alte Menschen ausgeweitet. Dabei zeigte sich, dass die deutsche Truppenstärke nicht ausreichen würde, um den geplanten Mord an Millionen von Menschen durchzuführen. Demzufolge wurde die lokale Bevölkerung eingespannt. Es wurden Hilfspolizeieinheiten rekrutiert, denen im Grunde jede*r beitreten konnte. Diese Truppen setzten sich vorwiegend aus Angehörigen ukrainischer, polnischer, russischer und «volksdeutscher» Volksgruppen zusammen. Auch zahlreiche Mitglieder der OUN traten ihnen bei, angetrieben durch die Aussicht auf eine gute militärische Ausbildung und den Zugang zu Feuerwaffen. Zu diesem Zeitpunkt war die OUN in zwei Gruppen zerfallen und wurde von Stepan Bandera beziehungsweise Andrij Melnyk angeführt. Die lokale Hilfspolizei unterstützte die Einsatzgruppen nicht nur durch ihre Beteiligung an Erschießungen, sondern sie trieb auch die Opfer zusammen und brachte sie zu den Hinrichtungsplätzen, führte Vertreibungen durch oder stand Wache. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die Massenerschießungen im Spätsommer und Spätherbst des Jahres 1941. Außerhalb der Dörfer wurden Gruben ausgehoben, eine Arbeit, zu der man sowjetische Kriegsgefangene und die jüdische Bevölkerung zwang. An die jüdische Bevölkerung erging der öffentliche Befehl, sich für eine «Umsiedelung» bereit zu machen. Man wies sie an, warme Kleidung, Wertgegenstände und Proviant für einige Tage mitzunehmen und sich an Sammelpunkten einzufinden. Da die meisten nicht glaubten, dass es zu Massenerschießungen kommen würde, begaben sie sich freiwillig dorthin. Von dort aus wurden sie in Konvois und unter der Bewachung der Einsatzgruppen, der deutschen Ordnungspolizei, der Sicherheitspolizei und der lokalen Hilfspolizei zu den Gruben gebracht, wo sie innerhalb von ein bis zwei Tagen ermordet wurden. Die höchsten Opferzahlen im Reichskommissariats Ukraine weisen drei Städte auf: Kyjiw (in der Schlucht Babyn Jar, die traurige Bekanntheit erlangt hat, wurden am 29. und 30. September insgesamt etwa 33.000 Menschen ermordet), Kamjanez-Podilskyj (hier wurden innerhalb von drei Tagen knapp 24.000 Menschen getötet; die meisten von ihnen Geflüchtete und Deportierte aus dem von Ungarn besetzten Transkarpatien) und Riwne (Anfang November 1941 wurden hier 17.500 Menschen erschossen).
Errichtung und Auflösung von Ghettos
Am Leben gelassen wurden Jüd*innen und ihre Familienangehörigen nur dann, wenn sie dem Regime wirtschaftlich von Nutzen waren. Diese Überlebenden wurden in eines der 160 Ghettos deportiert, die die Nazis seit September 1941 im Reichskommissariat Ukraine errichtet hatten. Es gab sogenannte «geschlossene» und «offene» Ghettos, in denen das Überleben unterschiedlich schwierig war. Jüd*innen in den geschlossenen Ghettos konnten nur schwerlich Nahrungsmittel bei der örtlichen Bevölkerung eintauschen, weshalb dort mehr Menschen an Hunger starben. Doch in beiden, geschlossenen wie offenen Ghettos, starben unzählige Menschen an Kälte, Krankheit und Unterernährung.
Die ukrainischen Ghettos bestanden nur für kurze Zeit. Bereits im Frühjahr 1942 begannen die Nazis mit ihrer Auflösung und bis zum Ende des Jahres «liquidierten» sie die Mehrheit dieser Siedlungen. Nur in Einzelfällen kam es zu Aufständen. So erinnert sich Laura Oberlender, die von ukrainischen Bäuer*innen versteckt wurde, an einen solchen Aufstand im Tutschiner Ghetto:
«Wir entschieden, dass es besser sei, das Ghetto anzuzünden, als einfach umgebracht zu werden. In kürzester Zeit übergossen wir bei Nacht 60 oder 70 Häuser mit Benzin und zündeten sie an. Die Deutschen konnten das Ghetto nicht betreten und begannen, von draußen zu schießen. Doch die Flucht gelang. Knapp 2000 Menschen flohen in dieser Nacht in die Wälder. Wir standen etwa drei Meilen von der Stadt entfernt und sahen, wie das Ghetto brannte. [...] Viele Menschen konnten fliehen, aber leider wurden viele bis zum Kriegsende getötet. Es haben vielleicht zwei oder drei überlebt.» [Visual History Archive USC Shoah Foundation, Nr. 12337]
Im Distrikt Galizien war es nicht zu ebenso massiven Massenerschießungen gekommen, wie sie 1941 im Reichskommissariats Ukraine stattgefunden hatten. Stattdessen hatte man die jüdische Bevölkerung in Ghettos deportiert. Die meisten von ihnen wurden im Zuge der «Aktion Reinhardt» ermordet. In den Jahren 1942/43 wurden die Ghettos aufgelöst und man deportierte die Jüd*innen ins Vernichtungslager Bełżec im besetzten Polen. Wer den Eindruck machte, die bevorstehende Deportation nicht zu überleben, wurde an Ort und Stelle hingerichtet. Kleine Kinder, Kranke und alte Menschen wurden so auf zentralen Plätzen, an Bahnstationen, auf jüdischen Friedhöfen oder noch in ihren Häusern und Wohnungen ermordet.
Neben dem Reichskommissariat Ukraine und dem Distrikt Galizien fand der Holocaust auch in Gebieten statt, die von Hitlers Verbündeten besetzt waren: in Transkarpatien (Ungarn), in der Nordbukowina und dem südlichen Bessarabien (Rumänien) sowie entlang der Front im Osten der Ukraine, wo die Militäradministration das Sagen hatte. Den verbündeten Mächten kommt demnach eine Mitverantwortung an Massenmorden in diesen Regionen zu.
Überleben jenseits der Ghettomauern
Zahlreiche Opfer versuchten, dem schrecklichen Schicksal zu entkommen. Sie flüchteten und versteckten sich in Wäldern und Feldern oder suchten Unterschlupf bei Nachbar*innen. Ihr Überleben hing in diesen Fällen vollständig von der örtlichen Bevölkerung ab. Der bereits erwähnte Aufstand im Tutschiner Ghetto ist eines der wenigen Beispiele, wo es Jüd*innen gelang, in großer Zahl zu fliehen. Von den knapp 2.000 Menschen, denen die Flucht gelungen war, überlebten jedoch nur die wenigsten bis zur Befreiung im Jahr 1944. Bei der Verfolgung und Tötung von in die Wälder und Sümpfe entkommenen Jüd*innen griff die nationalsozialistische Besatzungsmacht auf die Einheimischen und ihre Ortskenntnis zurück. Vera Schtschetinkova, Holocaustüberlebende, erinnert sich:
«Wir flüchteten abends, nachdem es dunkel geworden war. Es gelang ihnen [den Deutschen und der lokalen Polizei] nicht, alle zu töten. Einige ließen sie übrig, um sie am nächsten Morgen zu erschießen. Am Abend betranken sie sich, und die [Jüd*innen], die konnten, rannten weg. Es war also nicht so, dass es unmöglich war, zu fliehen. Später jedoch machten sie sich auf die Suche und lieferten die Menschen für eine Flasche Kerosin aus. Eine Flasche Kerosin oder irgendeinen Kleidungsfetzen. Sie suchten die Wälder ab und brachten sie dann zurück. Viele wären noch am Leben, hätte man sie nicht ausgeliefert. Fast alle jungen Leute flohen, doch sobald man sie aufspürte, wurden sie erschossen.» [Visual History Archive USC Shoah Foundation, Nr. 45238]
Für die Beteiligung der nicht-jüdischen Bevölkerung an diesen Aktionen gab es verschiedenste Gründe. Der Großteil der Ukrainer*innen lebte in bitterer Armut und für die Auslieferung von Jüd*innen erhielt man Streichhölzer, Salz, Zucker, Brennholz oder etwa Kleidung und Schuhe des Opfers. Auch die Angst vor Bestrafung spielte eine Rolle. Die Nazis töteten nicht nur diejenigen, die Jüd*innen bei sich versteckten, sondern vernichteten ganze Familien und sogar Dörfer. Das trieb die Menschen dazu, Verstecke zu verraten und Nachbar*innen zu denunzieren, die Jüd*innen halfen. Auch antisemitische und ideologische Überzeugungen trugen ihren Teil bei. Für die Jüd*innen gestaltete sich ein Überleben in dieser Situation unglaublich schwer.
Natürlich gab es in den besetzten ukrainischen Gebieten auch Menschen, die außergewöhnlichen Mut und Selbstlosigkeit bewiesen und ihren jüdischen Mitmenschen halfen. So sind bis heute 2634 Ukrainer*innen als «Gerechte*r unter den Völkern» geehrt worden – eine Ehrung, die von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem an diejenigen verliehen wird, die ihr Leben riskierten, um Jüd*innen zu retten. Viele Ukrainer*innen halfen auch spontan oder situativ. Dennoch war Hilfeleistung eher die Ausnahme als die Regel.
Die anderen Opfer
Die nationalsozialistischen Besatzer*innen waren nicht nur für die systematische Ermordung der Jüd*innen verantwortlich, sondern auch für den Porajmos, den Genozid an der Volksgruppe der Rom*nija. So war Babyn Jar, der Ort, an dem die meisten Jüd*innen erschossen wurden, auch Schauplatz der Vernichtung von Rom*nija. Nach Meinung des Völkermord-Forschers Mychajlo Tjahlyj gab es nebst «rassischen» Motiven noch weitere Gründe für diese Erschießungen: So wurden viele Rom*nija als sogenannt Asoziale ermordet. Zudem lebten gerade fahrende Rom*njia in der ständigen Gefahr, von Militäreinheiten erfasst zu werden.
Insgesamt entdeckte man in der Ukraine rund 160 Orte, an denen Massenhinrichtungen von Rom*nija durchgeführt wurden. Berechnungen des ukrainischen Historikers Oleksandr Kruhlowa zufolge starben etwas 45 Prozent der ukrainischen Rom*nija während der nationalsozialistischen Besatzung.
Gewalt als Nährboden für Gewalt
Nicht alle Getöteten fielen den Nazis unmittelbar zum Opfer. Manche Ermordungen waren eine indirekte Folge der Okkupation durch das Naziregime. Im Oktober 1942 ging ein beträchtlicher Teil der Hilfspolizei, die zuvor im Dienste der Deutschen gestanden hatte, in die Wälder, und bildete die Ukrainische Aufständische Armee (die UPA gilt als militärischer Flügel der OUN). 1943 griff die UPA die polnische Bevölkerung zunächst im Gebiet des westlichen Wolhyniens und dann in Ostgalizien an, mit dem Ziel, sie zur Flucht nach Polen zu bewegen. Im Zuge dieser Aktionen kam es zu ethnischen Säuberungen, denen zehn- bis hunderttausende Pol*innen zum Opfer fielen. Als Antwort darauf formierte die polnische Bevölkerung Selbstverteidigungstruppen, denen die Armia Krajowa, die polnische Heimatarmee, zu Hilfe kam. Als Vergeltungsmaßnahme wurden ukrainische Dörfer zerstört und tausende Ukrainer*innen getötet – die Mehrheit der Opfer waren unbeteiligte Dorfbewohner*innen.
Viele Soldaten der UPA hatten während ihrer Zeit bei der Hilfspolizei im Dienste der Nazis Erfahrung im Zuge des Holocaust gesammelt und verfolgten nicht nur Pol*innen, sondern häufig auch Jüd*innen, darunter solche, die sich in den Wäldern versteckten. So wirkten sich die Bildung der UPA und der ukrainisch-polnische Konflikt indirekt auf das Schicksal von Jüd*innen aus, die oft auch ihre (ukrainischen oder polnischen) Retter*innen verloren oder zusammen mit diesen getötet wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfanden die politischen Eliten der Sowjetunion den Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs, der bis 1991 eine dominante Stellung im politischen Gedächtnis einnahm. Mit der ukrainischen Unabhängigkeit kam es ab 1991 in der Ukraine vermehrt zu einer ukrainisch-nationalistische Heroisierung des Kampfes der OUN und der UPA. Zwischen dem Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg und einem ukrainisch-nationalistischen Held*innenkanon blieb wenig Platz für ein Gedenken an die Opfer des Holocausts und des Porajmos. Ihnen kam in den 1990er Jahren von offizieller Seite kaum Beachtung zu.
Im Jahr 2004 erklärte das ukrainische Parlament den 2. August zum offiziellen Tag des Gedenkens an den Holocaust der Roma. Den Internationalen Holocaust-Gedenktag begeht man in der Ukraine offiziell erst seit 2012. Während die offiziellen Zeremonien anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar inzwischen ein gewisse Dimension erlangt haben, spielt der 2. August hingegen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit kaum eine Rolle und wird von offizieller Seite wenig gewürdigt. Das ist bedenklich, ist doch gerade das Gedenken an marginalisierte gesellschaftliche Gruppen ein Indiz für die Toleranz und die Demokratisierung der politischen Kultur. Ob es der Ukraine in dieser Hinsicht gelingt die Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg zu ändern, muss die Zukunft zeigen.