Nachricht | Osteuropa - 30 Jahre Transformation in Osteuropa «Was die Gesellschaft spaltet, sind die sozialen Probleme»

Interview mit Veronika Pehe, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik

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Veronika Pehe,

Veronika Pehe
Veronika Pehe

Veronika Pehe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für zeitgenössische Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, wo sie derzeit Inhaberin des Marie Skłodowska-Curie Fellowship ist. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit der populären Kultur und dem Gedächtnis, der Gedächtnispolitik und der Geschichte der wirtschaftlichen Transformationen in Mitteleuropa nach 1989. Sie ist auch als externe Redakteurin bei unserer Partnerorganisation, dem Onlinejournal A2larm, tätig.

Über die Transformation in Mitteleuropa sprach mit ihr unsere Büroleiterin in Prag, Joanna Gwiazdecka.
 

Joanna Gwiazdecka: Haben die jungen Menschen in Tschechien eine Vorstellung über die «Samtene Revolution» und die Transformation, die nach der Revolution begann? Oder ist dieses Thema nur für diejenigen bestimmt, die diese Periode selbst erlebt haben?

Veronika Pehe: Der Begriff «Samtene Revolution», bzw. «November 89» ist ein Schlüsselwort, das oftmals in den Medien und im öffentlichen Diskurs allgemein benutzt wird, so dass die junge Generation sicherlich ein gewisses Bewusstsein für diesen Begriff hat. Trotzdem ist es jedoch nicht ganz so klar, was sie sich unter diesem Begriff vorstellen. Eine beträchtliche Sichtbarkeit erlangte der Studierendenverein mit dem Namen «Danke, dass wir können» (Díky, že můžem), der seit 2014 jedes Jahr anlässlich des Jahrestages des Eingreifens der Polizei gegen die demonstrierenden Student*innen am 17. November 1989 Aktionen auf der Prager Nationalstraße organisiert. Die Hauptidee der Aktion ist es, denjenigen zu danken, die am Ende der achtziger Jahre für die tschechische Gesellschaft die Freiheit erkämpft haben. Laut der Stellungnahme dieses Vereins leben wir in einer Zeit der «unbeschränkten Möglichkeiten» – in dieser Auslegung wird also die Transformation eindeutig positiv bewertet. Obwohl dies sicherlich für ein bestimmtes Segment der Gesellschaft gilt, handelt es sich insbesondere um eine Perspektive der Studierenden aus den Großstädten. Es ist schwer sich vorzustellen, dass ein ähnliches Gefühl auch von den jungen Menschen insbesondere aus den postindustriellen Regionen des Landes geteilt wird, die unter einer ganzen Reihe von Strukturproblemen leiden und der jungen Generation nur geringe Möglichkeiten bieten. Es gilt aber, dass für den politisch aktiven Teil der jungen Generation die Samtene Revolution ein wichtiger Referenzpunkt bleibt, auf dessen Symbolik sich zum Beispiel auch die führenden Persönlichkeiten der Bewegung «Eine Million Augenblicke für die Demokratie» (Milion chvilek pro demokracii) beziehen, die seit 2018 Protestaktionen gegen die Regierung des derzeitigen Premierministers Andrej Babiš veranstaltet.

Auf welche Art und Weise reflektieren und diskutieren die jungen Menschen die neueste Geschichte?

Die Untersuchung der Lebensschicksale der Menschen, die am Ende der achtziger Jahre an den Hochschulen studierten und sich an den Student*innenstreiks im November 1989 beteiligten, an deren Durchführung ich als Forscherin beteiligt war, belegte nicht, dass die Kinder dieser ehemaligen Revolutionär*innen in der heutigen Zeit eine besondere Beziehung zu diesem historischen Meilenstein haben. Aus diesem Projekt geht absolut offensichtlich hervor, dass diese junge Generation bei ihrer Herangehensweise und ihrem Verständnis der Samtenen Revolution nicht homogen ist. Es ist also schwer, die Herangehensweise der jungen Menschen zu verallgemeinern.

Während der Jahrzehnte der Transformation wurde in den Medien oftmals darüber diskutiert, dass an den Schulen nur wenig Zeit dem Unterricht über die neueste Geschichte gewidmet wird und dass die Schüler*innen und Student*innen es oftmals überhaupt nicht schaffen, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts im Unterricht zu behandeln. Dies gilt heute so nicht mehr, doch einige Lehrer haben mit der neuesten Geschichte immer noch ein Problem. Daher entstand auch eine ganze Reihe von Akademie- und Bürgerinitiativen, die Materialien für den Unterricht zur neuesten Geschichte an den Schulen entwickeln. Zu den hochwertigsten gehören sicherlich die Aktivitäten der Bildungsabteilung des Instituts für das Studium der totalitären Regime. Bei verschiedenen Organisationen, die sich der neuesten Geschichte widmen, gilt aber, dass deren Auslegung – nicht nur der Ereignisse um den Fall des kommunistischen Regimes herum – von deren politischer Orientierung beeinflusst wird. Im tschechischen öffentlichen Diskurs war seit dem Beginn der neunziger Jahre sehr stark der Antikommunismus als eine bestimmte scheinbar natürliche Ablehnung der Politik vor dem Jahre 1989 vertreten, diente aber gleichzeitig auch als Instrument des politischen Kampfes, das es ermöglichte, jedwede linksgerichtete Ideen sofort als kommunistische abzutun. Leider kam es zu dieser an und für sich notwendigen ablehnenden Haltung gegenüber der Politik vor 1989 oftmals ziemlich pauschal und unkritisch, was es unmöglich machte – und in gewissem Maße auch immer noch unmöglich macht – das kommunistische Regime einschließlich dessen tatsächlich zu verstehen, warum es so lange überdauert hat und in welchem Maße dieses Regime von bestimmten Teilen der Gesellschaft unterstützt wurde. Jedwede Bemühung um das Verständnis der Verankerung des vergangenen Regimes in der Gesellschaft wird vom liberalen und rechtsgerichteten Teil der Medien und politischen Repräsentanz als eine Art Verteidigung dieser Diktatur angesehen. Und dies macht selbstverständlich eine offene Debatte und einen hochwertigen Unterricht an den Schulen unmöglich.

Wie geht die Politik mit der Geschichte in der Tschechischen Republik um?

Ebenso wie in anderen Ländern ist die Geschichte auch in der Tschechischen Republik ein politisiertes Thema. Paradoxerweise ist dies in den letzten Jahren sichtbarer als unmittelbar nach der Samtenen Revolution. In den neunziger Jahren gab es in der Politik und den Medien einen Konsens, dass das kommunistische Regime zu verurteilen ist. Selbstverständlich waren verschiedene Formen der strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen des kommunistischen Regimes und der öffentlichen Ächtung vermeintlicher ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit an der Tagesordnung. Doch die «Auseinandersetzung mit der Vergangenheit» nahm keine derart grundlegende Dimension für die Herausbildung einer neuen Identität an, wie dies in Deutschland der Fall war, wo dieses Thema der ostdeutschen versus westdeutschen Identität beständig aktuell ist. Die Tschechen pflegen lieber ihr besänftigendes historisches Narrativ, dass sie in der Geschichte immer Opfer anderer Mächte gewesen seien und für die historischen Ereignisse selbst keine Verantwortung tragen. Auch daher spielte die sogenannte Geschichtspolitik in Tschechien nach 1989 scheinbar eine geringere Rolle als in Deutschland, wo es notwendig war, sich insbesondere mit der Verantwortlichkeit für das nationalsozialistische Regime auseinanderzusetzen.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Geschichte nicht in die Politik und die Politik nicht in die Erforschung der Vergangenheit vordringen würde. Eine große öffentliche Debatte wurde durch die Eröffnung des Instituts für das Studium der totalitären Regime im Jahre 2007 und nachfolgend im Jahre 2011 durch das sogenannte Gesetz über den dritten Widerstandskampf hervorgerufen, das den Widerstandskampf (auch bewaffnet) gegen das kommunistische Regime de facto mit dem Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges gleichsetzt. Dies ist eine relativ kontroverse These, die die politische Szene und Gesellschaft spaltete. Im tschechischen kollektiven Gedächtnis gibt es immer noch keinen Konsens zum Beispiel darüber, ob die Gruppe um die Brüder Mašín, die zum Beginn der fünfziger Jahre Gewalttaten im Rahmen des Widerstandskampfes gegen die Kommunisten begangen hatte, und zwar auch einschließlich mehrerer Morde, als Helden anerkannt werden oder ganz im Gegenteil verurteilt werden sollte. 

Im Allgemeinen kann man sagen, dass der politisierte Streit um die Geschichte in der Tschechischen Republik in den letzten ungefähr 15 Jahren allein um den Charakter des vergangenen Regimes geführt wird. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die behaupten, dass dieses Regime ein totalitäres Regime war und ausschließlich auf Repression fußte. Ihnen zufolge sollten lediglich die repressiven Aspekte der Diktatur und keinesfalls der Alltag oder auch die Unterstützung für das Regime untersucht werden, die es in diesem Interpretationsschema überhaupt nicht gegeben haben kann. Die andere Seite beschäftigt sich dagegen mit der gesellschaftlichen und kulturellen Geschichte. Sie möchte in Erfahrung bringen, wie die Menschen im Rahmen des autoritären Regimes in ihrem Alltag funktionierten. Obwohl unter Expert*innen der Forschung zum kommunistischen Regime die zweite Herangehensweise auch im internationalen Maßstab als vollkommen legitim angesehen wird, wird sie von den Gegner*innen als «Revisionismus» abgelehnt, der die Diktatur vermeintlich rechtfertigt. Vor Kurzem wurde Michal Pullman, Dekan der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag, zum Opfer von Anfeindungen, da dessen Arbeit unter anderem die konsensbezogenen Aspekte der kommunistischen Diktatur erforscht. Seinen Gegner*innen zufolge ist er somit ein Verteidiger des Totalitarismus und ein gefährlicher «Neomarxist». Dieser Streit wird sicherlich im deutschen Kontext, wo sich bereits seit den achtziger Jahren eine langjährige Tradition der Alltagsgeschichte herausgebildet hatte, als vollkommen verspätet wahrgenommen. Historiker wie Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger hatten bereits vor Langem überzeugend dargelegt, dass das Studium der Repression und des Alltags keine zwei getrennten Dinge sind, sondern dass sie parallel untersucht werden müssen, um zu verstehen, wie repressive Regime tatsächlich funktionieren. Während sich ein Teil der tschechischen Fachöffentlichkeit dessen bewusst ist, ist auf politsicher Ebene für eine ganze Reihe von  Gruppen eher das Narrativ von Vorteil, das behauptet, dass der Kommunismus in erster Linie zu verurteilen und nicht darauf einzugehen ist, dass sich dieses Regime einer bestimmten Unterstützung erfreute. Dies würde nämlich auch die Annahme einer gewissen kollektiven Verantwortung erforderlich machen. Aber darüber wird in der tschechischen Gesellschaft immer noch nicht gesprochen.

Gibt es Ähnlichkeiten in den mitteleuropäischen und osteuropäischen Ländern, die sich aus der Transformation ergeben?

Der Transformationsprozess verlief in den verschiedenen Ländern des ehemaligen Ostblocks  zwar mit unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Mechanismen, im Allgemeinen kann man jedoch sagen, dass der sehr schnelle Wandel des gesamten Wirtschaftssystems die Herausbildung von gesellschaftlichen Ungleichheiten beschleunigte. Während eine bestimmte Schicht Gewinn aus dem Umsturz ziehen konnte (in den neunziger Jahren oft auf eine Art und Weise, die sich an der Grenze der Legalität bewegte), sind wiederum andere Gruppen in die Arbeitslosigkeit und Armut abgerutscht. Heute sehen wir eine Polarisierung nicht nur der postkommunistischen Gesellschaften, sondern auch überall in der westlichen Welt. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks wird diese Polarisierung jedoch insbesondere durch die Traumata aus der Transformationsperiode angetrieben. Wenn wir zur Frage der Politisierung der Geschichte zurückkehren, so befeuert eine ganze Reihe von Politiker*innen und bedeutsamen Persönlichkeiten auch heue noch den Kulturkonflikt um die kommunistische Vergangenheit, da das Abwälzen der Probleme auf diese Periode die Aufmerksamkeit von den aktuellen Problemen ablenkt.

Aber die tschechische Gesellschaft ist schon lange nicht mehr durch das Erbe des Kommunismus gespalten – wie übrigens der gewaltige Erfolg von Andrej Babiš zeigte, der nicht nur Mitglied der Kommunistischen Partei, sondern nachweislich auch Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen ist. So ist die kommunistische Vergangenheit einem beträchtlichen Teil der tschechischen Wähler*innen bereits egal. Das, was die Gesellschaft spaltet, sind soziale Probleme, wie das hohe Maß an Verschuldung, nicht zur Verfügung stehender Wohnraum, geringe Löhne in einigen Branchen und die unzureichende Infrastruktur. Und dies sind Probleme, für die hier in Tschechien ebenso wie anderswo in der Region, insbesondere die nach 1989 im Amt gewesenen Regierungen und keinesfalls die vorhergehenden Regierungen verantwortlich sind.