Analyse | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Südostasien - China - Die Neuen Seidenstraßen Indien und die neuen Seidenstraßen

Hindunationalismus und Konkurrenz zu China

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Die «Statue der Einheit» in Indien
«Die Regierung zelebriert konstant indische Größenphantasien, sei es durch ein Raumfahrtprogramm, den Bau gigantischer religiös-politischer Statuen oder durch pseudowissenschaftliche Behauptungen, im antiken Indien hätte es bereits Flugzeuge und das Internet gegeben.» Die «Statue der Einheit» zeigt Sardar Vallabhbhai Patel, einen der Gründerväter Indiens (Kevadia/Gujarat, Indien, Oktober 2018), picture alliance / REUTERS | AMIT DAVE

Geostrategische Analysen, die argumentieren, es sei für Indien vorteilhaft, sich Chinas Megaprojekt – der Belt and Road Initiative – anzuschließen, übersehen andere Dimensionen. Sowohl die Komplexität des historischen Konfliktes, das sozialpsychologische Phänomen des Gruppennarzissmus im hindunationalistischen Indien und das symbolische Machtgefälle machen ein solches Szenario unwahrscheinlich.
 

Aurel Eschmann ist ehemaliger Mitarbeiter des Südasienprogramms der Rosa-Luxemburg-Stiftung und forscht zu den autoritären Transformationen in Indien und China.

Mitte Juni dieses Jahres erreichten die Beziehungen zwischen Indien und China einen frostigen Tiefpunkt. Nach monatelangen Spannungen kam es im Galwan-Tal, im westlichen Himalaya, zu tödlichen Gefechten zwischen den beiden Supermächten. 20 indische sowie eine ungenannte Zahl chinesische Soldaten kamen dabei ums Leben. Da das Tal, welches an das indische Unionsterritorium Ladakh angrenzt, zur entmilitarisierten Zone gehört, wurden die mehrere Tage andauernden Kämpfe mit Steinen und nagelbestückten Stangen geführt.

Spannungen sind nicht ungewöhnlich entlang der ungefähr 3500 Kilometer langen Grenze zwischen Indien und China. Die Grenzlinie, die sich neben Ladakh noch an den indischen Bundesstaaten Sikkim und Arunachal Pradesh entlang zieht, ist seit dem indisch-chinesischen Krieg 1962 umstritten und völkerrechtlich nicht festgelegt. Jedoch war dies die erste tödliche Auseinandersetzung im Grenzkonflikt seit 1975. Entsprechend stark waren die Reaktionen und Anschuldigungen auf beiden Seiten. In Indien flammten überall im Land anti-chinesische Demonstrationen auf und Boykott-Forderungen waren zu hören. Diese kulminierten schlussendlich in einer Reihe von ökonomischen Sanktionen, darunter einem Verbot von über 200 chinesischen Apps, inklusive der Social Media Plattform TikTok. Diese Sanktionen könnten nach Ansicht von Beobachter*innen allerdings schwerere Folgen für die indische Wirtschaft haben als für China.

Der Grenzverlauf im Himalaya ist allerdings nicht der einzige Schauplatz, an dem sich die Verschlechterung der politischen Beziehungen zwischen den beiden Atommächten ablesen lässt. Ein weiterer ist Chinas Megaprojekt, die Belt and Road Initiative (BRI), auch bezeichnet als Neue Seidenstraßen. Die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi weigert sich an der gigantischen geostrategischen Infrastruktur- und Entwicklungsinitiative, welche auch auf gesteigerte intra-asiatische Vernetzung abzielt, mitzuwirken. Mittlerweile sind alle Nachbarstaaten Indiens, mit Ausnahme Bhutans, Teil des milliardenschweren Programms. Indien allerdings nahm im Jahr 2017 weder am «Belt and Roads Forum» in Beijing noch an irgendeinem der darauffolgenden BRI-Gipfel teil. Gleichzeitig beäugt es misstrauisch das selbstbewusste Auftreten Chinas in seiner traditionellen Einflussregion.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatte dies noch anders ausgesehen. Neben stark wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen gab es einen stetig wachsenden und wohlwollenden außenpolitischen Dialog zwischen den beiden Nationen. Viele Kommentator*innen sahen darin den Beginn eines asiatischen Jahrhunderts, in dem Indien und China nach einem 200 Jahre andauernden westlich-imperialen Intermezzo wieder an die Spitze der Weltwirtschaft zurückkehren und sich dabei zunehmend untereinander vernetzen würden.

In seiner exzellenten Analyse der Neuen Seidenstraßen aus indischer Perspektive hat Subir Bhaumik argumentiert, dass es trotz oder gerade wegen der geostrategischen Bedenken für Indien zuträglich wäre, mehr mit China zu kooperieren und sich perspektivisch der BRI anzuschließen. Dabei blickt er besonders auf Indiens eigene Bestrebungen, den indischen Nordosten zu entwickeln und zu vernetzen. Die wesentliche Forderung Bhaumiks lässt sich so zusammenfassen: Indien und China müssten ihre strategische Konkurrenz überwinden und erkennen, dass eine politische Zusammenarbeit für beide Vorteile hat. Dabei sollte jedoch Indien die eigenen strategischen Interessen und Gefahren, die die Zusammenarbeit mit dem mächtigeren Partner bringt, nicht aus den Augen verlieren.

Während die materiellen und strategischen Überlegungen hinter dieser Forderung durchaus korrekt sein mögen, so unterschätzt diese Perspektive eine Reihe von Faktoren auf der symbolischen und sozialpsychologischen Ebene, die ein solches Zusammenrücken von Indien und China deutlich erschweren. Das Anerkennen der Gefahrenpunkte in einer Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China bedarf der bewussten Formulierung einiger äußerst unbequemer Einsichten für Indien. Dabei handelt es sich um die Komplexität des historischen Konfliktes, das Fehlen eines eigenen außenpolitischen Narratives und die immense ökonomische sowie militärische Unterlegenheit Indiens gegenüber dem nördlichen Nachbarn.

Die Tiefe des historischen Konfliktes

Noch in den 1950er Jahren, kurz nach der indischen Unabhängigkeit und dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern geprägt von gegenseitigem Interesse und Solidarität. Dies äußerte sich nicht nur in der Gründung von Freundschaftsorganisationen und Austauschprogrammen, sondern auch im Treffen zwischen Jawaharlal Nehru und Mao Zedong in Beijing im Jahr 1954. Dabei erkannten die beiden Staatsführer nicht nur den wirtschaftlichen Vorsprung Indiens über China an, sondern auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit gegen den imperialen Westen. In ganz Indien kursierte in dieser Zeit die außenpolitische Prämisse, «Hindi Chini Bhai Bhai» («Indien und China sind Brüder»). Diesem Wohlwollen folgten auch Taten: 1954 unterzeichneten Nehru und der chinesische Premier Zhou Enlai das Pachasheel-Abkommen, das nicht nur die friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit, sondern auch die chinesische Hoheit über Tibet vertraglich festhielt.

Nehru war für die Erhaltung einer guten Beziehung mit der Volksrepublik zu großen Zugeständnissen bereit. Der Grund dafür war wohl, dass sein eigentliches Ziel die Schaffung einer globalen Süd-Süd Allianz mit Indien an der Spitze war. An der Gründungskonferenz dieser antikolonialen, von asiatischen und afrikanischen Staaten geprägten Bewegung nahm 1955 im indonesischen Bandung auch China teil.

Die indisch-chinesischen Verhältnisse verschlechterten sich jedoch drastisch mit dem tibetischen Aufstand 1959 und der Flucht des Dalai Lamas nach Indien. Dort machte sich aufgrund der Besetzung Desillusion über den kommunistischen Nachbarn breit. Stimmen wurden lauter, die Nehru eine Missachtung indischer Interessen in Verträgen mit China vorwarfen. Auf der anderen Seite verstärkte die indische Unterstützung Tibets chinesischen Unmut über die ungeklärten Grenzverläufe im Himalaya. Nehru, der die Möglichkeit eines chinesischen Angriffes überhaupt nicht in Betracht zog, lehnte noch 1960 einen Kompromissvorschlag zur Grenzziehung von Zhou Enlai kategorisch ab. Schließlich brach 1962 der einmonatige Grenzkrieg aus, in dem es China gelang, die indischen Streitkräfte weit auf indisches Staatsgebiet zurückzudrängen. Diese Demütigung sitzt bis heute tief. Jawaharlal Nehru empfand das als tiefen Verrat an der indisch-chinesischen Bruderschaft und den Panchasheel-Idealen. Für die solidarischen Süd-Süd-Beziehungen zwischen den beiden Mächten war dies das Ende. Erst ein Vierteljahrhundert später kam es 1988 unter Premierminister Rajiv Gandhi wieder zu einer vorsichtigen, aber pragmatischen Annäherung zwischen den beiden Ländern.

Auch wenn die antikoloniale Süd-Süd-Solidarität mit dem Konflikt von 1962 als regionale Strategie gescheitert war, so blieb genau das bis zum Ende des Kalten Krieges das wirkmächtigste außenpolitische Narrativ Indiens. Im Gegensatz zu China ist es Indien jedoch nicht gelungen eine außenpolitische Geschichte zu finden, die sich an die neuen geopolitischen und ökonomischen Gegebenheiten anpasst.

Das Indien, welches die Blockfreien anführte und zusammenhielt, bot nicht weniger als eine alternative Weltordnung an. Heute hingegen ist völlig unklar, wie die aufstrebende Großmacht die Welt gestalten möchte. China bietet mit der BRI eine Erzählung von globalem Frieden und Wohlstand unter chinesischer Führung an. Indien hingegen verlässt sich in Ermangelung ideeller Angebote an andere häufig auf seine schiere Größe und regionale Übermacht, um Kooperationen zu erwirken. Auch weil die zunehmende Präsenz Chinas einen Ausweg aus dieser Unumgänglichkeit Indiens bietet, zeigen Indiens Nachbarstaaten so bereitwillig Interesse an den Neuen Seidenstraßen.

Internationale Beziehungen, Nationalismus und Gruppennarzissmus

Außenpolitische Prozesse sind keine rein rational-strategischen Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern werden durch Diskursdynamiken gesteuert. Diese werden jedoch nicht nur von den bestehenden Gesellschaftsstrukturen bestimmt, sondern auch durch kollektive psychologische Mechanismen. Das liegt daran, dass politische Diskurse immer auch identitätsstiftende und psychologische Funktionen für Akteur*innen erfüllen.

Wie schon Sozialpsychologen seit Erich Fromm festgestellt haben, ist etwa der Gruppennarzissmus ein besonders wichtiger sozialpsychologischer Mechanismus für autoritäre nationalistische Bewegungen. Narzissmus ist ein psychischer Abwehrmechanismus für Situationen in der die eigene Position in der Welt, mit all ihren Abhängigkeitsverhältnissen und komplexen Machtbeziehungen, für das Selbst nicht auszuhalten ist. Als Reaktion wird die tatsächliche Situation verdrängt und durch wechselnde imaginierte Zustände totaler Macht oder totaler Ohnmacht ersetzt. Narzisstischen Mechanismen im Individuum werden durch gesellschaftliche Normen Grenzen gesetzt, und sie müssen sich deshalb tief ins Unterbewusste zurückziehen. Ist Narzissmus jedoch auf eine Gruppe bezogen und wird innerhalb dieser geteilt, sind ihm keine Grenzen gesetzt: Seit dem Wahlsieg der Indischen Volkspartei (Bhartiya Janata Party, BJP) im Mai 2014 wird Indien von Hindunationalisten unter Premierminister Narendra Modi regiert, die einen schrittweisen Umbau des pluralistischen und multi-religiösen Indiens zu einer Hindu-dominierten und zunehmend totalitären Gesellschaft vorantreiben. Fundament ihrer Erzählung ist die Idee einer Rückkehr zu einer «Hindu-Großartigkeit», bereinigt von allen muslimischen Einflüssen. 

Diese Fantasien von «Hindu-Größe» und dem «Wiederaufstieg der Hindus» sind manifester Gruppennarzissmus. Die Gefühle der Großartigkeit werden dabei eher durch Performanz erreicht als dass sie auf materiellen Faktoren gründen. Indien steckte auch bereits vor der COVID-19-Pandemie in einer handfesten Wirtschaftskrise, deren Folgen vor allem die ärmsten Teile der Bevölkerung tragen müssen. Gleichzeitig zelebriert die Regierung konstant indische Größenphantasien, sei es durch ein Raumfahrtprogramm, den Bau gigantischer religiös-politischer Statuen oder durch pseudowissenschaftliche Behauptungen, im antiken Indien hätte es bereits Flugzeuge und das Internet gegeben. Widersprüche gegen die so kollektiv erzeugte narzisstische Selbstwahrnehmung werden oft mit direkter Aggression beantwortet. In Indien entlädt sich dies häufig durch Mob-Gewalt gegenüber angeblich «antinationaler» linker Student*innen und Intellektuellen, oder auch bei «respektlosem» Verhalten gegenüber Kühen durch Muslime.

Die Bedrohung wird deshalb so stark empfunden, da Narzissmus auch immer von der Angst geprägt wird, dass die verdrängte Situation von Abhängigkeit oder Schwäche ins Bewusstsein zurückkehrt. Eine strategisch durchdachte Partizipation Indiens an der neuen Seidenstraße, wie sie Subir Bhaumik fordert, benötigt allerdings die bewusste Anerkennung genau einer solchen Situation. Als sich Indien und China 1988 erneut annäherten, waren sie ökonomisch und militärisch gleichauf. Inzwischen ist das Bruttoinlands-Produkt Chinas fünfmal größer als das Indiens. Indien gehört heute zu den 124 Ländern, für die die Volksrepublik der wichtigste Handelspartner war (Stand 2018), während Indien für China diesbezüglich gerademal auf dem elften Platz liegt. Genauso übertrifft China Indien deutlich in Militärausgaben und Erfolgen in der Armutsbekämpfung.

Im Fall der Volksrepublik China sind diese Erkenntnisse ungleich schmerzhafter als bei den alten Imperialmächten des Globalen Nordens. Diese lassen sich besser in das gruppennarzisstische Weltbild integrieren, da sie historisch völlig andere Ausgangsvoraussetzungen hatten und nun wahlweise als übermächtige Kolonialmacht oder als unterlegene, scheidende Großmächte konstruiert, und so in den narzisstischen Dualismus integriert werden können. China hingegen führt mit seinen sehr ähnlichen Ausgangbedingungen die Schwachpunkte und Versäumnisse auf eine Weise vor Augen, die die nationalistische Imagination von «einzigartiger Großartigkeit» bedroht. Um diese Imagination nicht zu gefährden, muss aus indischer Perspektive jede Situation vermieden werden, die die tatsächlichen Kräfteverhältnisse offenbaren. Die Teilnahme Indiens an der BRI wäre eine solche.

Aus dieser Perspektive sind auch die Sanktionen und App-Verbote gegenüber China sinnvoll, selbst wenn sie am Ende der indischen Wirtschaft mehr schaden als der chinesischen. Die Aktionen kehren die Machtverhältnisse performativ um und suggerieren, die chinesische Wirtschaft sei von Indien abhängig. Damit kreieren die Nationalisten Gefühle der Handlungsmacht und Überlegenheit gegenüber China.

Gefährlich wird es sobald diese gruppennarzisstischen Imaginationen soweit bedroht werden, dass sie aggressive Abwehr hervorrufen was durchaus in einem sehr realen internationalen Konflikt enden könnte. Ob das nächste Jahrzehnt von einer wiederauflebenden panasiatischen Solidarität oder von Konkurrenz und militärischem Konflikt geprägt sein wird, hängt auch davon ab, wieviel den autoritären Nationalismen und Gruppennarzissmus auf beiden Seiten entgegengesetzt werden kann.