Irgendetwas scheint die Partei DIE LINKE immer klären zu müssen. Wenn es nicht gerade der Nahostkonflikt ist, ist es das Verhältnis zu Russland, das zu Europa oder, oder, oder … Im Hintergrund schwingt dabei immer die Frage nach der eigenen linken Identität mit. Denn so vielfältig wie DIE LINKE ist ihr Blick auf die Welt und sind die Brillen mit denen ihre Vertreter:innen auf diese Welt schauen.
Julia Wiedemann ist Mitarbeiterin des Bereichs Internationale Politik bei der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE. Sie ist unter anderem zuständig für die Koordinierung der China-AG.
Das gilt auch für die Diskussion um das Verhältnis zu China, die in der Partei erst allmählich ankommt. Ein Interview mit Jan Turowski, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beijing, Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und Daniel Fuchs, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ostasienstudien der Humboldt-Universität zu Berlin in der Zeitschrift Luxemburg dazu wurde mit dem Begriff «Wehtu-Frage» tituliert. In dem Beitrag eröffnen die Diskutanten verschiedene Aspekte der Betrachtung Chinas, wie die historische Analyse der Transformation der Produktions- und Klassenverhältnisse, die Betrachtung der Machtverhältnisse und Herrschaftstechniken, den Spagat zwischen Liberalisierung und Regulierung sowie die gesteuerte ökonomische Entwicklung als zentrale Voraussetzung sozial-ökologischer Transformation. Doch warum die Frage nach dem Verhältnis zu China mitunter weh tut, ging unter. Daher hier ein Versuch dem näher zu kommen.
2017 beklagte der Journalist Tom Strohschneider in der Zeitung Neues Deutschland eine Leerstelle im linken Diskurs. Obwohl China «eigentlich ein Riesenthema sein müsste – gemessen an seiner Größe, an seiner neuen globalen Rolle, an seiner Geschichte, an seinem ökonomischen Gewicht». Recht hat er! Bei einer Betrachtung der Probleme dieser Welt, die nur global gelöst werden können, kommt man am Giganten China nicht vorbei – ganz gleich ob Klimawandel, Weltwirtschaft, Multilateralismus oder Bekämpfung der Corona-Pandemie. Die Rolle Chinas in der Welt als Machtzentrum und Global Player hat enorm zugenommen. Der Elefant oder vielmehr der Drache im Raum kann von deutschen Linken und damit auch von der Partei nicht mehr ignoriert werden.
Doch wie bei der Parabel von den fünf Blinden, die einen Elefanten beschreiben sollen, ergeht es der Linken mit China. Während der eine den Rüssel berührt, und den Elefanten als langen Schlauch beschreibt, hat der nächste ein Ohr in der Hand und erkennt darin einen Fächer und so weiter. Die Positionen in der Partei zu China passen mit ihren verschiedenen Blickwinkeln zu dieser Metapher.
Nach Beginn der Proteste in Hongkong haben sich Landesverbände der parteinahen Jugendorganisation linksjugend ['solid] schon frühzeitig mit den Protestierenden solidarisiert, unter anderem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Vor dem EU-China-Gipfel im September 2020, der nicht wie geplant in Leipzig, sondern virtuell stattfand, hatte sich ein linkes Bündnis gegen den Gipfel gegründet, das vom Landesverband der LINKEN in Sachsen und ihrem Jugendverband aktiv unterstützt wurde. Kritisiert wurden in dem Aufruf Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung von politischer Opposition und Minderheiten wie den Uiguren, mangelnde Pressefreiheit und das Einparteiensystem. China wurde kurzum als autoritärer kapitalistischer und imperialistischer Staat gebrandmarkt – eine radikale Kritik, die so bisher kaum aus der Partei zu vernehmen war.
Parallel zur Debatte um den Gipfel in Deutschland wurden auf der internationalen Bühne die Töne des damaligen US-Präsidenten Donald Trump gegenüber China aggressiver. Die neue «Kalter-Krieg»-Rhetorik ließ nicht nur bei Linken die Alarmglocken schrillen und machte es notwendig, eine andere Perspektive in der Debatte einzunehmen. In dieser Stimmungslage griffen unter anderen der Ehrenvorsitzende Hans Modrow, Wulf Gallert, Vizepräsident des Landestages von Sachsen-Anhalt, und die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen mit Zeitungsbeiträgen in den Diskurs ein. Modrow etwa zeigte auf, wie die Pandemie die Systemfrage sichtbar macht. In Europa bekam man die Folgen jahrzehntelanger Einsparungen im Gesundheitssystem zu spüren, während es China gelungen war, binnen kürzester Zeit Krankenhäuser zu errichten und die Produktion umzustellen, so dass Millionen Schutzmasken hergestellt und auch außerhalb von China solidarisch verteilt werden konnten. Doch statt Anerkennung habe China Stigmatisierung erfahren, so Modrow.
Die Kritik daran sowie die Bewunderung für Chinas Umgang mit der Krise wertete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sogleich als Solidaritätsadresse eines Ewiggestrigen an den einstigen sozialistischen Bruderstaat aus. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland unterstellte sogar eine «autoritäre Sehnsucht des Ost-Linken Hans Modrow nach Ländern, die noch ein Politbüro haben». Doch wer Modrow in die Schublade des angeblich in der Vergangenheit steckengebliebenen SED-Funktionärs stecken will, kennt ihn schlecht. Als letzter Ministerpräsident der DDR hat er deren Untergang an vorderster Stelle miterlebt und in den Folgejahren die Gründe dafür kritisch reflektiert. China hat er seit 1959 viele Male besucht. Bei seinen Begegnungen mit Vertreter:innen der Kommunistischen Partei konnte er sich ein umfassendes Bild ihrer Sichtweise auf ihr System machen, das auch aus chinesischer Perspektive nicht schablonenhaft, sondern vielschichtig und differenziert ist. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen betrachtet Modrow China als sozialistischen Staat unter Berücksichtigung vieler Abwägungen und in Anbetracht der Etappen der spezifisch chinesischen Entwicklung, wie unter anderem in seinem Buch «In historischer Mission» deutlich wird.
Die Frage, ob China nun ein sozialistischer oder kapitalistischer Staat ist, führt nach Ansicht von Jan Turowski meist in eine Sackgasse. Vielmehr ist ein reflektierter Blick auf das chinesische System notwendig, als Ergänzung zu den eigenen Analysen. Schon vor der Pandemie stellte DIE LINKE in ihrem Parteiprogramm die Systemfrage. Doch wurden noch keine eindeutigen Antworten darauf gefunden, wie das geänderte System und vor allem der Weg dahin aussehen sollten. Wie viel Steuerung ist für eine ökonomische Entwicklung notwendig? Wie viel staatlicher Interventionismus ist für eine gerechte Verteilung von Ressourcen angemessen, ohne Rechte des Individuums zu stark zu beschneiden? Hier tritt dann eine der zentralen Fragen der LINKEN zutage, die auch Hans Modrow in seinem Beitrag stellt: Wie viele Einschränkungen in Grundrechte und individuelle Freiheitsrechte wären durch die Betonung der Gemeininteressen dann aber doch gerechtfertigt?
Wulf Gallert hingegen betont, dass bei aller wohlwollenden und neugierigen Betrachtung Chinas die Kritik an mangelnder Demokratie und Menschenrechtsfragen nicht ausbleiben dürfe, denn sie gehöre zu einer Diskussion um linke Werte. Er verweist auf den Einsatz der Linken für Grund- und Freiheitsrechte und spricht damit zentrale Punkte der linken DNA an: das Auflehnen gegen autoritäre staatliche Strukturen, den Kampf für Demokratie, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung. Damit verortet sich Gallert zwischen der Position Hans Modrow und der pauschalen Ablehnung Chinas, wie sie etwa im Aufruf aus Sachsen deutlich wurde.
Demokratie und Mitbestimmung sind gemeinsame linke Grundwerte, die jedoch in der Abwägung im politischen Prozess und bei politischen Forderungen mitunter unterschiedlich gewichtet werden. Gerade die durch die Wende 1989 sozialisierten frühen Mitglieder der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zeigen in ihrer Positionierung oft eine Betonung auf Demokratie und Mitbestimmung als zentrale Leitlinien politischer Praxis. Aufgrund ihrer intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit der DDR haben sie sich maßgeblich für basisdemokratische Strukturen in der eigenen Partei eingesetzt. Ähnliches lässt sich bei ehemaligen Mitgliedern der Piratenpartei beobachten, die den Weg in DIE LINKE gefunden haben, oder bei Menschen, die in der Antifa-Bewegung politisch sozialisiert wurden.
Der ehemalige außenpolitische Sprecher der Linksfraktion in Bundestag, Stefan Liebich, geht in Bezug auf China regelmäßig auf die Menschenrechtsverletzungen ein und thematisiert die Lage in Hongkong. Innerhalb und außerhalb der Partei musste der dem Reformer:innen-Lager zugerechnete Liebich sich deshalb immer wieder vorwerfen lassen, seine Betonung von Menschenrechten, Meinungs- und Pressefreiheit et cetera dienten lediglich dazu, die Partei regierungsfähig machen zu wollen. Doch für eine progressive linke Partei sollte es in außenpolitischen Fragen eigentlich selbstverständlich sein, sich für diese Werte einzusetzen – ganz unabhängig von der Frage einer möglichen Regierungsbeteiligung.
Eine ganz andere Position nimmt dagegen Sevim Dagdelen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss der Linksfraktion im Bundestag, ein. Sie fokussierte auf das China-Bashing der USA, an dem sich verstärkt auch die Europäische Union beteilige. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland attestierte ihr daraufhin einen «pathologischen Antiamerikanismus». Nun ist das Abarbeiten an den USA und ihrem imperialistischen Gebaren in der Welt durchaus Teil der linken Tradition. Doch angesichts der Gefahr eines neuen Kalten Krieges schien eine Zurückweisung der drastischen Anti-China-Rhetorik der Trump-Administration dringend geboten. Wer Dagdelen dagegen pauschal «Antiamerikanismus» unterstellt, verhindert die ergebnisoffene Debatte zur China-Politik des Westens. Und es gibt einen weiteren Aspekt, auf den Dagdelen verweist: Die koloniale Vergangenheit des Westens im Umgang mit China, in der auch Deutschland eine unrühmliche Rolle einnahm, die bis heute zu wenig reflektiert wird.
Was alle drei Beiträge explizit betonen, ist die Tatsache, dass es China in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, mehr als 600 Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Der linke Traum von einer Welt ohne Hunger, in der alle sozial abgesichert sind, scheint sich in China schrittweise zu verwirklichen. Wohingegen andere Stimmen aus der Partei, vor allem aus dem gewerkschaftlich geprägten Teil, die Situation der Arbeiter:innen betonen, die zwar nicht mehr bitterarm seien, aber noch immer ausgebeutet würden. Das ist ein legitimer Kritikpunkt, denn im kürzlich unterzeichneten Investitionsabkommen zwischen der EU und China hat zwar der Begriff Nachhaltigkeit einen Platz gefunden, die Normen der internationalen Arbeitsorganisation ILO jedoch nicht.
Das ist auch ein Aspekt, den der Europaabgeordnete Helmut Scholz kritisiert. Zu dessen Arbeitsschwerpunkten gehören neben Außenwirtschaft und Handelsbeziehungen auch die Beziehungen der Europäischen Union zu China. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Tagung «ChinAmerika – und die EU?», die Scholz im Herbst 2020 gemeinsam mit Kolleg:innen der SPD im Europaparlament organisiert hatte. Das in Teilen ungeklärte Verhältnis der Linken zur Europäischen Union führt jedoch leider dazu, dass sich außer Helmut Scholz nur wenige andere auf dieser Ebene mit den internationale Beziehungen Europas intensiver auseinandersetzen. Dabei könnte die Partei ihm durchaus öfter zuhören, denn auch wenn Deutschland innerhalb der EU eine starke Stimme ist, wird das zukünftige Verhältnis zu China am Ende auf europäischer Ebene entschieden.
Im Rahmen der parteiinternen China-Debatte hat die Internationale Kommission dem Parteivorstand im Sommer 2020 ein Positionspapier zum Umgang mit China vorgelegt. Verabschiedet wurde es allerdings nicht, zu weit lagen die Positionen im Vorstand auseinander. Beim Ringen um schwierige Fragen täte die Partei gut daran, diese nicht in Kampfabstimmungen entscheiden zu wollen. Immerhin sind ein paar Punkte aus dem Papier parteiübergreifend Konsens: die Betonung des Multilateralismus und des Weges der Kooperation, die Positionierung gegen Konfrontation und Kriegsrhetorik sowie die Einsicht, dass es auf komplexe Frage keine einfachen Antworten gibt. Die innerparteilichen Debatten um das Verhältnis von Freiheit und sozialer Sicherheit, um die Bedeutung des Individuums und des Kollektivs werden gerade in der China-Debatte sichtbar, ebenso ungeklärte außenpolitische Fragen. Wie viel Kritik an Regierungen und Unterstützung für oppositionelle Bewegungen sind erlaubt? Ab wann ist es Einmischung in innere Angelegenheiten? Wie können wir unsere doppelten Standards ablegen? Und wie können wir Kritik üben und dennoch den Weg des Dialogs beschreiten?
Im Jahr 2021 steht die Partei DIE LINKE vor einer entscheidenden Bundestagswahl. Obwohl die Zeit der Umbrüche mit ihren sichtbar werdenden Systemfehlern ideal für die Mobilisierung linker Wähler:innen sein sollte, stagnieren die Umfragewerte. Zu allem Überfluss gibt es eine mediale Debatte über die Milieus, die die Partei bedienen müsste und ihre Ausrichtung. Neben dem Verhältnis zu China muss die Partei also auch ihr Verhältnis zu sich selbst klären. Fragen die mitunter sehr weh tun können, weil sie die (jeweilige) linke Identität hinterfragen. Hier besteht die Gefahr, dass im Diskurs innerlinke Fragen auf die Auseinandersetzung mit China übertragen werden, und China zur Projektionsfläche wird.
Doch eines hat die Partei mit ihren stetigen innerparteilichen Auseinandersetzungen seit ihrer Gründung 2007 gelernt: nur als pluralistische Partei ist sie stark, auch wenn das immer wieder neue Aushandlungsprozesse bedeutet. Für das Verhältnis der LINKEN zu China heißt das, bereit zu sein, mit verschiedenen Brillen auf China zu schauen und diese Brillen für eine neue Perspektive auch einmal übereinander zu legen.