Analyse | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Ja zur Vergesellschaftung Es gibt viel zu tun – packen wir´s an.

Der Erfolg von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist erst der Anfang.

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Autor*innen

Stefan Thimmel, Armin Kuhn,

Eine Analyse von Armin Kuhn und Stefan Thimmel, Referenten für Wohnungs-, Mieten- und Stadtpolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung

DER SPIEGEL ruft den «Sieg der Populisten» aus, die FAZ fragt: «Ist das schon Sozialismus?», laut CICERO wurde eine «Illusion» vermittelt und für die BZ wurde «ihre sorgfältig und langfristig aufgezogene Kampagne (im Original: wurde) von der Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken gesteuert und finanziell unterstützt». Da reiben sich doch nach dem «Volksentscheid über einen Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Senat zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungs-
unternehmen» nicht wenige Medienvertreter:innen die Augen und bemühen Textbausteine aus ihrer Mottenkiste. Denn ein so eindeutiges Ergebnis hatten die wenigsten erwartet.

Mehrheit stimmt für Vergesellschaftung

Mehr als eine Million Berliner:innen (1.034.079), 56,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, haben für die Vergesellschaftung gestimmt. Damit hatten die Befürworter:innen mehr als 17 Prozentpunkte Vorsprung auf den ablehnenden Teil der Bevölkerung (715.214 bzw. 39 Prozent Nein-Stimmen). Und es lohnt sich, noch genauer hinzuschauen. Das erwartete Rekordergebnis hat die Kampagne «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» in Friedrichshain-Kreuzberg mit fast drei Viertel Ja-Stimmen erzielt – in den zwei Nord-Neuköllner Wahlkreisen sind es sogar gut 80 Prozent. Doch auch fast überall außerhalb des durch die SPD-Kampagne sprichwörtlich gewordenen S-Bahnrings gab es Mehrheiten. In zehn von zwölf Berliner Bezirken war der Volksentscheid erfolgreich; so auch mit 55,8 Prozent in Marzahn-Hellersdorf, mit 51,9 Prozent in Spandau und mit 60,8 Prozent in Pankow. Nur im Bezirk Reinickendorf und im Bezirk Steglitz-Zehlendorf mit den Villenvierteln im Grunewald und im Ortsteil Dahlem hatten die Vergesellschaftungs-Gegner:innen eine Mehrheit.

Erfolg trotz Gegenkampagnen

Dabei hatten die meisten Parteien und die immobilienwirtschaftlichen Lobbyverbände und –akteure im Wahlkampf alles in die Waagschale geworfen, um diesen Erfolg zu verhindern: mit knalligen Kampagnen wie das «Bauen statt Klauen» der FDP; mit Tricks wie den CDU-Wahlkampf-
flyern, die der offiziellen Senatsempfehlung zum Volksentscheid täuschend ähnlich sahen oder Prophezeiungen, auch Genossenschaftsmitglieder würden enteignet; mit Umdeutungen wie von der grünen Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, die das Volksbegehren instrumentalisieren wollte, um mit den betroffenen und weiteren Wohnungsunternehmen einen «Mietenschutzschirm» auszuhandeln, bis hin zu unverhohlenen Drohungen der SPD-Spitzenkandidatin und voraussichtlich neuen Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey, die von «roten Linien» für zukünftige Koalitionen sprach. Enteignungen seien mit ihr nicht zu machen.

Doch die überwältigende Zustimmung zur Forderung von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen», die sich schon in rund 360.000 gesammelten Unterschriften für das Volksbegehren gezeigt hatte, ließ sich durch solche Manöver nicht beeinträchtigen. Letztlich hat das Volksbegehren genauso viele Menschen hinter sich versammelt wie die drei bisherigen und vielleicht auch zukünftigen Berliner Regierungsparteien SPD, Grüne und LINKE zusammen an Wähler:innenstimmen erreichen konnten. Denn im Erfolg der Kampagne kulminiert die Frustration und der Protest der Berliner:innen nach über zehn Jahren Wohnungskrise und explodierender Mieten. Unzählige Mieter:innen sind in dieser Zeit selbst zum Spielball der Profitinteressen eines Teils der Wohnungswirtschaft geworden, oder haben Angst davor, dass die nächste Mieterhöhung, die Benachrichtigung über den Eigentümerwechsel oder die Eigenbedarfskündigung kurz bevorsteht. Der laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. April 2021 an der fehlenden Gesetzgebungskompetenz gescheiterte Berliner Mietendeckel, der zumindest für einige Monate Entlastung gebracht hatte, hat die Unterstützung für das Volksbegehren nur noch gesteigert. Die Möglichkeit, den Wohnungskonzernen an der Wahlurne die Grenzen aufzuzeigen, hat eine große Mehrheit dankbar angenommen.

Erfahrungen vieler Initiativen als Basis der Kampagne

Gewonnen hat eine parteipolitisch unabhängige Kampagne, die aus Initiativen und Kämpfen von Mieter:innen hervorgegangen ist, und die von Beginn an stark auf aktives Organizing und Selbstorganisierung gesetzt hat. Die Kampagne «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ist auch ein Ergebnis der vielen Abwehrkämpfe, die Mieter:innen, Hausgemeinschaften und Initiativen in den vergangenen Jahren geführt haben. So beschreibt das auch Rouzbeh Taheri, einer der Sprecher:innen der Kampagne in einem Artikel, der schon im Mai 2018 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Standpunkt erschienen ist.

Einer der wesentlichen Ausgangspunkte war dabei die Situation in den 2004 vom Land Berlin unter einem rot-roten Senat privatisierten Beständen der ehemaligen GSW am Kottbusser Tor in Kreuzberg, die heute der Deutsche Wohnen SE gehören. Spätestens ab 2012 organisierte hier die Mieter:inneninitiative Kotti & Co. einen politischen Widerstand, ausgehend von Protestaktionen gegen Mieterhöhungen über Forderungen nach Rekommunalisierung und den Mietenvolksentscheid im Jahr 2015, der u.a. zum Wohnraumversorgungsgesetz für Berlin führte. Ein weiterer Meilenstein war die Gründung einer Vernetzung von etwa 20 betroffenen Initiativen im «Mieter:innenprotest Deutsche Wohnen». Die Erfahrungen und das Wissen unzähliger Initiativen und Kämpfe sind in die Kampagne eingeflossen. Entscheidend war die gemeinsame Entscheidung, möglichst viele Mieter:innen und Unterstützer:innen aktiv und in dezentralen Strukturen – in Hausgemeinschaften, Kiezteams oder AGs, später in Sammelgemeinschaften oder Telefon- oder Haustür-Wahlkampfgruppen – einzubinden. Nur durch die konsequente aktivierende Ansprache und die Offenheit für Mitstreiter:innen unabhängig von ihrem Hintergrund oder ihren politischen Erfahrungen, wurde die breite Unterstützung durch zuletzt über 2.000 Aktive möglich und verlässlich; ein Garant des aktuellen Erfolgs mit einer Verankerung in vielen Berliner Bezirken und nicht allein in Friedrichshain-Kreuzberg.

Als die Kampagne «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» ins Leben gerufen wurde, waren nicht alle Wohnungsunternehmen bekannt, die im Besitz von 3.000 Wohnungen oder mehr waren. Hier für mehr Transparenz zu sorgen war von Anfang an Ziel des Projektes «Wem gehört die Stadt?» der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Projekt deckt die Geschäftsmodelle und Praktiken der Wohnungsunternehmen auf und unterstützt Mieter:innen und Initiativen bei der Suche nach Ihrem Vermieter und der Antwort auf die Frage, wie sich der finanzialisierte Wohnungsmarkt vor der eigenen Haustür auswirkt. Durch ausgiebige Datenanalysen und Recherchen konnten im Rahmen dieses Projekts seit 2018 u.a. Immobilienkonzerne und Eigentümer identifiziert werden, die bis dato nicht auf dem Zettel von «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» standen. Aktuell kann von etwa 12 bis 14 Konzernen und Unternehmen mit insgesamt etwa 250.000 Wohnungen ausgegangen werden.

Geschäftsmodelle und Praktiken der Wohnungsunternehmen

Die Liste der Kritikpunkte am Verhalten und am Geschäftsmodell dieser Unternehmen ist lang: vernachlässigte Instandsetzungen, mit alljährlich zum Herbst wiederkehrenden Ausfällen von Heizungen oder Warmwasser; intransparente, überhöhte  Betriebskosten, auch als «zweite Miete» bezeichnet; die mangelnde Erreichbarkeit von Hausverwaltungen und Service; unkorrekte Mieterhöhungen - tausendfach abgeschickt sind die wenigen erfolgreichen Klagen einzelner Mieter:innen verschmerzbar; teure Neuvermietungen, oft unter Umgehung der Mietpreisbremse, z.B. durch die Vermietung möblierter Wohnungen; teure, oft unsinnige Modernisierungen, die die Mieten dauerhaft, auch nach Abbezahlung der umgelegten Kosten, erhöhen; Verdrängung von Mieter:innen durch schikanöse Baumaßnahmen und dauerhafte, verdeckte Leerstände; vielfache Aufteilungen und Umwandlungen in teure Eigentumswohnungen. Hinzu kommt eine immer stärkere Marktmacht, die politischen Einfluss mit sich bringt, erst recht nach der geplanten Fusion von Vonovia und Deutsche Wohnen, den beiden größten Wohnungskonzernen in Deutschland.

Über eine Million Berliner:innen, mindestens, haben verstanden, dass sich mit dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung der Wohnungen großer Wohnungskonzerne ein historisches Fenster geöffnet hat, um Schlagwörter wie «Die Stadt gehört uns», «Recht auf Stadt» oder «Mietenwahnsinn stoppen» zu einer realen Praxis zu machen und Investoren, deren einziges Geschäftsmodell die Spekulation mit Boden und Wohnraum ist, die rote Karte zu zeigen. «Ich würde eher sagen, eine Abschreckung von Investoren ist genau das, was wir jetzt brauchen. (…) Wenn manche Investoren sich durch die Enteignungsdebatte die Frage stellen würden, ob sie noch in Berlin investieren sollen, wäre das ein positiver Nebeneffekt und würde langfristig wohl dazu beitragen, dass die Immobilien- und Bodenpreise wieder sinken», so der Stadtforscher Prof. Dr. Sebastian Schipper in Faz.net am 24.04.2019.

Etwa 240.000 von knapp einer Million profitorientiert bewirtschafteten Wohnungen in Berlin - eine genaue Auflistung findet sich in der im November 2020 erschienenen Studie «Wem gehört die Stadt? - Analyse der Eigentümergruppen und ihrer Geschäftspraktiken auf dem Berliner Immobilienmarkt» - würden der Spekulation mit Wohnraum entzogen und durch Vergesellschaftung in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt. Der kommunale Wohnungsbestand würde dadurch schlagartig fast verdoppelt. Eine nicht profitorientierte, unter demokratischer Kontrolle und mit funktionierenden Partizipationsmechanismen ausgestattete gemeinwohlorientierte Anstalt würde in der Folge auch indirekt für alle anderen Mietwohnungen regulierend wirken. Durch den Einfluss auf den Mietspiegel könnten die Mieten, die in Berlin allein im Zeitraum zwischen 2013 und 2018 bei den Bestandsmieten um 19 Prozent und bei den Angebotsmieten sogar um 140 Prozent gestiegen sind, deutlich sinken. Und nicht zuletzt für Rentner:innen, die zur Miete wohnen, wäre eine solche Reduzierung oder zumindest ein Stopp der explodierenden Mieterhöhungen bei stagnierenden oder sinkenden Renten deutlich wirksamer als jede weitere Förderung für den Kauf von Eigentumswohnungen, der allzu oft als»beste Altersvorsorge» gerechtfertigt wird.

Die Argumente der Gegner:innen

Während sich also die Hoffnungen der Mieter:innenbewegung und der Befürworter:innen des Volksentscheids darauf richten, Spekulation mit Wohnraum zu erschweren und mit dann vergesellschafteten Wohnungen die soziale Wohnraumversorgung zu verbessern, finden sich im politischen Diskurs im Wesentlichen zwei Argumentationslinien gegen Enteignung und Vergesellschaftung: Erstens, die Vergesellschaftung schaffe keine neuen Wohnungen – «Bauen, bauen, bauen» ist hier die alleinige Devise. Das eine tun, um damit ein Viertel der Wohnungen in Berlin dem spekulativen Markt zu entziehen und das andere nicht lassen, um einen gemeinwohlorientierten, genossenschaftlichen und leistbaren privaten Neubau zu fördern, wäre eine gesellschaftlich verantwortliche und zukunftsfähige Strategie. Unstrittig ist auch der Mangel an bezahlbarem Wohnraum: Berlin fehlen aktuell mindestens 300.000 Wohnungen mit günstigen Mietpreisen bis zu 6 Euro pro Quadratmeter. Davon müssten ca. 100.000 Neubauwohnungen bis 2030 müssen gebaut werden.

Das zweite Gegenargument: Die Vergesellschaftung sei zu teuer. Hier werden dann Entschädigungsmodelle zum Marktwert von bis zu 39 Milliarden Euro allein für die vom Berliner Senat gelisteten 10 betroffenen Wohnungsunternehmen genannt. In einem Fachgespräch der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 07. September 2021 mit zahlreichen renommierten Jurist:innen und Ökonom:innen wurde deutlich, dass Vergesellschaftung möglich und verfassungsrechtlich zulässig ist und das auch zu einer Entschädigung, die weit unter Marktwert liegt und haushaltsneutral finanzierbar ist. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie von Andrej Holm und Sebastian Gerhardt. Eine Vergesellschaftung der großen profitorientierten Wohnungsbestände steht damit nicht notwendigerweise in Konkurrenz zu anderen notwendigen Ausgaben wie Klimaschutz im Gebäudebereich, Verkehrswende, Schulbauoffensive etc.

Das Ergebnis ist politisch verbindlich

Die roten Linien, die im Vorfeld des Volksentscheids gezogen wurden, sind mit der überwältigenden Zustimmung zur Enteignung in den gelb-lila Farben der Kampagne übermalt worden. Die jetzt vorliegende Aufforderung ist zwar nicht rechtlich, aber politisch verbindlich. Der neue gewählte Berliner Senat muss sich damit auseinandersetzen. Und dabei herauskommen muss ein Gesetzesentwurf, der einen konkreten, gangbaren Weg zur Vergesellschaftung und zur Demokratisierung der großen profitorientierten Wohnungsbestände in Berlin aufzeigt.

Die Wohnungsbaugenossenschaften mit ihren ca. 220.000 Wohnungen in Berlin haben dazu nie gehört und werden auch niemals unter ein Vergesellschaftungsgesetz fallen. Gemeinwohlorientiert und nicht profitorientiert, wie sie per se sind, können Wohnungsbaugenossenschaften nicht enteignet werden mit dem Ziel, sie zu gemeinwohlorientierten, nicht profitorientierten Gesellschaften zu machen. Das wäre absurd. Das wissen natürlich auch die Parteien und Verbände, die nah dran sind an der Immobilienlobby und ihren üppigen Spenden. Warum einige Vertreter:innen von Genossenschaften allerdings dennoch die Mär von ihrer drohenden Enteignung weiterhin schüren, ist offensichtlich: Demokratisierungsbedarf gibt es auch hier. Der breiten und offen geführten Diskussion darüber im Zuge der Ausformulierung eines Gesetzestextes werden auch sie sich nicht entziehen können. Schon gibt es Initiativen, die Druck innerhalb der Wohnungsbaugenossenschaften machen und genau eine solche Diskussion fordern.

Inspiration für andere Kampagnen

Druck ist auch das Stichwort der Stunde aus der Dynamik des Erfolgs heraus: Enteignungsforderungen in weiteren Bundesländern (wie z.B. Vonovia und Co. enteignen), Share-Deals, ein qualifiziertes Vorkaufsrecht, eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit, eine andere Bodenpolitik (Bodenpreisdeckel oder Baulandspekulanten enteignen), Konzepte für eine sozial gerechte energetische Sanierung, Bundesweiter Mietendeckel etc. stehen weiterhin auf der Agenda und weitere Kampagnen sind vonnöten und stehen schon in den Startlöchern. Der überwältigende Erfolg von  «Deutsche Wohnen & Co. enteignen» in der Nacht des 26. September 2021 wird all diesen Kämpfen Inspiration sein.