Für das Jahr 2021 sind zahlreiche Veranstaltungen, Projekte und Publikationen geplant, die von «1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland» geprägt sind. Das historische Ereignis, auf das sich diese Termination auch quellentechnisch bezieht, ist ein Dekret Konstantins des Großen aus dem Jahr 321, in dem Jüdinnen und Juden erwähnt werden, die damals in Köln lebten. Da es sich um den frühestmöglichen Nachweis jüdischen Lebens auf dem Territorium handelt, das heute Deutschland genannt wird, erscheint dieser Bezugspunkt legitim.[1] So erwähnt ihn auch Jost Hermand in seinem Vorwort. Das Buch verfolgt die Intention, elf mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten vorzustellen, die der politischen Linken des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso wie der jüdischen Traditionsgemeinschaft angehörten.
Es geht um Moses Hess, den frühen Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Eduard Bernstein, Gustav Landauer, Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, Arthur Holitscher, Ernst Toller, Ruth Fischer und Otto Heller. Weshalb sich Hermand ausgerechnet für diese neun Männer und zwei Frauen entschieden hat, bleibt offen. Sicherlich sind sie in der Masse bekannter als beispielsweise Olga Benario-Prestes, Werner Scholem oder Rosi Wolfstein, doch hätten diese Personen ebenso wie weitere genauso vorgestellt werden können. Dies hätte freilich den Umfang erheblich erweitert.
Moses Hess, den Hermand als den «Nestor des Sozialismus in Deutschland» (S. 21) bezeichnet, kennen heute deutlich weniger Menschen als Karl Marx, der erst durch Hess mit dem Sozialismus in Berührung kam. Hess war es, der Marx und Friedrich Engels als Redakteure zur «Rheinischen Zeitung» holte. An der Gründung dieses Blattes war Hess im Sommer 1841 in Köln selbst beteiligt. Um zu Beginn nicht sofort der Zensurbehörde zum Opfer zu fallen, wurde der Zeitung anfangs ein linksliberaler Anstrich gegeben, ehe sie auf den angestrebten sozialistischen Kurs einschwenken konnte. Die Nationalstaatswerdungen des 19. Jahrhunderts, die mit einem ausgeprägten Nationalismus einhergingen, nährten in ihm aus Furcht vor gesteigertem Antisemitismus den Wunsch nach einer eigenen jüdischen Nationalität, «die er angesichts der ins Internationalistische tendierenden kommunistischen Bewegung lange Zeit als nebensächlich erachtet hatte» (S. 31). Bald war sein Ziel – im Dienste des Zionismus – die Schaffung eines jüdischen Staates auf sozialdemokratischer Basis. Jedoch: «In dem Maße wie die Leuchtkraft des Namens <Karl Marx> ständig zunahm, verlosch der Name <Moses Hess> schnell im Dunkel der Vergangenheit» (S. 34).
Marx wiederum war weder Zionist, noch hegte er eine ausgeprägte jüdische Identität. Anfangs setzte er sich gegen antisemitische Äußerungen wie beispielsweise jene eines Karl Hermes zur Wehr, doch in der zweiten Hälfte seines Lebens, die Hermand nicht mehr einbezieht, gab es durchaus auch kritische Äußerungen hinsichtlich der Religion seiner Vorfahren.[2] Als es infolge der Märzrevolution von 1848 zu sogenannten Kommunistenprozessen kam, zog Marx im Mai 1849 von Köln, wo er zwischenzeitlich die «Neue Rheinische Zeitung» herausgegeben hatte, zunächst nach Paris und später nach London, um sein Leben im Exil letztlich als Staatenloser zu fristen.
Das Beispiel Rosa Luxemburgs zeigt den Behauptungskampf einer eigensinnigen Frau mit standhaften Überzeugungen, die sowohl jüdische als auch polnische Wurzeln hatte und als Sozialistin stets von vielen Seiten angefeindet wurde, insbesondere, als sie sich in die <Männerdomäne> der Politik einmischte. «Neben Clara Zetkin erreichte [sie] dabei den höchsten Bekanntheitsgrad» (S. 113) aller Sozialistinnen ihrer Zeit. Bei der Auswahl der Literatur fällt auf, dass Hermand klassische Luxemburg-Biographien wie jene von Paul Frölich übergeht, stattdessen aber auf eher entlegene und inhaltlich schwächere Ausführungen wie jene von Helmut Hirsch zurückgreift. Auch in den Beiträgen über Kurt Eisner und Gustav Landauer fehlen Verweise auf jüngere Literatur, stattdessen wird häufig aus zeitgenössischen Darstellungen aus den 1920er Jahren zitiert. Das alles tut dem Lesefluss des insgesamt sehr verständlich geschriebenen Textes aber keinen Abbruch.
Zuletzt sei umfassender auf das Beispiel Ruth Fischer eingegangen. Zu jener zweiten Frau an der Spitze der Kommunistischen Partei Deutschlands (nach Rosa Luxemburg) hat vor wenigen Jahren Mario Keßler eine umfangreiche Biographie verfasst, die er kürzlich noch um eine englischsprachige Darstellung zu ihrem langjährigen Partner Arkadij Maslow erweitert hat.[3] Trotz allem gelingt es Hermand, die kompakte Biographie der streitbaren Politikerin auf ein ansprechendes Maß zu kürzen. Hermand zählt insbesondere Keßlers Fischer-Biographie, aber auch die Arbeiten von Peter Lübbe, Sabine Hering und Kurt Schilde sowie seine eigenen Untersuchungen zu den «differenziertere[n] Analysen», fern einer altkommunistischen damnatio memoriae oder einer westlich geprägten Apologetik aufgrund des überzeugten Antikommunismus, den Fischer für einige Jahre verfocht.[4]
Fischers jüdische Wurzeln lagen in ihrer väterlichen Familie, den Vorfahren des Philosophiestudenten Rudolf Eisler, wohingegen ihre Mutter Ida Maria Fischer keine Jüdin war. Nach halachischen Gesetzen war Ruth Fischer demnach ebenfalls keine Jüdin, in den Augen der Nazis sehr wohl. Doch auch in der Linken hatten sich Fischer und Maslow eine Unmenge an Gegnern geschaffen.
Nachdem ihnen deshalb 1925 auf Stalins Geheiß die Parteiführung der KPD wieder entzogen wurde, wanderten sie durch leninistische und trotzkistische Zwischengruppen, ehe sie 1933 im Zuge der Machübergabe an Hitler das Land verlassen mussten. Im französischen Exil schlossen sie sich als Minderheit nicht den Volksfrontbestrebungen an, galten den Kommunisten ob ihrer Nähe zu Trotzki als beinahe ebenso fürchterlich wie die Nazis selbst. Im August 1936 wurden beide in Abwesenheit beim «Prozess der Sechzehn» in Moskau zum Tode verurteilt. Wie Trotzki im August 1940 im mexikanischen Exil wurde Maslow im November 1941 in Havanna vom NKWD ermordet. Ruth Fischer entging diesem Schicksal in den USA. Dort wandte sie sich vom Kommunismus ab und diente dem FBI als Informantin, die ehemalige Genossinnen und Genossen der amerikanischen Kommunistenverfolgung aussetzte. Selbst ihre beiden Brüder Gerhart und Hanns Eisler sowie Bertolt Brecht waren nicht vor ihrer antistalinistischen Polemik gefeit. Erst als Fischer ab 1953 selbst ins Visier der Behörden gelangte, änderte sich ihre Einstellung langsam. 1955 zog sie nach Paris und verbrachte dort ihren Lebensabend, ehe sie 1961 verstarb. Zuletzt hatte sie sich in der Tauwetterperiode unter Chruschtschow wieder dem Kommunismus angenähert.
In seinem Fazit zum Kapitel über Ruth Fischer erwähnt Hermand das Thema Judentum nicht mehr. Selbst als «Non-Jewish Jew» im Sinne Isaac Deutschers könnte man sie nicht bezeichnen, weshalb es doch überrascht, dass Fischer es überhaupt in die Liste der elf Porträtierten geschafft hat. Denn, so Hermand in seinen Anmerkungen, es ging dem Autor «vornehmlich um die spezifisch jüdische Komponente in den Anschauungen» (S. 200), wobei diese gelegentlich eben etwas zu kurz kommt. Ein Fazit, das eine Synthese der elf Porträts herstellt, wäre wünschenswert gewesen. Doch insgesamt bildet das Buch einen schnellen Zugang zur Thematik, ist dabei anregend geschrieben und mit zentraler Literatur für weitergehende Studien versehen.
[1] Es wurde auch Kritik an dieser zeitlichen Festsetzung geäußert, da zum einen für mehrere Jahrhunderte des Frühmittelalters im noch nicht alphabetisierten Germanien jede Quelle für jüdisches Leben fehlt und weil nicht erst durch antijüdische Pogrome in der Frühen Neuzeit und letztlich die Shoa im 20. Jahrhundert unüberbrückbare Zäsuren geschaffen wurden, die jede Kontinuität eines christlich-jüdischen Miteinanders Lügen strafen. Hierzu: Y. Michal Bodemann: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland? Von der falschen Konstruktion einer Kontinuitätsgeschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2021), S. 105-112.
[2] Karl Marx: Die Judenfrage, Braunschweig 1843.
[3] Mario Keßler: A Political Biography of Arkadij Maslow. 1891-1941: Dissident Against His Will, Cham 2020; Ders.: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Wien/Köln/Weimar 2013.
[4] Sabine Hering/Kurt Schilde: Kampfname Ruth Fischer. Wandlungen einer deutschen Kommunistin, Frankfurt a. M. 1995; Jost Hermand: „Ewig diese Widersprüche!“ Elfriede Friedländers „Sexualethik des Kommunismus“, in: Wolfgang Emmerich et al. (Hrsg.): Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace, Bremen 2005, S. 201-213; Peter Lübbe: Einführung, in: Ruth Fischer und Arkadi Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, hrsg. von Peter Lübbe, München 1990, S. 1-48.
Jost Hermand: «Völker, hört die Signale!» Zum Bekennermut deutsch-jüdischer Sozialisten und Sozialistinnen vor 1933, Wien/Köln/Weimar 2020: Böhlau (223 S., 27,99 €).
Die Besprechung erschien im September 2021 in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Arbeit - Bewegung - Geschichte.