Interview | Israel - Westasien im Fokus «In Israel regiert eine rechte Regenbogenkoalition»

Markus Bickel, RLS-Büroleiter in Tel Aviv, über die ersten 100 Tage der neuen Regierung in Israel.

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Yair Lapid (links) und Naftali Bennett (rechts) Foto: picture alliance / REUTERS | POOL New

Markus Bickel, was hat Dich mit Blick auf die neue Regierung besonders überrascht?  

Die Tatsache, dass der Wahlgewinner Jair Lapid von der liberalen Zukunftspartei Jesh Atid darauf verzichtet hat, Premierminister zu werden – und das Amt Naftali Bennett von der rechten Jamina überließ. Das war der Schlüssel zum Zustandekommen dieses Regierungsbündnisses, das ja von ganz rechts außen bis zu den sozialdemokratischen Parteien Avoda und Meretz am linken Rand reicht. Obwohl Bennets Jamina nur sieben Mandate in der Knesset bekam und Jesh Atid 17, kann nun der kleinere der beiden wichtigsten Stützen des Achtparteienbündnisses bis August 2023 regieren. Dann erst wird der eigentliche Wahlsieger Lapid Regierungschef. Vorausgesetzt natürlich, dass die Koalition bis dahin hält.

Worin siehst Du die Besonderheiten dieser Regierung?

Ihre ideologische Bandbreite ist schon beachtlich – man könnte diese Koalition deshalb auch als rechte Regenbogenregierung bezeichnen. Meretz und Avoda vertreten die linke Mittelschicht des Landes und setzen sich zumindest auf dem Papier noch für ein Ende der Besatzung der Westbank und eine Zweistaatenlösung ein. Dem entgegen stehen am rechten Rand Parteien wie Jamina, Israel Beitenu und die Neue Hoffnung, die sich offensiv für einen Ausbau der Siedlungen einsetzen und gegebenenfalls auch Teile des Westjordanlands annektieren würden. Zwischen diesen Polen stehen Kahol Lavan und Jesh Atid, die das politische Zentrum der Regierung bilden – und jene Teile der jüdischen Wählerschaft vertreten, die nach zwölf Jahren von den zunehmend autoritären Zügen Benjamin Netanjahus und dessen Korruptionsaffären genug hatten. Last, but not least: Mit der Einbindung der arabisch-konservativen Ra’am-Partei in die neue Regierung haben ausgerechnet rechte jüdische Parteien eine politische Brücke gebaut hin zu den zwei Millionen palästinensischen Israelis. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun eine arabische Partei in einer Regierung vertreten.

Was sind die wichtigsten Ziele der neuen Regierung?

Zunächst einmal geht es um die Rückkehr zur Normalität. Man darf nicht vergessen, dass die letzten Netanjahu-Jahre völlig bestimmt waren davon, dass er sich mit allen Mitteln an der Macht halten wollte. Dabei schreckte er nicht vor Angriffen auf die Judikative und andere Säulen des demokratischen Systems zurück. Nach vier Wahlen in zwei Jahren steckte Israel in einer tiefen institutionellen Krise, sodass es der neuen Regierung nun vor allem darum geht, das Vertrauen der Bevölkerung in die rechtsstaatlichen Mechanismen des Landes zurückzugewinnen. Und in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen: Wenn es der Knesset gelingen sollte, im November das Budget für das kommende Haushaltsjahr zu verabschieden, wäre dafür ein wichtiger Meilenstein erreicht. Selbst das ist Netanjahu ja in den letzten beiden Jahren seiner Regierung nicht mehr gelungen.

Was hat sich in den 100 Tagen, in denen die neue Regierung im Amt ist, verändert? Wie ist die politische Stimmung im Land?  

Die starke Polarisierung, von der die Endphase der Netanjahu-Ära bestimmt war, nimmt langsam ab. Politische Entscheidungen werden wieder stärker entlang von sachlichen Kriterien getroffen, so nehmen das zumindest viele Menschen wahr, mit denen ich spreche. Das schlägt sich auch im Umgang mit der Corona-Pandemie nieder, deren Bekämpfung weiterhin ganz oben auf der Agenda der Regierung steht. Doch anders als unter Netanjahu, dessen Impfkampagne Anfang des Jahres zugleich auch eine Wahlkampfkampagne war, spielen wissenschaftliche, medizinische und wirtschaftliche Argumente nun die entscheidende Rolle bei der Einführung einzelner Maßnahmen.  

Zum ersten Mal ist mit Ra‘am eine arabische Partei Teil der Regierungskoalition. Mit ihrem Schwerpunkt auf ökonomische Verbesserungen kann sie kaum die arabisch-palästinensische Bevölkerung innerhalb Israels politisch vertreten. Wie wird das vor Ort diskutiert?

Ich glaube nicht, dass man von der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel als monolithischem Block sprechen kann. Das zeigen auch die Wahlergebnisse: Die Vereinigte Arabische Liste rund um die konservative Ra’am erhielt 176.000 Stimmen, die drei linken Parteien der Gemeinsamen Liste kamen auf 212.000. Welchem der beiden arabischen Lager die rund 200.000 arabisch-palästinensischen Wähler*innen zuneigen, die anders als noch 2020 diesen März nicht zur Wahl gingen, lässt sich nur schwer sagen. Auffallend ist auch, dass gut zwanzig Prozent der arabisch-palästinensischen Stimmen an jüdische Parteien gingen – und zwar nicht nur an die linken Meretz und Avoda: Die stärkste nichtarabische Partei unter arabischen Wähler*innen ist der konservative Likud. Und von den christlich-arabischen Wähler*innen stimmte jede*r dritte für jüdische Parteien, unter der drusischen Bevölkerung betrug der Stimmenanteil für Gemeinsame Liste und Vereinigte Arabische Liste sogar nur 16,8 Prozent. Weit über 80 Prozent der Drus*innen wählte jüdisch.

Welche Kompromisse müssen linke Kräfte wie Meretz als Teil der Regierung eingehen und was bedeutet das für das linke Spektrum des Landes?

Die Koalitionsvereinbarung sieht ausdrücklich vor, dass diese Regierung strittige Themen nicht angeht. Dazu zählt aus linker Sicht natürlich als erstes die Besatzung. Das heißt, dass Meretz-Abgeordnete und –Minister in den sauren Apfel beißen müssen, zwar persönlich ihre Sicht auf diese Dinge äußern zu können, politisch das Thema aber hintanstellen müssen. Weshalb sie sich dennoch für diese Koalition entschieden haben? Weil die Alternative ein rechtes Bündnis aus Kahanisten, ultraorthodoxen jüdischen und rechtsextremen Parteien wie den Religiösen Zionisten des Faschisten Bezalel Smotrich wäre.

Die Regierung will keine neuen Verhandlungen mit den Palästinenser*innen, sondern den Status quo der Besatzung managen. Linke Stimmen in Israel mahnen, dass ein Einfrieren der Situation zu einer Vertiefung der Besatzung führen würde. Wie ist das einzuschätzen?

Die Besatzung hält seit 1967 an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Lange vorbei sind leider auch die Zeiten, als die Oslo-Verträge und die Gipfeltreffen von Sharm al-Sheikh oder Camp David Hoffnung machten auf eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Ohne starke internationale Initiative wird sich daran in den kommenden Jahren nichts ändern, zumindest solange nicht, wie Bennett Premierminister ist. Was nach der für 2023 vorgesehen Rotation in der Regierungsspitze passieren wird, wenn Außenminister Lapid Ministerpräsident werden soll, lässt sich nur schwer vorhersehen. Möglicherweise sitzt die Regierung bis dahin so fest im Sattel, dass sie trotz Kritik von Rechtsaußen Verhandlungen zulässt.

Was verbirgt sich hinter dem Slogan «wirtschaftlicher Frieden» und warum greift ein solcher Ansatz mit Blick auf die Palästinensischen Gebiete zu kurz?  

Ziel dieser Politik ist es, die Besatzung «zu schrumpfen», ein Begriff, den Bennett von dem einflussreichen Autor Micah Goodman übernommen hat. Sie sieht vor, ökonomische Erleichterungen für die palästinensische Bevölkerung zu erreichen ohne ihnen demokratische Grundrechte zuzugestehen. Erste Schritte der neuen Regierung in diese Richtung waren die Erteilung von 15.000 Arbeitserlaubnissen an in Israel tätige Palästinenser*innen und ein Kredit von umgerechnet 133 Millionen Euro an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Die ökonomische und demographische Krise, die in der Westbank und im Gazastreifen herrschen, wird damit natürlich nicht gelöst, sondern lediglich Zeit gewonnen, um politische Gespräche mit der PA-Führung weiter aufzuschieben.

Welche Forderungen sollte die internationale Staatengemeinschaft mit Blick auf die neue israelische Regierung jetzt stellen?  

Wie in den Jahren unter Netanjahu sollten die Europäische Union und die künftige Bundesregierung auf die Umsetzung internationaler Vereinbarungen pochen – und auf die Einhaltung des Völkerrechts. Selbst wenn eine Zweistaatenlösung kaum noch realistisch erscheint, bedeutete eine Preisgabe dieses Ziels die politische Selbstaufgabe der internationalen Staatengemeinschaft – oder dessen, was von ihr ein Vierteljahrhundert nach der Ermordung Yitzhak Rabins mit Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt noch übriggeblieben ist. Angesagt wäre aber eigentlich eine radikale Überprüfung aller bisherigen Prämissen, die die Nahostdiplomatie seit dem Gipfel von Madrid 1991 bestimmten. Schließlich ist auch die arabische Welt nach den Aufständen gegen die Diktaturen in Ägypten, Syrien, Tunesien, Libyen und Jemen eine völlig andere als vor dreißig Jahren. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Arabischen Staaten, Bahrein, Marokko, Sudan mit Israel im vergangenen Jahr sind Ausdruck dieser Zäsur. Das haben weder die scheidende Bundesregierung noch die EU bislang gebührend zur Kenntnis genommen. 

Was fordern linke demokratische Kräfte in Israel für die Post-Netanjahu-Ära?

Da muss man unterscheiden zwischen außerparlamentarischen Kräften und jenen Parteien, die weiter auf einen Wandel durch Knesset und Regierung setzen. Während Meretz und Avoda ihren Eintritt in die jetzige Regenbogenkoalition damit rechtfertigen, so eine ultranationalistische Koalition verhindert zu haben, betrachten viele unserer Partner*innen aus der Zivilgesellschaft das als Ausverkauf linker Grundpositionen: Ende der Besatzung, Rücknahme des Nationalstaatsgesetzes von 2018, das die palästinensische Bevölkerung Israels in ihren Rechten weiter degradierte. Man darf aber nicht übersehen, dass Meretz und Avoda selbst zusammen mit der Gemeinsamen Liste lediglich 19 der 120 Knesset-Abgeordneten stellen. Nach dem Wahlsieg Rabins 1992 hatte das linke Lager noch eine parlamentarische Mehrheit. Das aktuelle Kräfteverhältnis erklärt, warum sich linke demokratische Kräfte so schwertun, mit ihren berechtigten Forderungen gesellschaftliche Resonanz zu erzielen.   

Die Fragen stellte Katja Hermann, Referatsleiterin Westasien der RLS.