Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Antisemitismus und Nahost global Michael Warschawski: An der Grenze/Mit Höllentempo, Hamburg 2004.

Wider den Nationalismus, für den Grenzgang zwischen den Kulturen als gleichberechtigte Solidarität von Juden und Arabern.

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Der israelische Linkssozialist und ehemalige Leiter des Jerusalemer Alternativen Informationszentrums Michael Warschawski (geb. 1949) ist einer jener wenigen, die «in ihrem Land und gegen es, aktiv, radikal, unermüdlich und unverdrossen für das bessere Leben aller kämpfen», wie es Moshe Zuckermann im Vorwort zu dem hier zu besprechenden Buche treffend beschreibt (S. 6). Anders jedoch als Uri Avnery (1923-2018) ist Warschawski selbst bei der deutschen Linken nur wenigen bekannt und noch weniger gelesen. Bis die Hamburger Edition Nautilus im Jahre 2004 zwei seiner vielen Bücher auch ins Deutsche übersetzte, konnte man seine Texte einzig in der kleinen Sozialistischen Zeitung (SoZ) zur Kenntnis nehmen. In An der Grenze arbeitet er Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts in autobiografischer Form auf, während sich Mit Höllentempo wie ein ausführliches und aktualisierendes Nachwort zu den laufenden Entwicklungen liest.

Auch für Warschawski steht die Existenz des Staates Israel auf dem Spiel – diese Einschätzung teilt er mit Apologet*innen wie Kritiker*innen des israelischen Regimes. Warschawski jedoch gehört zu jenen, die nicht müde werden zu betonen, dass diese Infragestellung weniger von «außen» kommt, nicht von den um ihre nationale Befreiung kämpfenden Palästinenser*innen oder den arabischen Nachbar*innen, als vielmehr von «innen». Für ihn sind es die eigenen Grundlagen des zionistischen Projekts und vor allem die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die die israelische Gesellschaft vor die Aufgabe nachhaltiger Veränderungen stellt. In beeindruckender Unaufdringlichkeit beschreibt er die gesellschaftlichen und politischen Wandlungen der israelischen Gesellschaft seit der großen Wende von 1967, als der israelisch-arabische Krieg zu jener israelischen Besetzung der Westbank, des Gazastreifens, des Golan und des Sinai führte, die noch heute im Zentrum des Konfliktes steht.

Der die Gesellschaft bis dahin tragende säkulare Arbeiterzionismus sei in der Folge, unter zunehmendem Rückgriff auf die orthodox-jüdische Mythologie, national-chauvinistisch aufgeladen worden. Beflügelt hiervon, aber an sich unabhängig, entwickelte sich spätestens seit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre ein innerisraelischer Block von orthodox-religiösen Juden sowie Juden arabischer und orientalischer Kultur, die vom Arbeiterzionismus verächtlich marginalisiert und diskriminiert wurden. Unter den Bedingungen des auch in Israel sich durchsetzenden Neoliberalismus wurden schließlich nicht nur die spezifischen Grundlagen der israelischen Gesellschaft zerstört. Auf ihren Trümmern gedieh auch dieser neue gesellschaftspolitische Block, dem der neoliberal gewendete und in den Aporien des zionistischen Projektes gefangene Arbeiterzionismus nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Ein eiserner Vorhang trennt nun Zentrum und Peripherie, den alten Zionismus und das neue Judentum: «Auf er einen Seite die, die weiterhin das ursprüngliche Projekt der zionistischen Gründerväter verfolgen, d. h. einen modernen, jüdischen, aber nicht theokratischen, für die jüdische Bevölkerung demokratischen und in die neoliberale Globalisierung integrierten Staat anstreben; sie gehören überwiegend zur zweiten und dritten Generation der aus West- und Osteuropa stammenden Immigrant*innen, ihr Lebensstil ist europäisch, komfortabel, manchmal auch luxuriös. Ihnen stehen die Kinder und Enkel der orientalischen Einwanderer gegenüber, die immer noch in ihren Ghettos leben: in den Entwicklungsstädten im Norden und Süden Israels und in den armen Vierteln der großen Städte, weit weg vom Reichtum der besseren Wohngegenden in Tel-Aviv. Sie träumen von einer <Rückkehr zu den Ursprüngen> und einem verlorenen Paradies, wo statt der liberalen, marktorientierten und kosmopolitischen Moderne, die sie mit Füßen tritt, die Werte von Tradition, Familie und Gemeinde-Solidarität Geltung haben sollen.» (S. 190)

Was Warschawskis Analyse vor anderen auszeichnet, ist, dass er die sich aufdrängende Frage politischer Parteinahme nicht schwarz oder weiß löst, sich nicht auf die eine oder andere Seite «dieser beiden tödlichen Alternativen» (S. 193) schlägt. Einmal mehr versucht er den dritten Weg, jenseits von Judäa und Israel und «gegen diejenigen, die aus Israel den Vorposten des neoliberalen Kreuzzugs unter den Völkern des Nahen Ostens machen wollen, und gegen diejenigen; die es in ein bewaffnetes Ghetto unter der Führung der Rabbiner eines neuen Messianismus sperren wollen, in dem sich Fundamentalismus und Nationalismus gegenseitig verstärken» (ebd.).

Um den Sirenen des Nationalismus zu widerstehen, sieht er nur den Ausweg einer gleichberechtigten Solidarität von Juden und Arabern, den Grenzgang zwischen den Kulturen: «Eine Zukunft hat Israel nur, wenn es seine Lage im Nahen Osten akzeptiert und sich in seine arabische Umwelt integriert. Dieser Wille zur Integration setzt zunächst die Öffnung zum anderen als einem gleichberechtigten Partner voraus» (S. 230) – also nicht jene Philosophie der Trennung und Abriegelung, die er in der zionistischen Ideologie und Praxis, auch der linkszionistischen, strukturell angelegt sieht. Warschawski setzt auch weiterhin auf eine «binationale, sozialistische, vom Zionismus befreite politische Struktur» (S. 69) und weiß sich einig mit jenen Zehntausenden Palästinenser*innen und Tausenden Israelis, auf die er sein Prinzip Hoffnung gründet.

In Mit Höllentempo zeigt er schließlich auf, wie sich die israelische Gesellschaft nach der neuen historischen «Wasserscheidelinie» des 5. November 1995 (S. 86), nach dem Attentat auf Ministerpräsident Rabin, immer schneller in «eine chauvinistische religiöse Gemeinschaft» verwandelt, «die sich in einen tödlichen Krieg gestürzt hat» (S. 96). Mit «Tränen der Wut» (S. 7) beschreibt er, wie sich der alte Kolonialismus gegenüber den Palästinensern nach dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada in einen politisch-militärischen Feldzug gegen die gesamte palästinensische Gesellschaft gewandelt habe und wie die dadurch bedingte «systematische Dehumanisierung des Kolonisierten unvermeidlich zur Dehumanisierung des Kolonisators und seiner Gesellschaft» führe (S. 31). Gewaltförmigkeit beherrsche mittlerweile auch den zivilen häuslichen wie öffentlichen Alltag und verändere die geltende Rechtsprechung, die Militärs beherrschen die politische Arena und den öffentlichen Diskurs. Mit «totale(r) Hemmungslosigkeit», «grenzenlose(r) Brutalität» (S. 22) und in einer «Mischung aus Paranoia und Nuklearwaffen» (S. 59) solle die pax israeliana einer an sich «schwer kranken» (S. 107) Gesellschaft durchgesetzt werden.

War Warschawski schon in An der Grenze nicht gerade optimistisch, verdunkelt sich in Mit Höllentempo abermals die Hoffnung auf Umkehr. Doch nichts sei unausweichlich, schreibt er, und darauf würden mit ihm die letzten verbliebenen Dissident*innen Israels setzen. «In der Solidarität mit den Palästinensern», schreibt er in An der Grenze, «bestätigt sich meine jüdisch-israelische Identität».
 


Michael Warschawski: An der Grenze, Hamburg 2004: Edition Nautilus.

Michael Warschawski: Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft, Hamburg 2004: Edition Nautilus.