Mit der Rolle des Judentums innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung befasst sich der von Markus Börner, Anja Jungfer und Jakob Stürmann herausgegebene Sammelband, der auf die Tagung «Streben nach Emanzipation? Judentum und Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert» (2016) zurückgeht. Die Herausgeberin und die Herausgeber erheben für denselben den «Anspruch, Verbindendes und Trennendes in der historisch komplexen Verflechtung von Judentum und Arbeiterbewegung zu analysieren.» (S. 1) In je nach geographischen und chronologischen Kontexten variierenden Beiträgen soll dabei gezeigt werden, wie diese beiden historischen Größen miteinander interagierten bzw. einander bedingten.
Im ersten Kapitel liefert der US-amerikanische Politikwissenschaftler Jack Jacobs einen sehr lesenswerten Abriss über die Rolle des Judentums für die politische Linke, besonders in den USA (S. 7-31).1 Jacobs betont dabei nicht nur die Bedeutung jüdischer Mitglieder innerhalb aller linken Bewegungen (Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus), sondern erklärt zudem die Motivation so vieler Jüdinnen und Juden, in diesen aktiv zu werden: «Die Zurückweisung durch die Mehrheitsgesellschaft trug zur Überzeugung dieser Juden bei, dass ein grundlegender Umbruch erstrebenswert und nötig sei.» (S. 9) In den linken Bewegungen und deren politischen Organisationen konnten sich Jüdinnen und Juden nicht nur engagieren, sie konnten sogar Führungsrollen übernehmen und in den intellektuellen Zirkeln aktiv werden, die für die Publikation der jeweiligen Periodika verantwortlich zeichneten (S. 11 u. 16). Doch nicht nur in den USA, wo der jüdische Einfluss innerhalb linker Bewegungen besonders groß war (S. 23-27), sondern auch in Osteuropa und in der westeuropäischen Diaspora bildeten sich explizit jüdische Organisationen innerhalb der politischen Linken, wie etwa die 1876 in London gegründete Hebrew Socialist Union. Beinahe ironisch muss bemerkt werden, dass der soziale Aufstieg jüdischer Immigranten im Laufe des 20. Jahrhunderts allerdings den Niedergang der jüdischen Linken bedingte, so dass der Zusammenhang zwischen Judentum und linkem Aktivismus vor allem anhand politischer sowie sozio-ökonomischer Gegebenheiten in den jeweiligen geographischen Kontexten erklärt werden kann (S. 30). Dieser hervorragenden theoretischen Einleitung folgen vier thematische Abschnitte.
Im ersten werden dabei zunächst die «Entstehung und Herausforderung explizit jüdischer Arbeiterbewegungsphänomene» (S. 4) beschrieben. Ania Szyba widmet sich dazu der «neuen jüdischen Schule» (S. 35-49), einer Idee, die in der Zweiten Polnischen Republik von Vertreterinnen und Vertretern des jüdischen Sozialismus diskutiert wurde, zumal Bildung seit 1897 zu den erklärten Zielen des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes zählte (S. 38). Eine besondere Rolle spielte zudem die für die Modernisierung als wichtig erachtete Weltlichkeit dieser neuen Schule: «Statt religiöser Erziehung wollte die neue jüdische Schule eine ethische und humanistische Erziehung im Geist der Freiheitsliebe anbieten.» (S. 47) Im Anschluss daran untersucht Gabriele Kohlbauer-Fritz die «jiddische Subkultur» Wiens (S. 51-62), denn das ehemalige Zentrum des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates «wurde nach dem Ersten Weltkrieg für kurze Zeit zu einem Zentrum jiddischer Kultur», vor allem auch politischer Kultur, und «für die Wiener jiddische Kulturszene [bildete] Galizien mit Krakau und Lemberg das jiddischsprachige Hinterland» (S. 51). Im folgenden Kapitel betrachtet Jakob Stürmann die Rolle der «Auslandsvertretung des sozialdemokratischen jüdischen Arbeiterbunds der Sowjetunion im Berlin der Weimarer Republik» (S. 63-80) und beschreibt «eine quantitativ kleine Gruppe, die sich zu einzelnen politischen Debatten äußerte» (S. 63), darüber hinaus allerdings nur wenig aktiv wurde. Die Exilparteistruktur des Arbeiterbunds der Sowjetunion war in den 1920er und 1930er Jahren nur möglich, weil Berlin als «Schnittstelle osteuropäischer Migration» (S. 66-68) fungierte, an der sich die besagte Auslandsvertretung als «politische Vertretung der sowjetischen Judenheit» (S. 78) etablieren konnte. Abgeschlossen wird der erste Abschnitt von Shmuel Vardis Kapitel zur Idee der «arbeitende[n] Frau», wie sie von Ada Fischmann Maimon (1893-1973) in Palästina propagiert bzw. gefordert wurde. Die spätere israelische Politikerin «forderte gleiche Rechte und Pflichten für Frauen in der Gesellschaft durch gleiche Möglichkeiten und Chancen in der Arbeitswelt» (S. 86) und ging davon aus, dass die Emanzipation der Frau eine Grundbedingung für die Emanzipation der Gesamtgesellschaft darstellt (S. 90).
Der zweite Abschnitt behandelt konkrete Fallbeispiele von «Juden in der Arbeiterbewegung». Dabei arbeiten Jens Becker die Rolle von August Thalheimer (1884-1948), «einem der wichtigsten Theoretiker der KPD» (S. 97-114, Zitat S. 100) und Gennady Estraikh die des Berliner Korrespondenten des New Yorker Forverts, Raphael Abramovitch (1880-1963) (S. 115-141), heraus. Mit einem Abriss über Leben und Wirken des Kommunisten Rudolf Bernstein (1896-1977) will Christoph Gollasch «die beiden Ebenen von Jüdisch-Sein in der kommunistischen Arbeiterbewegung und antisemitischer Gewalterfahrung in der nationalsozialistischen Frühphase verbinden» (S. 146), was ihm tatsächlich recht gut gelingt. Den Abschluss des zweiten Abschnitts bilden die Diskurse über Ernst Fraenkel (1898-1975) von Gideon Botsch und die Untersuchung der jüdischen Assimilation im mittleren und östlichen Europa zwischen 1917 und 1968 von Jan Gerber.
Auch der dritte Abschnitt, der sich mit dem intellektuellen Engagement von Jüdinnen und Juden innerhalb des linken politischen Spektrums befasst, bietet eine breite Perspektive und weist dabei zugleich in mögliche Richtungen für weitere Forschungsprojekte. Im Einzelnen werden von Stephan Braese (S. 205-215) und Frank Voigt (S. 217-238) das Wirken von Georg Lukács (1885-1971) und Walter Benjamin (1892-1940) in der europäischen Arbeiterbewegung sowie die Rolle des letzteren in der Debatte um Karl Mannheims Buch Ideologie und Utopie (1929) untersucht. Marcus G. Patka (S. 239-253), Doris Maja Krüger (S. 255-271) und Markus Böner (S. 273-293) widmen sich ebenfalls jüdischen Intellektuellen, namentlich Egon Erwin Kisch (1885-1948), Leo Löwenthal (1900-1993) und Hannah Arendt (1906-1975).
Im letzten thematischen Abschnitt werden schließlich zeitgenössische Debatten über den Antisemitismus innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung vorgestellt. Ralf Hoffrogge widmet sich eingehend der «Ostjudendebatte» des Preußischen Landtages im Jahr 1922 (S. 299-317) und stellt fest, dass der seit «der Gegenrevolution des Jahres 1919 militanter auftretende[ ] Antisemitismus, der gezielt und gewalttätig die politische Linke als «jüdisches» Phänomen angriff» (S. 299), im Zuge dieser Debatte noch um einen «kulturelle[n] Rassismus» (S. 301) gegen «Ostjuden» ergänzt wurde. Den Antisemitismus bzw. dessen Diskussion innerhalb der deutschsprachigen politischen Linken behandelt der Beitrag von Konstantin Baehrens, der sich eingehend mit den Monographien von Otto Heller (1897-1945), Ernst Ottwalt (1901-1943) und Hans Günther (1899-1938) in den frühen 1930er Jahren befasst (S. 319-336). Den Abschluss bildet das Kapitel von Anja Jungfer, die sich unter anderem mit der Diskussion der «Judenfrage» innerhalb der Exilzeitung «Der Gegen-Angriff» auseinandersetzt.
Insgesamt betrachtet bietet der vorliegende Sammelband einen spannenden Querschnitt durch das Forschungssujet «Judentum und Arbeiterbewegung». Oft wird Sammelbänden vorgeworfen, nicht dezidiert einem roten Faden zu folgen, dabei besteht doch die Stärke, ebenso des vorliegenden Bandes, gerade darin, dass die Leser*innen einen umfassenderen Einblick in ein Forschungsthema, mitunter auch über den Tellerrand der eigenen Interessen hinaus, erhalten. Das macht gleichfalls den Mehrwert des von Markus Börner, Anja Jungfer und Jakob Stürmann herausgegebenen Sammelbandes aus, den man Kolleg*innen, die Interesse an jüdischer Geschichte und/oder der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung haben, nur sehr empfehlen kann. Der Erkenntnisgewinn, ob nun konkret intendiert und im Zusammenhang mit einem bestimmten Thema, oder beiläufig durch die Lektüre eines oder mehrerer der vielen anderen lohnenswerte Beiträge, ist garantiert.
Markus Börner, Anja Jungfer & Jakob Stürmann (Hrsg.): Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Europäisch-jüdische Studien, Beiträge 30), Berlin 2018: De Gruyter (391 S., 123,95 €).
Die Besprechung erschien im Mai 2020 in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Arbeit - Bewegung - Geschichte.