Kommentar | Kunst / Performance - Palästina / Jordanien In den Schuhen der Unterdrückten

Wie das ASHTAR Theatre seit 30 Jahren Theater für Freiheit und gegen Unterdrückung macht

Information

Autorin

Katja Hermann,

Seit drei Jahrzehnten gibt es das ASHTAR Theatre in Palästina nun schon, gestartet wurde es 1991 in Ost-Jerusalem, und seit vielen Jahren ist es in Ramallah, im besetzten Westjordanland, angesiedelt. Gegründet wurde das Theater, dessen Besonderheit unter anderem darin besteht, dass es Ansätze des Forum-Theaters nutzt, und das für den palästinensischen Kontext – der geprägt ist von Besatzung und Entrechtung –, von Iman Aoun und Edward Muallem. Beide leiten das Theater bis heute.

Forum-Theater, eine Form des «Theaters der Unterdrückten», geht auf den brasilianischen Theaterautor und Theatertheoretiker Augusto Boal zurück, der seit den 1950er Jahren eine Form entwickelte, die Theater als Möglichkeit begriff, soziale und politische Problematiken aufzugreifen, Lösungen zu entwickeln und damit die herrschenden Realitäten zu verändern. In einem moderierten Verfahren werden die Zuschauenden in das Theaterstück einbezogen und motiviert, auf der Bühne Impulse für alternative Handlungen gegen die unterschiedlichen Unterdrückungsmomente zu gestalten. Die transformativen Momente, die entstehen können, wenn die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben wird, sieht Iman Aoun, künstlerische Leiterin des ASHTAR Theatre, vor allem in der Einbeziehung der psychisch-physischen Ebene, des Körpers also. Solange nur über Probleme nachgedacht oder gesprochen werde, bleibe die Auseinandersetzung auf der intellektuellen Ebene und habe nur geringes Veränderungspotenzial. Erst durch das Ausprobieren und Experimentieren auf der Bühne könnten sich die Zuschauenden in die Unterdrückten hineinversetzen und könnten über die Körper neue Codes, neue Möglichkeiten und manchmal auch neue Hindernisse tatsächlich verstanden werden. Dieser gemeinsame Dialog im Raum, also zwischen den Schauspielenden und den Zuschauenden, ermögliche, so Aoun, Impulse von Wandel, die beim reinen Aufführen von Stücken nicht denkbar wären.

Katja Hermann ist Leiterin des Westasien-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Berlin. Der Text basiert auf einem Gespräch mit Iman Aoun, der künstlerischen Leiterin des ASHTAR Theatre in Ramallah. 
www.ashtar-theatre.org www.gazamonologues.com

In den seit mehr als 50 Jahren besetzten palästinensischen Gebieten kommen einem Theater, das einen emanzipatorischen Anspruch hat, zentrale Aufgaben zu. Zum einen natürlich mit Blick auf die Besatzungsrealität mit ihren zahlreichen Formen der Unterdrückung, wie beispielsweise eingeschränkter Meinungs- und Bewegungsfreiheit der Menschen und ungesichertem Zugang zur Gesundheitsversorgung. Doch auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft mit ihren traditionalen und religiösen Prägungen gibt es Strukturen von Unterdrückung, die das ASHTAR Theatre in seinen Produktionen aufgreift, wie die Rechte von Frauen und die Rechte von Arbeiter*innen. Theater gebe Hoffnung und Schönheit, einen Raum zum Denken und zum Träumen. Kunst und Kultur seien ein wichtiger Bestandteil von Widerstand und Revolution, der in den Herzen und Köpfen der Menschen stattfinde, sagt Aoun. Um möglichst viele Menschen auch außerhalb des Theaters zu erreichen, führt die Theatergruppe ihre Stücke nicht nur im Theatersaal in Ramallah, sondern auch in den ländlichen Gebieten, an Schulen oder in Flüchtlingslagern auf. Seit vielen Jahren fördert das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah die Theaterarbeit.

International bekannt wurde ASHTAR mit seinem Stück «Gaza-Monologe» im Jahr 2010. Kinder und Jugendliche aus dem Gaza-Streifen hatten im Nachgang des Gaza-Krieges 2009 Appelle an die Außenwelt formuliert, mit denen sie gleichermaßen lautstark wie poetisch auf ihre Situation aufmerksam machen wollten: «Genug!!! Wir verdienen eine Welt, die besser ist als diese, eine Welt ohne Angst, Abriegelung oder Besatzung.» Das Theaterteam entwickelte daraus ein Stück, das seitdem in mehr als 36 Ländern und in mehr als 52 Städten von jungen Menschen aufgeführt worden ist: ein bemerkenswerter Ausdruck globaler künstlerischer Solidarität. Am 29. November 2011 wurden die Gaza-Monologe vor den Vereinten Nationen in New York aufgeführt. Alle internationalen Aufführungen, aber auch jene in anderen Teilen Palästinas, fanden ohne die Jugendlichen aus Gaza statt, da sie aufgrund der langjährigen (und immer noch andauernden) Abriegelung von Gaza den Küstenstreifen nicht verlassen können. In Anlehnung an die Gaza-Monologe entwickelte ASHTAR später die Syrien-Monologe sowie die Lockdown-Nachrichten.

Während das internationale Interesse am israelisch-palästinensischen Konflikt beziehungsweise am Leben unter der Besatzung in Palästina in den letzten Jahren geringer geworden ist, scheinen die künstlerischen Bande zwischen Palästina und der Welt – zumindest was das Theater betrifft – enger zu werden. Theatermacher*innen aus der ganzen Welt interessieren sich für die Lage vor Ort, kooperieren mit ASHTAR und kommen seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Theaterfestivals. Seit der Corona-Pandemie werden die Austausche durch digitale Treffen ersetzt, und die Leiterin des Theaters ist eine gefragte Gesprächspartnerin. Interesse, Miteinander, Solidarität, auf der Bühne scheint das möglich zu sein, was in der internationalen Politik nicht gelingt. ASHTAR kann auf zahlreiche künstlerische Erfolge zurückschauen und ist ein international geschätzter Theaterort. Darüber hinaus ist es ein besonderer Ort für freies Denken und Gestalten, der vielen Menschen, die hier nicht nur ihr Handwerk lernen, sondern auch persönlich wachsen, einen Raum bietet.

Trotz aller Errungenschaften sieht die Lage für Theater in Palästina nicht gut aus – und nicht nur für Theater: Die Dinge seien nicht gut, die Besatzung esse alles auf, sie sei schneller, stärker und harscher als sie, so Aoun. Als palästinensische Theaterleute wollen sie versuchen, ihre Geschichte lebendig zu erhalten, denn indem sie das täten, behielten sie ihre Rechte und die Möglichkeit, die Dinge zu verändern.

Dieser Text ist bereits in der 13. Ausgabe der Maldekstra zum Thema «Kunst und Widerstand» erschienen.