Die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze ist aus den Schlagzeilen verschwunden, aber die humanitäre Lage dort ist weiterhin katastrophal. Nach wie vor sind viele Menschen unterwegs und versuchen die Grenze des Schengenraums zu überwinden. Aus Angst vor Pushbacks und aufgrund des Umgangs polnischer Behörden mit den Geflüchteten, versuchen viele auch nach dem Grenzübertritt unentdeckt zu bleiben, um weiter nach Westen, auch Richtung Deutschland zu gelangen. Vom 14. bis 16. Januar war die #noborderdelegation von Abgeordneten der LINKEN aus dem Europäischen Parlament, dem Bundestag sowie Landtagen unterwegs in Polen, um die Situation an der Grenze zu beobachten und mit Aktivist*innen sowie Politiker*innen ins Gespräch zu kommen. Wir sprachen darüber mit Dr. Cornelia Ernst, MdEP, die bei der Reise dabei war und deren Schwerpunkte im Europäischen Parlament unter anderem Migrations- und Flüchtlingspolitik sind.
Pushbacks sind staatliche Maßnahmen, bei denen flüchtende und migrierende Menschen – meist unmittelbar nach Grenzübertritt – zurückgeschoben werden. Sie haben dabei keine Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen oder die Rechtmäßigkeit gerichtlich überprüfen zu lassen. Pushbacks verstoßen u.a. gegen das Verbot der Kollektivausweisung, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist. [ECCHR]
Ärzte ohne Grenzen spricht von mindestens 21 Toten im Jahr 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze. Trotz dieser humanitären Katastrophe ist das Thema aus den Schlagzeilen verschwunden. Was war für Euch der Anlass, genau jetzt zur Delegationsreise nach Polen aufzubrechen?
Die Reise zur Grenze war lange geplant, wegen Corona mussten frühere Termine verschoben werden. Seit Herbst war klar, dass die Lage an der Grenze katastrophal ist und es internationale Beobachtung braucht. Die Reise sollte dafür unbedingt noch im Winter stattfinden, um das ganze Ausmaß der desaströsen Situation für die Flüchtenden – die Kälte und das Winterwetter im Wald – zu erfassen. Die jetzige Delegationsreise wurde von der sächsischen Abgeordneten Jule Nagel organisiert. Beteiligt waren neben mir Abgeordnete aus dem Bundestag und mehreren Landtagen. Das ist ein Zeichen, dass wir auf allen Ebenen das Thema zusammen angehen, die Partei und ihre Vertrerter*innen in den verschiedenen Parlamenten bei dem Thema eine gemeinsame Haltung zeigen.
Ihr ward auch in Sokółka und Hajnówka, beide Städte nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, und habt Euch vor Ort mit Aktivist*innen unter anderem von Grupa Granica getroffen. Wie schilderten sie die humanitäre Lage an der Grenze?
Katastrophal, es herrschen Minusgrade im Grenzgebiet. Das Gebiet ist eigentlich ein Naturpark, in dem Wisente, Elche und Luchse leben, nun wird er aber zum Schauplatz der humanitären Katastrophe. Schätzungen zufolge sind noch 200 Menschen dort unterwegs, aber diese Zahl kann niemand seriös bestätigen, da der Zugang für Journalist*innen und Hilfsorganisationen per Gesetz in einer Sperrzone von 3 km entlang der Grenze untersagt wurde – auch für uns, auch für EP-Abgeordnete ebenso wie für polnische Abgeordnete. Zugang zu dieser Zone habe nur noch die Sicherheitsorgane und die Anwohner*innen. Die Polizei ist auch allgegenwärtig in der Sperrzone.
Somit sind nur noch die Anwohner*innen vor Ort, um den Geflüchteten zu helfen. Aber ihnen drohen drakonische Strafen, wenn sie Geflüchteten helfen und diese nicht sofort den Grenzbehörden melden, wobei dann den Migrant*innen sofort der Pushback zurück nach Belarus droht. Ärzt*innen, die im Grenzgebiet sind und dort Geflüchteten helfen – fast alle Migrant*innen sind aufgrund der Strapazen des Grenzübertritts gesundheitlich angeschlagen und benötigen Hilfe – drohen ihre Approbation zu verlieren, sollten sie die Geflüchteten nicht melden. Ihr hippokratischer Eid ist also in Frage gestellt. Kurz zusammengefasst, die lokale Bevölkerung ist vor die Wahl gestellt, die Migrant*innen vor Ort verrecken zu lassen oder ihnen zu helfen und drakonische Strafen zu riskieren.
Nach dem Rückzug von Ärzte ohne Grenzen Anfang Januar wurde die Lage nochmal prekärer. Auch ist unklar, wie sie sich mit dem beginnenden Frühjahr entwickeln wird. In Belarus sind noch viele Migrant*innen, sie könnten sich dann wieder auf den Weg machen.
Im Unterschied zu Griechenland aber auch zu beispielsweise Kroatien sind es noch relativ kleine, junge NGOs, die sich für Geflüchtete in Polen einsetzen, die die Situation vor Ort beobachten. Ich habe höchsten Respekt vor diesen und verneige mich vor ihrer Arbeit. Sie arbeiten fast im Untergrund, da sie nicht nur gegen die herrschende Politik vor Ort arbeiten, sondern auch gegen den gesellschaftlichen Mainstream. Ihre Arbeit ist deshalb umso verdienstvoller.
Dr. Cornelia Ernst ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Ihre Schwerpunkte dort sind unter anderem Migrations- und Flüchtlingspolitik. Das Interview führte Fabian Wisotzky, Referent für Ost- und Mittelosteuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Pushback ist zum Unwort des Jahres gekürt worden. Auch Amnesty International und andere Organisationen berichteten von Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze. Von welchen Erfahrungen von Pushbacks berichteten Euch die Aktivist*innen vor Ort? Und haben sie auch über die Lage auf der belarussischen Seite der Grenze berichtet?
Pushbacks sind eine alltägliche Praxis an der Grenze, sie wurden im Sejm mit einem Gesetz sogar legalisiert, welches aber klar sowohl gegen EU-Recht als auch das Völkerrecht verstößt. Aber Polen hat den Vorrang von polnischem Recht vor EU-Recht beschlossen... An anderen Orten der EU-Außengrenze, in Griechenland und Kroatien, haben wir Parlamentarier*innen zumindest Zugang zur Grenze und können so zumindest punktuell durch unsere Anwesenheit Pushbacks verhindern. Rein theoretisch könnten alle EU-Parlamentarier*innen in einem Rotationssystem rund um die Uhr an der Grenze stehen, um so durch die parlamentarische Beobachtung Pushbacks zu verhindern. Aber selbst das ist in Polen nicht möglich. Die Grenze wird abgeschottet, niemand erhält Zugang und somit entzieht sich das Geschehen vor Ort weitestgehend der Kenntnis der Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurde uns berichtet, dass die belarussische Seite die Flüchtenden an die Grenze getrieben habe, zum Grenzübertritt gedrängt habe.
Mit dem Guarded Centre for Foreigners in Krosno Odrzańskie, unweit der polnisch-deutschen Grenze, stand auf eurem Reiseplan auch eine Einrichtung, in der Geflüchtete nach ihrem Asylantrag untergebracht sind. Wie ist die Lage in der Einrichtung und konntet Ihr mit Geflüchteten vor Ort sprechen?
Der Zugang zum Lager wurde uns verwehrt, da ging es uns wie auch unseren polnischen Amtskolleg*innen. Meine polnische Kollegin aus dem EP, Janina Ochojska, hatte den Zugang auch beantragt und er wurde ihr verwehrt. In Griechenland und Kroatien können wir beispielsweise alle Lager betreten. Mit Geflüchteten selbst konnten wir auch nicht sprechen. In Griechenland sind sie überall präsent und man kann mit ihnen in Kontakt treten, über ihre Erfahrungen und Forderungen sprechen. Das ist in Polen anders, dort werden sie von der Gesellschaft isoliert. In Polen werden keine offiziellen Zahlen veröffentlicht. Mit den Migrant*innen in den Einrichtungen kann man nicht in Kontakt treten. Unsere Informationen beziehen wir deshalb aus den Gesprächen mit den NGOs vor Ort.
Ihr habt Euch auch mit Vertreter*innen der Linken in Polen getroffen. Was waren ihre Forderungen in der jetzigen Situation?
Wir haben uns mit Vertreter*innen von Razem, Nowa Lewica und den Grünen getroffen. Ihre Hauptforderung ist, dass sie in die Einrichtungen und die Sperrzone reinkommen, um die Situation zu beobachten, denn der Zugang wird auch ihnen verwehrt. Des Weiteren forderten sie normale Asylverfahren im Land. Aufgrund einer Sonderregelung ist die Registrierung der Geflüchteten in Polen für bis zu vier Wochen ausgesetzt. Nach diesen vier Wochen sind die wenigsten Geflüchteten noch vor Ort, sondern bereits wieder nach Belarus zurückgeschoben. Zuletzt fordern sie, dass die EU endlich einen Umgang mit Geflüchteten innerhalb der EU findet. Denn es ist klar, die Situation ist keine rein polnische Angelegenheit, sondern eine europäische.
Polnische Linke hatten unter anderem gefordert, dass Frontex an der Grenze eingesetzt würde. Wie bewertest Du diese Forderung?
Die polnische Linke, die Zivilgesellschaft und uns eint unsere Hauptforderung: Reinkommen! Wir müssen in die Lager und die Grenzregion reinkommen, um die Lage vor Ort beobachten zu können. Dafür böte Frontex ein Mittel, denn dann könnte der Zugang nicht verweigert werden. Wir müssen Polen in die Frontex-Untersuchungsgruppe miteinbeziehen. Bei aller Kritik, die wir natürlich an Frontex haben, wäre dies ein Fortschritt zur jetzigen Situation.
Wie waren bisher die Reaktion der Europäischen Union auf die Grenzpolitik der polnischen Regierung?
Die polnische Regierung setzte von Anfang an auf eine Militarisierung der Lage, das zeigte schon das Sprechen von der hybriden Kriegsführung, welches die EU-Kommission übernahm. Margaritis Schinas, Vize-Präsident der EU-Kommission sagte zuletzt im Ausschuss, dass es eine Sicherheitskrise sei, die EU im Krieg sei, aber die Maßnahmen der EU, die Emergency Measures, sind mit einer angeblichen «migrationsbedingten Notlage» begründet. Diese Emergency Measures hat der Rat zusammen mit der Kommission unter Umgehung des EU-Parlaments ausgearbeitet. Das EP greift nun die legal basis der Emergency Measures an, da es sich nicht um eine Notlage handelt. Die Zahlen geben keine «migrationsbedingte Notlage» her, wie sie im offiziellen EU-Duktus beschworen wird. Das ist auch ein Grund, warum Polen die Zahlen der Menschen, die einen Antrag auf Asyl im Land gestellt haben, nicht offiziell vermeldet und somit auch eine Beobachtung von EU-Seite nicht möglich ist.
Die Emergency Measures gelten für Polen, Litauen und Lettland, also die drei Mitgliedsländer der EU an der Grenze zu Belarus. In diesen ist die Registrierung für vier Wochen ausgesetzt. In dieser Zeit sind die Geflüchteten vogelfrei und ihnen drohen Pushbacks, gleichzeitig gibt es keine Maßnahmen gegen Pushbacks. Des Weiteren sind Schnellverfahren an der Grenze mit anschließender Abschiebung vorgesehen, wenn die Geflüchteten auf ihrer Route einen sogenannten sicheren Drittstaat durchquert haben. Diese Schnellverfahren verhindern eine ernsthafte Prüfung der Asylanträge. De facto schafft man das Asylrecht in den drei Ländern ab. Neben der Beschneidung der Rechte der Geflüchteten in den drei Ländern droht dieses Beispiel auch in der EU Schule zu machen. Eine Ausdehnung der Regelungen auf den Rest der EU würde bedeuten, dass das Asylrecht in der EU abgeschafft würde. Das macht das Vorgehen so skandalös und deshalb müssen die Emergency Measures zurückgenommen werden.
Was sind die Forderungen, die sich für Euch aus Eurer Delegationsreise ergeben haben?
Wir haben fünf Forderungen entwickelt, diese umfassen:
- Die Pushbacks an der EU-Außengrenze müssen beendet werden, die EU– und Menschenrechte müssen überall, auch in Polen, eingehalten werden.
- Statt rechtsfreier Zonen an den Grenzen müssen humanitäre Korridore geschaffen werden, in Deutschland stehen hunderte Kommunen und Städte als „Sichere Häfen“ bereit, um Geflüchtete aus Polen und Belarus zu evakuieren.
- Es darf keine Überstellungen gemäß des Dublinverfahrens mehr nach Polen geben, da Polen kein sicherer Ort für Geflüchtete ist, Geflüchtete vor Ort inhaftiert werden.
- Die EU-Kommission muss Verträge hüten und darf nicht die Mitgliedstaaten gewähren lassen, die Menschenrechte verletzen, das ist besonders der Punkt, dem ich mich im EP widmen werde und
- die Kriminalisierung von Fluchthilfe muss beendet werden – egal ob in der polnischen Sperrzone oder über mehrere Ländergrenzen hinweg Richtung Westeuropa. In diesem Sinne werden wir uns in den Landtagen, im Bundestag und im Europäischen Parlament einsetzen.
Vielen Dank für das Interview!