Nachricht | Migration / Flucht - Palästina / Jordanien «Bäume pflanzen, Communities entwurzeln»

Beduinen-Communities protestieren gegen die Aufforstungspläne in der Naqab/Negev-Wüste

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Foto: Oren Ziv –Activestills

Gegen die Vorhaben des Jüdischen Nationalfonds (JNF), die Naqab/Negev-Wüste aufzuforsten und einen Nationalpark zu errichten, gibt es seit Wochen Proteste in der betroffenen Region im Süden Israels. Sanaa Ibn Bari sprach mit Juliane Drückler von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Hintergründe der Protesten und wo die Bewegung jetzt steht.

Sanaa Ibn Bari ist Projektmanagerin im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Die Palästinenserin aus der Naqab/Negev-Wüste gehört der Beduinen-Community an. Sie ist gelernte Juristin, war in der Advocacy-Arbeit tätig und hat die Beduin*innen auf lokaler und internationaler Ebene vertreten.

Juliane Drückler ist Referentin und Projektmanagerin im Westasien-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Übersetzung aus dem Englischen von Claire Schmartz und Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective

Wie ist die Lage in der Naqab/Negev-Wüste?

Die Wüste Naqab (im Hebräischen Negev) im Süden Israels macht ungefähr 60 Prozent der Landesfläche aus. Dort leben 300 000 Palästinenser*innen in Beduinen-Communities, die je nach Lebensumständen in zwei Gruppen eingeteilt werden können: Die größte Gruppe, etwa 60 Prozent, lebt in elf offiziell anerkannten Dörfern und sieben Townships, die Israel in den 1970er Jahren zur Urbanisierung der Beduinen-Communities eingerichtet hat. Die zweite Gruppe, etwa 35 Prozent, lebt in 35 «nicht anerkannten Dörfern», die so genannt werden, weil Israel weder sie noch den Besitzanspruch der Bewohner*innen auf das Land anerkennt, weswegen ihnen auch Grundrechte und -leistungen wie befestigte Straßen, Müllabfuhr oder der Anschluss an das Wasser- und Stromnetz verwehrt bleiben.[1] Diese Dörfer sind auf keiner offiziellen Karte verzeichnet, ihnen droht ständig eine Räumung oder der Abriss.

Die israelische Regierung ignoriert die alteingesessenen Communities und fördert gleichzeitig neue Projekte in genau den Gegenden, in denen sich die «nicht anerkannten Dörfer» befinden. Vor Ort werden Fakten geschaffen, die die Communities zum Aufgeben ihrer Dörfer bewegen sollen.

Warum wehren sich die Menschen in der Naqab/Negev-Wüste gegen die Aufforstungsvorhaben des JNF?

In den vergangenen Wochen hat der JNF Bulldozer und andere Baufahrzeuge in die Region geschickt, wo sie in und um das nicht offiziell anerkannte Beduinen-Dorf Sa’awa und auf dem Land der Familie al-Atrash mit Bauarbeiten begonnen haben, obwohl die Besitzverhältnisse des zu bewaldenden Gebiets seitens JNF, Justizministerium und der Familie al-Atrash umstritten sind. Die Familie lebt seit Jahrzehnten in diesem Dorf, das schon vor der Gründung des israelischen Staats bestand. Nach der Staatsgründung konnten die Dorfbewohner*innen mit Wissen und Zustimmung der Regierung dort bleiben.

Die Bauflotte wird von Polizist*innen geschützt, die beim kleinsten Zeichen von Protest Gewalt anwenden. Der JNF betont die Wichtigkeit des Aufforstungsprojekts für den Klimaschutz, obwohl Umweltexpert*innen zu bedenken geben, dass Baumpflanzungen in der Naqab/Negev-Wüste im Widerspruch zu den natürlichen Begebenheiten der Gegend stehen und sogar negative ökologische Auswirkungen haben könnte.

Wie haben sich die Proteste entwickelt?

Die Polizei hat mit Gewalt auf den Protest der Dorfbewohner*innen reagiert und die Situation eskalierte, woraufhin die Protestbewegung noch weiter wuchs. Am Donnerstag, den 13. Januar 2022, rief das «High Steeering Committee for Arabs in the Naqab» zu einer friedlichen und von der Polizei genehmigten Demonstration in der Naqab/Negev-Wüste auf. Tausende Menschen reisten aus dem gesamten Land an und schlossen sich der Demonstration als Zeichen ihrer Solidarität mit den Dorfbewohner*innen an. Doch die Demonstration wurde schon nach wenigen Minuten abrupt gestoppt. Die Polizei ging mit extremer Brutalität gegen die Demonstrierenden vor und führte Festnahmen durch. In den sozialen Netzwerken zirkulieren zahlreiche Videos, die den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz und die körperliche Gewalt zeigen, mit der der Protest der Palästinenser*innen gegen die israelische Politik unterdrückt wurde.

Wie ist die jetzige Situation?

Aufgrund des großen öffentlichen Drucks hat der JNF das Projekt vorübergehend gestoppt. Nach der Erfahrung zu urteilen, wird es aber sicher bald wieder aufgenommen.[2] So lange muss die Community mit den verheerenden Konsequenzen der exzessiven Polizeipräsenz leben. Es gab bereits mehr als 150 Festnahmen. Obwohl die Bauarbeiten gestoppt wurden und damit auch die Protestbewegung verebbte, führt die Polizei weiterhin Massenfestnahmen durch. In der Nacht zum 17. Januar 2022 wurden bei einem Großeinsatz 41 Personen festgenommen. Darunter der zehnjährige Amar Abu Qerder, der acht Stunden lang auf der Polizeistation festgehalten wurde und Berichten zufolge nach der Entlassung derart unter Schock stand, dass er kein Wort mehr herausbrachte.

Auch zwei Journalist*innen und mehrere Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren wurden festgenommen. Einige Demonstrierende wurden zum Teil so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus versorgt werden mussten. Der 39-jährige Taleb Sa’aydeh, der bei einer Demonstration von einem Gummigeschoss am Kopf verletzt wurde und seitdem im Koma liegt, befindet sich in kritischem Zustand. Inzwischen wurden einige der Demonstrant*innen wieder freigelassen, aber viele werden weiterhin festgehalten. Letzte Woche haben einige palästinensische Anwält*innen angekündigt, die Festgenommenen ehrenamtlich vor Gericht zu verteidigen. Als Ausdruck der Solidarität wurde in ein paar palästinensischen Dörfern und Städten demonstriert, drei Tage lang versammelten sich Protestierende vor dem Gerichtsgebäude. Den Aussagen der Anwält*innen ist zu entnehmen, dass die juristische und polizeiliche Vorgehensweise stark durch den Erwartungsdruck der israelischen Öffentlichkeit und rechter Kritiker*innen beeinflusst wird und darauf abzielt, die Teilnehmer*innen der vergangenen Proteste zu bestrafen. Gegen gerichtliche Anweisungen, Festgenommene wieder freizulassen, legt die Polizei jedes Mal sofort Berufung ein. Sie will die Demonstrierenden einschüchtern und sie ihre Macht spüren lassen.

Welche Forderungen stellen die palästinensischen Beduin*innen?

Die palästinensischen Beduinen-Communities im Süden Israels fordern die Anerkennung ihrer Dörfer und rechtlichen Schutz der traditionellen Lebensweisen und landwirtschaftlichen Communities. Jüdische Bewohner*innen der Naqab/Negev-Wüste können frei wählen, ob sie in einer Stadt, einer Township, einem Kibbuz, einem Moschav oder auf einer Farm leben wollen. Den palästinensischen Bewohner*innen hingegen – immerhin 33 Prozent der Bevölkerung dieser Region – wird nur erlaubt, in einer der sieben von der Regierung eingerichteten Townships oder in einem der elf anerkannten Dörfer zu leben. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die palästinensischen Beduin*innen nur Gebietsansprüche auf eine Fläche von 5,4 Prozent der Naqab/Negev-Wüste erheben. Es ist keineswegs eine Frage der verfügbaren Ressourcen.


[1] Elaine Kremer: «Violations of Human Rights of the Arab Bedouin Community in the Naqab/Negev during 2021». Online unter: https://www.dukium.org/wp-content/uploads/2022/01/HR-report-2021-online.pdf

[2] 2020 ordnete der ehemalige Knesset-Abgeordnete der Avoda-Partei und damalige Wirtschaftsminister Amir Peretz an, das Aufforstungsprojekt des JNF im Naqab zu beenden. Zafir Rinat und Ben Zikri: «Israel Pushing Massive Tree Planting in Negev to Deny Lands to Bedouin». Israel News vom 14. Juli 2021. Online unter: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-israel-pushing-massive-tree-planting-in-negev-to-deny-lands-to-bedouin-1.8993524