Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Shoah und linkes Selbstverständnis - Theorie des Antisemitismus Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 2020.

Für die Antisemitismusforschung spielen mittlerweile Emotionen eine größere Rolle. Mit seinem Diktum von der Leidenschaftlichkeit des Antisemitismus legte Sartre dafür die Grundlage.

Information

Autorin

Johanna Bach,

Nur wenige Wochen nach der Befreiung von Paris im Jahr 1944 – das genaue Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen war noch nicht bekannt – nahm der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre in seinem Essay Überlegungen zur Judenfrage eine eingehende Analyse des Antisemitismus vor.

Erst seit wenigen Jahren erfährt insbesondere der erste Teil des Textes zum «Porträt des Antisemiten» in der Antisemitismusforschung eine größere Resonanz und avanciert zu einem zentralen Bezugspunkt, um – entgegen einer rein kognitivistisch orientierten Vorurteilsforschung – den emotionalen Gehalt des Antisemitismus hervorzuheben. Denn Antisemitismus ist Sartre zufolge weder eine Meinung, über die sich legitimerweise diskutieren ließe, noch bloß eine auf falschen Urteilen beruhende Weltanschauung, sondern auch eine «Leidenschaft» (10). Der leidenschaftliche Charakter sei sogar maßgeblich für die Attraktivität, die der Antisemitismus für viele Menschen besitze, sowie für die kognitive Verzerrung, mit der Antisemit:innen die Welt wahrnähmen. So ist es kein Zufall, dass Sartre in neueren Ansätzen der Antisemitismusforschung, die einen Fokus auf den emotionalen Gehalt des Antisemitismus fordern, häufig als einer der wichtigsten Vorreiter dieser theoretischen Perspektive herangezogen wird. In dem 2021 erschienen Sammelband Emotionen und Antisemitismus bezieht sich die Hälfte der Autor:innen auf Sartres Essay und sein Diktum von der Leidenschaftlichkeit des Antisemitismus.[1]

Mit dem Verweis auf den Stellenwert des affektiven Gewinns, den der Antisemitismus seinen Anhänger:innen verspricht, geht eine radikale Hinwendung zu deren Innenleben einher. Nicht die Fragen nach realen Konflikten und Erfahrungen mit oder «Meinungen» über Jüdinnen und Juden gelten für das Verständnis des Judenhasses als zielführend, sondern eine Analyse der psychischen Konstitution der Antisemit:innen selbst. Konkrete Behauptungen über Jüdinnen und Juden sind Sartre zufolge nachträgliche Legitimationen erfahrungsunabhängiger, antisemitischer Gefühle. Kognitive und emotionale Dissonanzen, die in der Konfrontation mit der Realität entstehen müssten, werden apriori abgewehrt. Und so zeige sich, dass der Antisemitismus noch «in seinen gemäßigten, kultiviertesten Formen eine synkretistische Totalität[2] bleibt, die sich in scheinbar vernunftgeleiteten Diskursen ausdrückt, die jedoch bis zur körperlichen Veränderung führen kann» (11). Körperliche Veränderungen und das Lossagen von Rationalität werden von Antisemit:innen als lustvoll empfunden. Sie genießen den Zustand der Leidenschaft, des Hasses, der perfiden Faszination und vermeintlicher Überlegenheit. «Seine [des Antisemiten; Anm. d. Verf.] einzige Sorge besteht darin, Geschichten zu sammeln, die die Geilheit des Juden offenbaren, seine Gewinnsucht, seine Schlauheit, seine Wortbrüchigkeit» (31). Darin besteht, so Julijana Ranc in Anschluss an Sartre, der «Sucht- und Lustcharakter des Ressentiments».[3] Hierbei sei eine emotional vorgefärbte, von Antisemit:innen selbst hervorgebrachte «Idee vom Juden» maßgeblich, die mit realen Jüdinnen und Juden nichts zu tun habe und gerade aufgrund dieser Erfahrungsunabhängigkeit immer wieder an der Realität «bestätigt» werden müsse (14).

Hannah Arendt hingegen forciert in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951)[4] eine politische Perspektive, die auch jüdische Realgeschichte in die Analyse einbezieht. Entgegen der These Sartres, «nicht die ‚historische Tatsache‘, sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure vom Juden machten», sei bestimmend für den Lauf der Geschichte – bis hin zum Verhalten von Jüdinnen und Juden selbst – (13), will Arendt Jüdinnen und Juden als selbstständige, gesellschaftliche Akteur:innen und nicht nur als Projektionsfläche, «Produkt» oder Opfer der Antisemit:innen verstanden wissen. Erst der totalitäre Antisemitismus des Nationalsozialismus habe sich von realen Konflikten oder Erfahrungen vollkommen unabhängig gemacht, was Arendt zufolge jedoch nicht an dessen projektivem Charakter liege, wie sowohl Sartre als auch Horkheimer und Adorno konstatierten, sondern «im Wesen der totalen Herrschaft und in der Bedeutung, die der Terror darin einnimmt», begründet sei.[5]

Die Überschneidungen zwischen den Überlegungen Sartres und der Antisemitismustheorie von Horkheimer und Adorno sind nicht nur bezüglich der Betonung des Projektiven auffällig. Starke Ähnlichkeiten zeigen sich u. a. auch bei der Beschreibung des Antisemitismus als kollektiven Wahn, als Wut gegen Schwäche, als Sehnsucht nach gesellschaftlich gebilligter Triebentladung, als autoritäre Rebellion, die das Bestehende bestätigt. Dass Sartre seine Erkenntnisse jedoch ohne systematische, empirische Forschung erzielen konnte, überraschte sogar Adorno, der von einer verblüffenden Übereinstimmung zwischen Sartres Einsichten und den Ergebnissen der eigenen Studien zum autoritären Charakter spricht:

«Verblüffend ist, wie Sartres Ausführungen, von denen wir erst Kenntnis bekamen, nachdem wir bereits damit begonnen hatten, unsere endgültigen Ergebnisse zu verschriftlichen, mit unseren eigenen Interpretationen sich deckt, teils bis in konkreteste Details […].»[6]

Ingo Elbe stellt darüber hinaus fest, dass viele der Aspekte, die von der Antisemitismusforschung erst ab den 1990er Jahren eingehender analysiert wurden, bereits 50 Jahre zuvor in Sartres Überlegungen zu finden waren:

«Die Erfahrungsunabhängigkeit des Antisemitismus (Goldhagen), sein Charakter als kultureller Code (Volkov), der die zentralen Konflikte der Moderne in verkehrter Weise artikuliert und in Gestalt des Erlösungsantisemitismus (Friedländer) in pathologischer Form zu bewältigen versucht, seine manichäischen und nationalistischen Elemente (Holz/Haury), die eliminatorische Dimension des ‚demokratischen‘ Blicks auf den Juden (Goldhagen) und vieles mehr.»[7]

Elbe widmet sich in seiner Auseinandersetzung mit Sartres Thesen insbesondere deren existentialistischen Grundlagen. Als einer der Hauptvertreter des Existentialismus betont Sartre auch in Bezug auf den Antisemitismus das Moment absoluter Freiheit des (antisemitischen) Individuums: «Der Antisemitismus ist eine freie Wahl, eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und Gesellschaft gegenüber einnimmt […].» (14) Sartre versteht Antisemitismus also nicht nur als ein aversives Verhältnis von nicht-jüdischen Personen zu Jüdinnen und Juden, sondern als eine frei gewählte Haltung, die das gesamte Selbst- und Weltverhältnis des antisemitischen Subjekts bestimmt; auf emotionaler, wie auf kognitiver Ebene (11). «Indem er sich zum Antisemitismus bekennt», so Sartre, «übernimmt er nicht einfach eine Meinung, sondern wählt sich als Person» (35). Antisemit:innen entscheiden sich Sartre zufolge dazu, in einem leidenschaftlichen Zustand zu leben, in dem rationale Gesichtspunkte und reale Erfahrungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Durch die antisemitische Wahl können sich Antisemit:innen eine Welt imaginieren, die durch klare Gesetze, durch Tradition, gefühlte Gewissheiten, vererbbare Privilegien und einen starren Dualismus von Gut und Böse bestimmt sei.

Während Sartre davon spricht, dass die Leidenschaft des Antisemitismus durch keine äußeren Reize hervorgerufen werde, sondern erst durch die antisemitische Wahl entstehe, verorten die Vertreter der Kritischen Theorie den Ursprung des sich antisemitisch ausagierenden Affekts in der Zivilisationsgeschichte und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Bezugnehmend auf die existentialistische Fokussierung auf das Individuum und dessen Entscheidungsfreiheit diagnostiziert Samuel Salzborn dem Text eine «gesellschaftstheoretische Unterkomplexität» und konstatiert: «Es [das Argument der freien Wahl, Anm. d. Verf.] übersieht, dass es objektive Sozialstrukturen gibt, die individuelle Entscheidungen ermöglichen oder verhindern […].»[8] Auch Adorno spricht von der Unmöglichkeit, das Individuum «als Absolutum zu behandeln», das seine Haltungen frei wählen können. Man müsse es auch in seiner Rolle als «Agentur der gesellschaftlichen Unterdrückung» verstehen.[9] Gleichzeitig erkennt Adorno in dem Argument der «selbstgewählten Haltung» auch Ähnlichkeiten zu der eigenen These vom «funktionalen Charakter» der antisemitischen Ideologie, die einem «schwachen Ich», der geahnten Unwahrheit zum Trotz, zur Stabilisation verhelfe, «so fadenscheinig sie auch sein möge».[10]

Eine solche Stabilisation tritt nach Sartre auch dann ein, wenn Antisemit:innen aus Angst vor der eigenen Freiheit die Ahnung abwehrten, «daß die Welt schlecht eingerichtet ist» (28). Denn sich diese Tatsache einzugestehen, würde mir der Verantwortung einhergehen, die Bedingungen, unter denen man leidet, zu verändern; eine Verantwortung, welche die Person, die den Antisemitismus als Selbst- und Weltverhältnis wählt, nicht zu tragen bereit sei. Stattdessen rede sie sich ein, die Ordnung der Welt sei an sich gut, ihnen selbst gewogen und nur durch eine externe Störung, durch böse Einflüsse, die mit dem Jüdischen identifiziert werden, konterkariert. Folglich bestehe die «Lösung» in einer Vernichtung «des Bösen»/«des Jüdischen» durch «das Gute» und die Wiederherstellung einer vermeintlich natürlichen Ordnung. Für Antisemit:innen sind es nicht gesellschaftliche und ökonomische Macht- und Besitzverhältnisse, die Ungleichheit und Leid produzieren. Es sollen «die Juden» sein, die aus einem ihnen vermeintlich natürlicherweise innewohnenden bösen Antrieb heraus Konflikte schürten. Der Lauf der Welt ist aus der Sicht der Antisemit:innen durch einen metaphysischen Kampf «des Guten» gegen «das Böse» bestimmt; ein Manichäismus, der sich geradezu religiös geriert, respektive sich aus der Tradition des christlichen Judenhasses speist (28).

In Abgrenzung zu dieser, reale gesellschaftliche Strukturen ignorierenden, Sicht auf Gesellschaft, definiert Sartre den Blick von Arbeiter:innen auf die soziale Welt. Ihre materialistische Weltsicht schütze sie davor, ein antisemitisches Weltbild zu wählen. Stattdessen wüssten sie, dass gesellschaftliche Veränderung keine Frage böser oder guter Mächte sei, sondern eine Frage des konkreten Kampfes ökonomischer Klassen, die sich durch reale Interessenskonflikte konstituierten:

«Von seinem täglichen Einwirken auf die Materie geformt, sieht der Arbeiter die Gesellschaft als Produkt realer Kräfte an, die nach strengen Gesetzen wirken. Sein dialektischer ‚Materialismus‘ bedeutet, dass er die soziale Welt genau so betrachtet wie die materielle Welt.» (25 f.)

Das bürgerliche Weltverhältnis hingegen sei aufgrund der unproduktiven Tätigkeit der Besitzenden und ihrer spezifischen Stellung im gesellschaftlichen Machtgefüge für antisemitische Haltungen prädestiniert. «In der Tat», so Sartre, «produziert der Bourgeois nicht: er leitet, verwaltet, verteilt, kauft und verkauft […]» (25). Für ihn stellt sich die Welt, wie sein berufliches Wirken, als Resultat individueller Entscheidungen dar, nicht aber als Produkt eines kollektiven Einwirkens auf die materielle und nicht-materielle Umwelt: «Der Antisemitismus, ein bürgerliches Phänomen, erscheint also als die Wahl, die kollektiven Ereignisse durch die Initiative der einzelnen Individuen zu erklären.» (26) Zur Erklärung gesellschaftlicher Missstände oder des eigenen Versagens kann schließlich ein «jüdische[r] Wille zur Weltherrschaft» herangezogen werden (27).

Dass auch die Arbeiter:innenklasse nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den Vereinigten Staaten keineswegs so immun gegen Antisemitismus war, wie Sartre noch 1944 annahm, zeigten die Studien des Instituts für Sozialforschung, die zu einer ähnlichen Zeit entstanden (The Authoritarian Personality; Antisemitism Among American Labor). Nicht zuletzt die ernüchternde Feststellung, dass in der Arbeiter:innenklasse nicht das revolutionäre Subjekt zu finden sei, sich diese vielmehr in den nationalsozialistischen Machtapparat einfügte, veranlasste die Kritischen Theoretiker zur Emigration. Und auch in den USA stellten sie in ihren umfassenden empirischen Arbeiten fest, dass der Antisemitismus in der Arbeiter:innenschaft durch das Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen keineswegs abgenommen, sondern im Gegenteil, noch stärker geworden war.[11]

Unbestritten ist jedoch, dass Sartre mit seinen Überlegungen zur Judenfrage einen Grundstein für ein erweitertes Verständnis des Antisemitismus gelegt hat. Noch heute zeigt der Text mit seinen eindrücklichen Schilderungen antisemitischer Leidenschaft die Leerstellen aktueller Antisemitismusforschung, die sich in Form von Einstellungsabfragen lange auf den kognitiven Aspekt ihres Gegenstandes konzentriert hat. Sozialwissenschaftliche Antisemitismustheorien, die den Ressentiment-Begriff in den Mittelpunkt stellen, versuchen – nicht zuletzt in Anlehnung an Sartres Rede vom Antisemitismus als «Weltanschauung und Leidenschaft» – kognitive und affektive Aspekte zusammen zu denken.[12] Auch die historische Antisemitismusforschung fragt seit einigen Jahren nach der Rolle und der historischen Wandelbarkeit von Gefühlen im Antisemitismus und bezieht sich hierbei auf Sartres Betrachtungen.[13] Der Text bleibt jedoch weiterhin eine Fundgrube theoretischer Überlegungen, die weiterzudenken und empirisch zu unterfüttern sich bis heute lohnen würde.
 


[1] Vgl. Schüler-Springorum, Stefanie & Süselbeck, Jan (Hrsg.): Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie, Göttingen 2021: Wallstein Verlag, S. 7.

[2] Sartre beschreibt mit «synkretistischer Totalität» eine «umfassende Haltung», die sich nicht nur auf das Verhältnis der Antisemit:innen gegenüber Jüdinnen und Juden beschränkt, sondern das gesamte Selbst- und Weltverhältnis bestimmt. Antisemitismus ist damit kein isoliertes, auf ein bestimmtes Objekt fixiertes, aversives Gefühl, sondern ein spezifischer Subjekt-Entwurf.

[3] Ranc, Juliane: „Eventuell nicht gewollter Antisemitismus“. Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern, Münster 2016: Westfälisches Dampfboot, S. 23.

[4] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955: Europäische Verlagsanstalt.

[5] König, Helmut: Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Weilerswist 2016: Velbrück Wissenschaft, S. 317.

[6] Adorno, Theodor W.: „Bemerkungen zu ‚The Authoritarian Personality‘ und weitere Texte“, hrsg. von Ziege, Eva-Marie, Berlin 2019: Suhrkamp, S. 57.

[7] Elbe, Ingo: „Angst vor der Freiheit. Ist Sartres Existentialismus eine geeignete Grundlage für die Antisemitismustheorie?“ In: Prodomo. Zeitschrift in eigener Sache, Nr. 14/2010, S. 425.

[8] Salzborn, Samuel: „Emotionen und Antisemitismus. Ein Streifzug durch die Geschichte der Antisemitismustheorie“, in: Schüler-Springorum, Stefanie & Süselbeck, Jan (Hrsg.): Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie, Göttingen 2021: Wallstein Verlag, S. 124.

[9] Adorno 2019, S. 59.

[10] Ebd., S. 60.

[11] Vgl. Ziege, Eva-Maria: Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Suhrkamp 2009: Frankfurt am Main, S. 187.

[12] Vgl. Ranc 2016.

[13] Vgl. Schüler-Springorum, Stefanie & Jensen, Uffa: „Einführung: Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus“, in: Schüler-Springorum, Stefanie & Jensen, Uffa (Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft, 39. Jahrgang/2013, Heft 4, Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht.
 


Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg 2020: Rowohlt (12 €, 288 S.).