Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Shoah und linkes Selbstverständnis Max Horkheimer & Theodor Adorno: Elemente des Antisemitismus (2011[1947])

Einer der wohl einflussreichsten Texte der Kritischen Theorie, der wichtige Anknüpfungspunkte für die moderne Antisemitismusforschung schuf.

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Autorin

Johanna Bach,

Den Entschluss zum Verfassen der Elemente des Antisemitismus fassten Max Horkheimer und Theodor Adorno im amerikanischen Exil, zu dem sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und ihren marxistischen Überzeugungen gezwungen waren. Eine erste Fassung des Textes mit sechs Thesen lag 1944 vor, eine siebte fügten die Autoren erst 1947 hinzu, als die Elemente als 5. Kapitel der Dialektik der Aufklärung in einem niederländischen Verlag veröffentlicht wurden. Das Buch avancierte jedoch erst in den späten 1960er Jahren zu einem der wohl einflussreichsten Texte der Kritischen Theorie und schuf mit den Elementen wichtige Anknüpfungspunkte für die moderne Antisemitismusforschung.

Vor dem Hintergrund der Erfahrung des totalitären Antisemitismus und der Shoa, fragen Horkheimer und Adorno, «warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt» (DdA, Vorrede). Um das Ausmaß der von den Deutschen begangenen Verbrechen analysierbar zu machen, gehen die Autoren mit ihren Betrachtungen in der Menschheitsgeschichte weit zurück und formulieren ihre Antisemitismustheorie als Zivilisationskritik. Sie betrachten den Prozess von Aufklärung und Zivilisation nicht als geradlinige Fortschrittserzählung, sondern als Entwicklung, der Tendenzen zur «Selbstzerstörung der Aufklärung» immanent sind (Vorrede). Antisemitismus ist Horkheimer und Adorno zufolge also weitaus mehr als ein aversives Verhältnis der nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung zu Jüdinnen und Juden. Die Ursprünge des Antisemitismus verorten sie in den grundlegenden Formen menschlicher Vergesellschaftung, Subjektivierung, und Wahrnehmung, sie betreffen das Verhältnis zu den eigenen Trieben wie zur äußeren Natur. Dementsprechend vielfältig und umfassend sind die Erklärungsperspektiven, die in den Elementen eröffnet werden. Neben den ideologiekritischen, ökonomischen, soziologischen, anthropologischen, religions- und erkenntnistheoretischen, sind wohl die psychoanalytischen Ansätze am einflussreichsten geworden. Dem von den Autoren selbst in der Vorrede zur Neuauflage der Dialektik der Aufklärung von 1967 herausgestellten «Zeitkern» und der Thesenhaftigkeit ihrer Theorie zum Trotz, zeigt sich gerade bezüglich der psychodynamischen Deutungen des Antisemitismus eine ungemeine Aktualität und Relevanz.

Der in den Elementen aufgeworfene und für die weitere Forschung wegweisende Perspektivwechsel liegt in einer Hinwendung zur Psychologie der Antisemit*innen und der psychodynamischen Funktionalität des Antisemitismus für diese – eine Herangehensweise, die zur selben Zeit auch von Jean Paul Sartre in seinem Text «Überlegungen zur Judenfrage» stark gemacht wurde. Der Versuch, den totalitären und mörderischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts durch eine Analyse realgeschichtlicher sozialer, politischer oder ökonomischer Konflikte und rationaler Interessen zu deuten,[1] muss angesichts der Irrationalität und Brutalität der nationalsozialistischen Verbrechen scheitern. Verweise auf einen zweckrationalen Nutzen für die antisemitischen Massen oder realgeschichtliche Erfahrungen mit Jüdinnen und Juden werden obsolet. Die wohl wichtigsten in diesem Zusammenhang beschriebenen psychische Mechanismen sind Projektion und autoritäre Rebellion.

These I

In der ersten These beschäftigen sich Horkheimer und Adorno mit dem Verhältnis von Faschismus, Liberalismus und Antisemitismus. Während den Faschisten ihr Antisemitismus als «Schicksalsfrage der Menschheit» und Jüdinnen und Juden ihnen als «Gegenrasse, das negative Prinzip als solches» galten, glaubten die Liberalen, Judenhass sei stets ein «bloßer Vorwand» gewesen und durch Assimilation und die Umsetzung einer liberalen Gesellschaftsordnung aus der Welt zu schaffen.

Beide Überzeugungen seien jedoch «wahr und falsch zugleich». Wahr sei die an sich grundfalsche faschistische Doktrin «in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr gemacht hat.» In der antisemitischen Alltagspraxis und schließlich in der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden wurden diese tatsächlich als «auserwählte[s] Volk» der Vernichtung preisgegeben. Als «Schicksalsfrage der Menschheit» erweise sich dieser Umstand deshalb, weil sich hier der Kulminationspunkt des grausamen Potentials zeige, das die «falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert» (DdA, S. 177).

Antisemitismus ist den Autoren zufolge also nichts der gesellschaftlichen Ordnung Äußerliches oder dem Faschismus Spezifisches, sondern Produkt der aufgeklärten Gesellschaft selbst. Diese These ist zentral für den weiteren Verlauf der Elemente und wird im Folgenden immer wieder aufgegriffen. An dieser Stelle zeige sich auch das fundamentale Missverständnis der liberalen Doktrin, die verkenne, dass der Judenhass aufs Engste mit der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft selbst verknüpft ist. Insofern sei sie mit ihrem Primat der Gleichheit zwar «als Idee» wahr, als Behauptung, sie sei bereits Realität, jedoch falsch. Wird, wie hier geschehen, «die Einheit der Menschen» kontrafaktisch als «prinzipiell bereits verwirklicht an[ge]setzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden» (Dda 178). Die Hilflosigkeit des Liberalismus, dem Antisemitismus zu begegnen, liegt den Autoren zufolge also in der Unfähigkeit begründet, ihre eigenen bürgerlich-aufklärerischen Ideale als Ursache desselben zu reflektieren.

Eine weitere These, die insbesondere in der 5. These genauer erläutert, hier aber bereits angedeutet wird, ist die des projektiven Charakters des Antisemitismus, durch den die Antisemit*innen ihrem Hassobjekt «ihr eigenes Wesen» aufzwingen. Die den Jüdinnen und Juden unterstellten Eigenschaften erweisen sich bei genauem Hinsehen als Eigenschaften oder Wünsche der Antisemiten selbst (DdA 177).

These II

Die zweite These beschäftigt sich mit der Frage nach dem ökonomischen und politischen Nutzen des Antisemitismus für die breite Masse und die herrschende Schicht. Im weitesten Sinne geht es also um die Frage der «Zweckmäßigkeit» des Judenhasses.

Zentral für diese These ist die Überzeugung, dass der Versuch, den Judenhass im Sinne der Zweckrationalität als Niederschlag eines rationalen Interesses zu deuten, irreführend sei. Diese Feststellung taucht in den Elementen in unterschiedlichen Varianten immer wieder auf. An dieser Stelle wird zunächst die Deutung zurückgewiesen, die prekären Massen hätten durch die «Arisierung» jüdischen Eigentums einen materiellen Vorteil erfahren und insofern ein in der Logik der herrschenden Rationalität nachvollziehbares Interesse an antisemitischen Maßnahmen.[2] Der Antisemitismus sei vielmehr «[f]ür das Volk […] ein Luxus» (DdA 179).

Hinter der Attraktivität des Antisemitismus steht demnach kein rationales Interesse, sondern ein destruktiver Wunsch. Er speist sich aus der Unerträglichkeit des Gedankens an einen Zustand, der wirklich frei wäre von Herrschaft, Mangel und Leid; eine Hoffnung, die Antreiber der Aufklärung war, jedoch nie eingelöst werden konnte. Der Gedanke an dieses versagte Glück werde derart unerträglich, dass er verdrängt und alles, was in der Realität an ihn erinnert, ausgelöscht werden müsse. So würden nicht nur die eigenen Wünsche nach einem besseren Leben, sondern auch jene verfolgt, denen es vermeintlich besser geht.

Das Ausagieren aggressiver Wünsche im Antisemitismus diene letztlich der Aufrechterhaltung des schlechten Zustands, der aus sich heraus das Leid produziere, aber nicht als dessen Ursache durchschaut werden könne. Insofern sei er für jene, die von bestehenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen tatsächlich ökonomisch oder politisch profitieren «funktional» (DdA 179). Der antisemitische Mob jedoch, reagiere sich in der Intentions- und Ziellosigkeit antisemitischer Pogrome und Morde nahezu besinnungslos und ritualhaft ab und bestätige darin seine eigene Unterdrückung (DdA 180). Gerade, weil der Antisemitismus so wenig mit echten Interessen, Erfahrungen oder realen Jüdinnen und Juden zu tun habe, sei er ebenso schwer «zufrieden zu stellen» wie durch Argumente zu widerlegen.

Um Antisemitismus erklären zu können muss den Autoren zufolge also über «[d]ie bündig rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen und Gegenargumente» hinausgegangen und das Phänomen psychoanalytisch und zivilisationskritisch gedeutet werden.

These III

Die dritte These widmet sich schließlich dem spezifisch «bürgerlichen Antisemitismus» und orientiert sich bezüglich der Analyse des Verhältnisses von Produktions- und Zirkulationssphäre eng an Marx, verknüpft sie jedoch mit einer psychoanalytischen Deutung.

So fragen die Autoren nach der psychodynamischen Attraktivität und den Mechanismen antisemitischer Welterklärung seitens der Kapitalist*innen wie der Arbeiter*innen. Es gebe einen «spezifisch ökonomischen Grund» für den Antisemitismus des sich herausbildenden bürgerlichen Kapitalismus: «die Verkleidung der Herrschaft in Produktion». Das Argument lautet, dass der Antisemitismus die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus, die zwischen den Arbeiter*innen und den Produktionsmittelbesitzenden bestehen, «verkleidet», sie der Wahrnehmung der Subjekte auf eine bestimmte Art entzieht. Und dies gilt den Autoren zufolge für Kapitalist*innen wie Arbeiter*innen, jedoch auf unterschiedliche Weise.

Horkheimer und Adorno stellen die These auf, dass sich im Antisemitismus der Kapitalist*innen ein «Selbsthaß» ausdrückt. Dieser entstehe, weil sie eigentlich wüssten, dass sie ihre Arbeiter*innen ihren gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz ausbeuten: Sie verweisen auf die Freiheit des Arbeitsvertrags und gleichen sich habituell den arbeitenden Schichten an, erklären Arbeit zum Ideal und sich selbst zum «Funktionär der Klasse» (182). Es geht den Autoren zufolge beim Antisemitismus der bürgerlichen Klasse nicht nur um Herrschaftssicherung, sondern ebenfalls um Schuldabwehr, um die Erleichterung des «schlechte[n] Gewissen[s] des Parasiten» (DdA 184), indem sie Jüdinnen und Juden «das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufbürde[n]» (DdA 183).

Auf Seiten der Arbeiter*innen sei der Antisemitismus «gesellschaftlich notwendiger Schein», der die Erfahrung ihrer eigenen Ausbeutung, die in der Produktion, also während der Arbeit selbst und mit Einwilligung in das «Prinzip der Entlohnung» gegenüber dem Produktionsmittelbesitzenden stattfindet, in die Sphäre des Marktes und des Konsums verlagerten. Jüdinnen und Juden, die lange in die Zirkulationssphäre «eingesperrt» (183) waren, erscheinen als die Schuldigen. Denn erst auf dem Markt und im Verhältnis zu den Preisen der Güter zeige sich, was den Lohnabhängigen vorenthalten wird. Als Herrschaft noch «unmittelbar repressiv» war und Arbeit als «Schmach» galt, lagen die Ausbeutungsverhältnisse für die zur Arbeit Verdammten offen zu Tage und ihre Ausbeuter*innen mussten sie weder vor ihnen noch vor sich selbst zu verschleiern versuchen (182).[3]

These IV

Die vierte These beschäftigt sich mit den religionstheoretischen Grundlagen des völkischen Antisemitismus. Dieser habe sich seinem Selbstverständnis nach von seinen religiösen Ursprüngen losgesagt und bediene sich vermeintlich rationaler Argumentationen, die sich auf «Reinheit von Rasse und Nation» bezögen. Doch, so glauben Horkheimer und Adorno, setzte sich das religiöse Erbe weiter fort, jedoch als verdinglichter, seinen potenziell versöhnlichen Inhalten beraubter «fanatischer Glaube» an die Bestimmung der völkischen Bewegung und deren Führer, sowie als «Haß gegen die, welche den Glauben nicht teilen» (185). So komme die ursprünglich in den Religionen gebundene Sehnsucht nach einem besseren Leben schließlich dem Faschismus zugute und werde dort als «völkische Rebellion kanalisiert» (185).

Die ursprüngliche Feindschaft des Christentums gegen das Judentum erklären die Autoren unter anderem mit der Zurückweisung des christlichen Selbstbetrugs, der darin bestünde, sich das religiöse Heilsversprechen durch die Menschwerdung Gottes als bereits eingelöst einzureden. Durch den christlichen Glauben an die Fleischwerdung des Geistes und dessen die Menschheit erlösenden Opfers, würde das Endliche fälschlicherweise dem Absoluten angenähert und dadurch idealisiert. Es werde eine Versöhnung zwischen Geist und Natur, zwischen Endlichem und Unendlichem behauptet, die eigentlich noch ausstünde. Damit sei «die Vermenschlichung Gottes durch Christus […] das proton pseudos»; die erste Lüge, auf die sich die Christen wider besserer Ahnung verzweifelt stützten und jene, die an die Unwahrheit dieser Vorstellung gemahnen, verfolgten. «Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die, welche es besser wissen» (188).

These V

In der fünften These wird der Kern der «philosophischen Urgeschichte des Antisemitismus» anhand einer psychoanalytisch vermittelten Zivilisationskritik entworfen, in deren Zentrum das Naturverhältnis der Menschen steht. Zentrale Begriffe sind hier Idiosynkrasie und Mimesis.

Als idiosynkratisch verstehen Horkheimer und Adorno reflexhafte, körperliche Reaktionen auf äußere Gefahren, die sich der bewussten Steuerung des Subjekts entziehen und aus der «biologischen Urgeschichte» des Menschen stammen. Das Erstarren der Muskeln im Moment des Schreckens, das Aufstellen der Haare im Moment des Ekels, instinktive Abscheu usw. entmächtigen das Ich zum Zwecke der Selbsterhaltung.

Auch der Begriff der Mimesis verweist auf ein vorzivilisatorisches Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt. Angesichts ihrer angsteinflößenden Übermacht konnte Schutz nur von einer «organischen Anschmiegung ans andere» ausgehen (189). Der Mensch musste sich der Natur angleichen, spontan und unmittelbar auf sie reagieren, um als Teil der Natur in ihr überleben zu können.

Im Prozess der Zivilisation drehe sich dieses Verhältnis nun um. Anstelle des anschmiegenden, mimetischen Verhaltens trete Arbeit als «rationale Praxis» und Manipulation. Der Mensch leugne seine eigene Naturhaftigkeit. Die Angst vor der Übermacht der Natur soll durch ihre Beherrschung überwunden werden; so zumindest das Versprechen der Aufklärung, das sie jedoch nicht einhalten kann. Stattdessen trete nun anstelle der übermächtigen Natur die Gewalt der Gesellschaft, die zur «zweiten Natur» und nicht minder überwältigend werde. Das Ich konstituiere sich so in der Verhärtung gegen die äußere und innere Natur. Wo Anschmiegung und Hingabe waren, bleibe nur noch das frühzeitliche Erstarren und der absolute Wille zur Beherrschung übrig, was sich, so die Autoren, auch in den naturbeherrschenden Wissenschaften spiegelt, die mit ihren starren Systemen und Begriffsapparaten das Unberechenbare und Unbeherrschbare der Natur zu bannen versuchen (190).

Mimesis gilt, so die Autoren, auf dieser Stufe der Zivilisation als rückschrittig. Alles, was noch an sie erinnere, indem es sich der Beherrschung entzieht, sei es die sinnliche Hingabe, die unbeherrschten Regung oder der nicht-manipulierte Ausdruck des Kindes, selbst noch der Klagelaut der in den Konzentrationslagern Gemarterten, erzeuge Wut auf das, was überwunden geglaubt wurde und wonach sich die Zivilisierten insgeheim sehnten.

Der Antisemitismus ist nun, Horkheimer und Adorno zufolge, der rationalisierte Ersatz für das tabuisierte mimetische Bedürfnis: Die Antisemit*innen berufen sich auf Idiosynkrasie, um ihren Hass gegen Jüdinnen und Juden, denen eine größere Naturnähe unterstellt wird, zu begründen und erlauben sich in den antisemitischen Parodien, Hetzreden und Ausschreitungen die organisierte Regression und die gemeinschaftliche Trieberuption. Hier darf im Kollektiv genossen werden, was eigentlich unterdrückt werden sollte: «Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar nutzbar zu machen strebt» (194).

These VI

Die sechste These beschäftigt sich nun intensiv mit dem projektiven Charakter des Antisemitismus, der auch in den Thesen zuvor immer wieder angedeutet wurde. Hierbei verschränken Horkheimer und Adorno erkenntnistheoretische Überlegungen mit psychoanalytischen Erklärungsansätzen.

Sie unterscheiden zwischen unterschiedlichen Formen der Projektion: Von der Projektion als notwendigem Mechanismus jeder Wahrnehmung, bis hin zur falschen oder pathischen Projektion, die der Paranoia gleicht und das antisemitische Weltbild bestimmt.

Projektion beschreibt zunächst einen Versuch, innere und äußere Konflikte bzw. Dissonanzen aufzulösen. Bzgl. der menschlichen Wahrnehmung stellt sich die Frage, wie das Subjekt in der Lage ist, die Objekte der Außenwelt adäquat zu erfassen. Die Autoren lehnen diesbezüglich sowohl die positivistische Perspektive einer rein passiven Aufnahme objektiver Daten als auch die Position des absoluten Idealismus – als Konstruktion des Außen durch subjektive Kategorien – ab. Zu denken sei die Beziehung von Subjekt und Objekt in ihrer Vermittlung. Erkenntnis sei nur möglich, sofern das denkende Ich sich den sinnlichen Eindrücken möglichst offen hingebe und gleichzeitig aktiv dazu beitrage, durch seine begrifflichen Fähigkeiten und sein kategoriales Vorwissen den einzelnen Eindrücken in sich zu einer «synthetischen Einheit» zu verhelfen. So bilde das Subjekt die Objektwelt mithilfe aus dem Subjekt stammender Ordnungskategorien in sich ab, ohne jedoch dem Trugschluss anheim zu fallen, diese Abbildung sei unveränderliche und unvermittelte Objektivität. Im Gegenteil: In der «bewußten Projektion» sei das Subjekt in der Lage, seinen eigenen, durchaus fehlbaren Anteil an der Erkenntnis zu reflektieren und ggf. zu revidieren: Im «reflektierten Gegensatz» von Subjektivem und Objektiven, von Wahrnehmung und Gegenstand zeige sich «die Möglichkeit von Versöhnung» (198) der «vermittelte[n] Unmittelbarkeit» (203).

Im psychoanalytischen Sinn bedeute Projektion ebenfalls ein spezifisches Verhältnis von Innen und Außen. Das Subjekt verlagert hier insbesondere jene innerpsychischen Anteile in die Außenwelt, die in ihm selbst zu Unlustgefühlen führen; so zum Beispiel unterdrückte, weil gesellschaftlich tabuisierte Triebregungen, die nun nicht als Ansprüche des eigenen Unbewussten, sondern als externe, von den Objekten der Außenwelt ausgehende Angriffe wahrgenommen und bekämpft werden können. Dieser Abwehrmechanismus sei für das Subjekt einfacher, als die eigene Sehnsucht nach Trieb- oder Wunscherfüllung anzuerkennen und sie entgegen gesellschaftlichen Widerständen durchzusetzen oder sich ihre Vergeblichkeit einzugestehen. Die durch diese Unmöglichkeit der Erfüllung entstehende Wut gelte dann nicht mehr der eigentlichen Ursache der Versagung – der gesellschaftlichen Ordnung –, sondern denjenigen Objekten, an die sich die Projektion heftet (202). Das «Ersehnte [wird] zum Verhaßten» und in der Vernichtung desselben kommt es zu einer negativen Wunscherfüllung (209). Im Antisemitismus sind Jüdinnen und Juden das bevorzugte Objekt solcher Projektion und Verfolgung.

Das Gefährliche oder «Pathische» der antisemitischen Projektion ist den Autoren zufolge nun die absolute Unfähigkeit, sich die Falschheit dieser Wahrnehmung durch Selbstreflexion oder Gegenbeweise einzugestehen. Das antisemitische Subjekt habe die Fähigkeit eingebüßt, der Differenz von Innen und Außen Rechnung zu tragen und verwechsle das, was aus seinem Innern stamme, seine vorgefertigten Begriffe, Urteile und Erwartungen, aggressiven Triebe und Wünsche mit objektiven Gegebenheiten. So werde die Außenwelt zu einer realitätsfernen Spiegelung des «entäußerten Selbst» (199); ein Selbst, das durch Triebunterdrückung und die damit einhergehenden Kategorien der Herrschaft und des Beherrscht-seins, des Angriffs und der Gegenwehr geprägt sei. Sein Verhältnis zur Außenwelt werde dadurch paranoid. Überall wittere es den Angriff und die Verschwörung, sei jederzeit zum Gegenangriff bereit (206).

Dass reale Jüdinnen und Juden mit den auf die projizierten Eigenschaften nicht übereinstimmen, tut der Wirksamkeit der Überzeugung des antisemitischen Subjekts keinen Abbruch. Vielmehr wurde die Wahrheit der «paranoiden Projektion», die Übereinstimmung von antisemitischer Wahnvorstellung und der tatsächlichen alltäglichen Praxis in der staatlich organisierten Form des deutschen Faschismus gewaltsam erzwungen, und so eine «falsche Unmittelbarkeit» herstellt (203) – das Gegenteil der mimetischen Versöhnung, in der das Subjekt sich selbst der Umwelt ähnlich macht (196). «Die Antisemiten […] verwandeln die Welt in die Hölle, als welche sie sie schon immer sahen» (209).

Was als individuelles Verhalten pathologisch erscheinen müsste, kann im Kollektiv Gleichgesinnter rationalisiert werden. In der wechselseitigen Bestätigung des Wahns kann sich dieser als Norm gerieren und Selbstreflexion sowie echte Erfahrung mit dem Objekt überflüssig machen (206). Als Tendenz sei die Leugnung der Differenz jedoch auch den naturbeherrschenden Wissenschaften mit ihren starren Systemen zur «Erfassung des isoliert Faktischen» (207), dem Phänomen der «Halbbildung» und (religiösen) Glaubenssystemen als Unfähigkeit, den «Abgrund der Ungewißheit» auszuhalten, immanent (202).

Zugute komme dieses projektive Weltverhältnis letztlich der gesellschaftlichen Herrschaft, die eigentlich überflüssig geworden, sich nur so lange an der Macht halten könne, wie das in der negativen Wunschprojektion Externalisierte nicht als tatsächliche Sehnsucht der Subjekte sein Recht gegen die Unterdrückung einfordere. Hierin liegt für Horkheimer und Adorno das Potential zur Überwindung des Antisemitismus und zur «individuelle[n] und gesellschaftliche[n] Emanzipation» (209).

These VII

Die siebte These wurde den Elementen erst 1947, also zwei Jahre nach Kriegsende hinzugefügt und reflektiert den Antisemitismus nach der Shoa. Sie beginnt mit dem bekannten und interpretationswürdigen Satz: «Aber es gibt keine Antisemiten mehr» (209). Gemeint ist damit allerdings nicht, dass mit der Befreiung der Konzentrationslager tatsächlich auch der Antisemitismus aus der Welt verschwunden wäre. Diese Annahme wird nicht zuletzt durch die eigenen Studien des IfS aus den 1950ern widerlegt (Gruppenstudie), in denen sich zeigte, wie wirkmächtig antisemitische Einstellungen, die zwar in der Öffentlichkeit tabuisiert waren, unterschwellig weiterleben konnten. Statt des Verschwindens beschreiben Horkheimer und Adorno einen Formwandel des völkischen, durchaus affektgeladenen «Prügelantisemitismus». Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sei das Bekenntnis zum Antisemitismus noch eine Frage «subjektiver Wahl» gewesen, in der konkurrierende Motive gegeneinander abgewogen wurden. Inzwischen jedoch sei der Antisemitismus «kaum mehr eine selbstständige Regung», die in Form der «antisemitischen Psychologie» tief im Subjekt verankert sei, sondern lediglich Ausdruck einer universell geworteten «Stereotypie», die sich im «Ticketdenken» des Zeitalters der Blockmächte manifestiere (210). Der Begriff des «Tickets» beschreibt eine vorgefertigte politische Weltanschauung, deren Inhalt eher zufällig zu einem Ganzen zusammengeschmolzen und unhinterfragt von den Subjekten übernommen werde. So seien antisemitische Einstellungen zwar ein Teil des «faschistischen Tickets», aber keinesfalls dessen Alleinstellungsmerkmal. Die Wahl dieses Tickets hinge demnach nicht von genuin antisemitischen Einstellungen der Subjekte ab: «Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielt» (210). Vielmehr müsse der «faschistische Antisemitismus» sein Objekt, als Zielscheibe der psychischen Dispositionen seiner Anhänger «gewissermaßen erst erfinden» (216).

Horkheimer und Adorno vergleichen diese Art politischer «Willensbildung» mit der kulturellen und industriellen Massenproduktion, die Unterschiede einebne und nach wenigen, austauschbaren Schemata funktioniere. Individuelles Wahrnehmen, Urteilen, Erfahren und Handeln sei vor diesem Hintergrund kaum mehr möglich, noch erwünscht, was sich nicht nur im «faschistischen Ticket» zeige, sondern auch auf das «progressive Ticket» zutreffe. Die «Wut auf die Differenz» als Kern des Antisemitismus sei zum universellen Formprinzip geworden und korrumpiere so auch die freiheitlichen Ideale der Progressiven (217).

So hätten die ökonomischen Strukturen die Menschen bis in ihre Organe hinein nach ihren Bedürfnissen geformt und als eigenständige Subjekte, von denen noch ein kritisches Vernunftpotential ausgehen könnte, verkümmern lassen und der «Verdinglichung» ausgesetzt (213). Das Individuum sei «[i]m Fortschritt der Industriegesellschaft» ganz in der Stereotypie und dem Schematismus der Massen aufgelöst, Konflikte zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv durch diese Einebnung vorgebeugt.

Doch sehen Horkheimer und Adorno gerade in der von jeder Erfahrung und Reflexion abgetrennten Totalität des stereotypen Ticketdenkens das Potential, dass «im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe» und somit überwindbar sei (217).

Problem der Objektwahl

Immer wieder stellt sich im Verlauf der Elemente die Frage, wieso es ausgerechnet Jüdinnen und Juden waren, die in der Geschichte der Zivilisation die Wut der Mehrheitsgesellschaft auf sich zogen. So nachvollziehbar das Entstehen eines grundlegenden «Unbehagens» an dem geforderten Triebverzicht im Laufe des Zivilisationsprozesse und die damit zusammenhängenden psychodynamischen Mechanismen von Horkheimer und Adorno dargelegt werden können, so vage und teilweise widersprüchlich bleiben die Erklärungen für die antisemitische Objektwahl.

Die Herleitung der Shoa aus Überlegungen, die in der Menschheitsgeschichte derart weit zurückgreifen und universelle, anthropologische Fragen des Naturverhältnisses und der Subjektwerdung betreffen, ist teilweise schwer mit der Realgeschichte zusammen zu denken. Wenn die psychische Energie des Antisemitismus aus dem Prozess der Aufklärung selbst als Rebellion der «unterdrückten Natur» erwächst, die sich projektiv und irrational ausagiert, so scheint angesichts der jahrtausendelangen Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden doch die Notwendigkeit einer Erklärung zu bestehen, die über den Verweis auf die reine Zufälligkeit oder Austauschbarkeit der Opfer hinausgeht.

Verschiedene Eigenschaften werden in den Elementen genannt, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen als Opfer prädisponieren; u. a. Auffälligkeit bei gleichzeitiger Schutzlosigkeit. Diese Charakterisierung trifft allerdings auf die meisten Minoritäten einer Gesellschaft zu, die ebenfalls immer wieder Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt waren, gerade im NS. Zumindest der Aspekt der Auffälligkeit trifft auf assimilierte Juden jedoch weitaus weniger zu. Ein weiterer Aspekt, den die Autoren nennen, ist die tatsächliche oder vermeintliche Naturnähe und Freiheit der potenziellen Opfer. Ihnen wird unterstellt, sich dem zivilisatorischen Zwang zur Triebeinschränkung, zu körperlicher Arbeit und Sesshaftigkeit zu widersetzen, was durch die negative Wunschprojektion als anstößig und regressiv wahrgenommen wird. Dass diese Eigenschaften historisch tatsächlich, aber keinesfalls ausschließlich, bei Jüdinnen und Juden anzutreffen waren, liegt auch an der Verfolgungspraxis selbst, die ihnen den Zugang zu bestimmten Berufszweigen, zu politischer Mitbestimmung und gleichen staatsbürgerlichen Rechten vorenthielt. Gleichzeitig galten Jüdinnen und Juden durch diejenigen Positionen, die ihnen von der Herrschaft, von deren Schutz sie abhängig waren, zugewiesen wurden, und durch ihre religiös bedingte Nähe zu universellen, geistigen Prinzipien, als Vorreiter und Repräsentanten von Aufklärung und Kapitalismus.

Insofern scheint hier noch eine Verbindung zur Realgeschichte des Judentums herstellbar, doch wird diese Verbindung wiederum fragwürdig, erkennt man die Tatsache an, dass die zugeschriebenen Eigenschaften teilweise ungemein widersprüchlich sind und sich der Antisemitismus weder durch Assimilation noch durch Abwesenheit von Jüdinnen und Juden beschwichtigen ließ und lässt. Widersprüchlichkeiten in den Zuschreibungen konnten durch die Behauptung einer «jüdischen Rasse» zu «verschiedenen Erscheinungsweisen eines einzigen Wesens» erklärt werden.[4] Und der Antisemitismus «ohne Juden» ist insbesondere in der Nachkriegszeit zu einem Problem geworden – auch in den USA.

Je weiter sich der Antisemitismus also von der Realität seiner Objekte entfernt, je pathischer der projektive Vorgang, umso weniger kann man ihn verstehen, wenn man versucht, ihn aus realen Begebenheiten, Eigenschaften, Interessen und Konflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen herzuleiten – eine psychologische Erklärung wird notwendig. In dieser Hinsicht sind sich die Autoren der Elemente mit Jean Paul Sartre einig, der «die Idee des Juden» als rein psychisches Konstrukt des Antisemiten begreift. Die «Psychologie des Antisemiten» muss in den Vordergrund der Analyse gerückt werden.
 


[1] Hannah Arendt formuliert in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951/1955) eine solche korrespondenztheoretische Erklärung des modernen Antisemitismus.

[2] Im Gegensatz zu dieser These betont Götz Aly in seinem Buch Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) vermeintlich materielle Beweggründe der deutschen Bevölkerung für die Unterstützung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen an Jüdinnen und Juden.

[3] Mit ihrer Analyse legten Adorno und Horkheimer die Grundlage für spätere Debatten über die (Un-)Unterscheidbarkeit von «schaffenden» und «raffenden» Kapital und deren antisemitische Implikationen. Vgl. hierzu u. a. Moshe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus (1995).

[4] König, Helmut (2016): Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 311.
 


Max Horkheimer & Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2011: Fischer Verlag, 20. Auflage (288 S., 13 €).