In die Geschichtsbücher wird die Reise der drei Ministerpräsidenten am zurückliegenden Dienstag nach Kiew wohl kaum eingehen. Sie wird – wenn die Chroniken des Krieges gegen die Ukraine geschrieben werden – wohl eher eine Episode am Rande bleiben. Doch die elfstündige Zugreise von der polnischen Grenze in die umkämpfte Hauptstadt der Ukraine war gewiss ein Zeichen entschlossenen Mutes von Janez Janša (Slowenien), Petr Fiala (Tschechien) und Mateusz Morawiecki (Polen). Bei Jarosław Kaczyński, der seinen Ministerpräsidenten begleitete, kamen zudem tiefe persönliche Gründe hinzu, denn im Sommer 2008 hatte Zwillingsbruder Lech Kaczyński das von russischen Panzern bedrohte Tbilissi aufgesucht.
Initiiert von slowenischer, effektvoll umgesetzt von polnischer Seite, brachten die drei hochrangigen Vertreter aus dem 2004 beigetretenen Teil der Europäischen Union immerhin eine wichtige Botschaft mit nach Kiew. Neben dem persönlichen Schulterschluss mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem ukrainischen Amtskollegen Denys Schmyhal wurde Kiew klar bedeutet: Das östliche EU-Europa wird die Beitrittsperspektive der Ukraine unterstützen. Sollten nach dem Krieg hier und dort sich doch stärkere Bedenken breitmachen, werden die Länder, die 2004 und später Teil der Gemeinschaft geworden sind, in dieser Frage entschieden sein. So gesehen könnte die Reise der drei Regierungschefs nach Kiew fast schon als ein vorweggenommener erster Spatenstich gewertet werden für die künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine.
Polen steht in der vordersten Reihe
Doch jetzt tobt der Krieg, das Land verteidigt sich gegen einen – der Papierform nach – erdrückend überlegenen Gegner, der es feige überfallen hat. Dass nahezu die gesamte Welt, und sei es in manchen Teilen auch nur moralisch, hinter der kämpfenden Ukraine steht, ist ein außerordentlich wichtiger Fakt, der es dem Kriegstreiber sichtlich erschwert, noch mehr militärische Stärke in die Schlacht zu werfen. Und in der vordersten Reihe derjenigen, die die Ukraine in ihrem Überlebenskampf entschieden stärken und unterstützen, steht das Nachbarland Polen; auch so gesehen ist die Reise alles andere als ein Zufall gewesen.
Schnell war den Menschen an Oder, Weichsel und Bug klar, dass in der Ukraine nun ein weiteres Kapitel jenes legendären Kampfes «Für eure und unsere Freiheit» aufgeschlagen wird, in dessen Zeichen die eigene Geschichte lange Zeit gestanden hatte. Das Motto stammt von dem polnischen Historiker Joachim Lelelwel, der im Schmerz über die Niederlage des polnischen Nationalaufstandes gegen die Zarenherrschaft von 1830/31 eine Brücke zurückschlug zu den russischen Dekabristen von 1825. Auch beim nächsten Ausbruch 1863/64 blieb das aufständische Polen alleingelassen, äußere Solidarität hin oder her, und scheiterten an der russischen Übermacht. Übrigens standen Karl Marx und Friedrich Engels damals entschieden auf der Seite des kämpfenden Polens, auch wenn den beiden klar gewesen war, dass an sich Weniges dort in dem Geschehen unmittelbar zu tun hat mit der Sache, der sie sich längst verschrieben hatten – dem Befreiungskampf des modernen Proletariats. Doch sahen sie zu dieser Zeit in dem Waffenkampf erstens eine gerechte Sache für die Freiheit in Polen, zweitens ein wichtiges Moment, um den schädlichen Einfluss der absoluten Zarenmacht in weiten Teilen im östlichen Mitteleuropa zu brechen und zurückzudrängen. Es war zugleich der noch ungleiche Kampf für Demokratisierung und Gewaltenteilung, gegen das Prinzip der sich absolut setzenden Zarenmacht.
Erinnerung an die eigenen Kämpfe
Dieser weit zu den Kämpfen im 19. Jahrhundert zurückreichende Bogen wurde in Polen bereits nach der Krim-Annexion 2014 aufgespannt. Getragen wurde er vor allem vom liberalen Lager um Adam Michnik, dem Chefredakteur der Tageszeitung «Gazeta Wyborcza». Bereits damals erschien die Zeitung als Zeichen deutlichen Protestes in den Landesfarben der Ukraine. Diese sich aus tiefen historischen Gründen speisende Entschiedenheit strahlt bis heute hinüber bis weit ins linke Lager, was in diesen Tagen wieder seine Bestätigung findet. Da findet sich nirgends ein Wenn oder ein Aber, da sieht man sich einig in der zugespitzten Alternative: Putin oder die freie Ukraine!
Die enorme Hilfsbereitschaft in Polen für die aus der Ukraine flüchtenden Menschen speist sich mit der Wut über das ungeheuerliche Geschehen gleich auf der anderen Seite der Landesgrenze, mit der Ohnmacht, jetzt gar nicht anders helfen oder eingreifen zu können. Da werden Erinnerungen wach, die auf eigene Schicksalsmomente zurückweisen. Etwa der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als der Widerstand gegen den militärisch haushoch überlegenen Aggressor faktisch alleine ausgefochten werden musste, weil trotz der Kriegserklärung an Deutschland von den Verbündeten Frankreich und England eine rote Linie nicht überschritten wurde – mit dem scheinbar rationalen Argument, noch Schlimmeres zu verhüten. Und von Osten her rückte dann schließlich die Rote Armee ohne Kriegserklärung ein, um zu «befreien».
Die Menschen in der Ukraine kämpfen jetzt gegen die Gefahr, um die Unabhängigkeit, die staatliche Souveränität und die Freiheit des eigenen Landes gebracht zu werden. Sie geben ein Beispiel, welches in Polen keinem Schulkind erklärt zu werden braucht. Zu gut ist bekannt, dass in der Ukraine jetzt ausgefochten wird, was in der Geschichte des eigenen Landes bereits tragisch durchlebt wurde. Auch deshalb stehen die Bürgerinnen und Bürger Polens in diesen dramatischen Tagen so entschieden hinter der für die gerechte Sache streitenden Ukraine. Rote Linien – wie anderswo – würde hier niemand ziehen wollen. Viel eher sollten – so denken die meisten – alle erdenklichen Möglichkeiten ausgereizt werden. Freilich weiß man sich auch in Warschau sicher eingebettet in größere Zusammenhänge, die jetzt einen enormen Schutz garantieren. Heute steht die Ukraine dort, wo in der Vergangenheit man selbst zu oft gestanden hatte.
Dieser Artikel erschien zuerst in ND. Der Tag, 21. März 2022, S. 2.