Der Ausgang ist weit offener als bei vorherigen Wahlen - was auch daran liegt, dass sich mit der grün-linken Koalition „Moramo“ zum ersten Mal eine wirkliche Alternative im serbischen Parteienspektrum formiert hat.
Die Stimmung im Belgrader Kulturzentrum «Dom Omladine» (Haus der Jugend) als Gradmesser genommen, könnte in Serbien tatsächlich gerade so etwas wie ein Aufbruch stattfinden. Eine Woche vor den Wahlen war der große Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Immer wieder wurden die Reden der Kandidatinnen und Kandidaten der Wahlkoalition Moramo (Wir müssen) von Applaus unterbrochen. Zwar waren vor allem ökologische Forderungen zu hören, gleichzeitig war jedoch immer auch von Solidarität und Gleichheit die Rede, vom Schutz öffentlicher Güter sowie von der verheerenden autoritär-neoliberalen Politik der Regierung, die das Land an private Investoren verkauft und zum Reservoir für billige Arbeitskräfte macht.
Dirk Auer berichtet als freier Balkan-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien, darunter den Deutschlandfunk.
Die grün-linke Koalition Moramo ist tatsächlich der Versuch, die verschiedenen Initiativen, welche die jüngeren sozialen und ökologische Proteste in Serbien getragen haben, zu einer neuen parlamentarischen Kraft werden zu lassen. Einige der beteiligten Gruppen sind schon seit zehn Jahren aktiv, wie etwa Ne davimo Beograd (Lasst Belgrad nicht untergehen), deren Aktivistinnen und Aktivisten vor allem gegen die Zerstörung des urbanen Raums kämpfen. Andere haben sich erst während der jüngeren Proteste gegen den Lithiumabbau in Serbien oder die Zerstörung der Flusslandschaften durch Wasserkraftwerke gegründet. Es ist nicht unbedingt eine gemeinsame politische Vision, welche die verschiedenen Gruppen verbindet, sondern vielmehr das Ziel, sich - ausgehend von lokalen Problemen - für die Verbesserung der wirklichen Lebensbedingungen einzusetzen. Und das heißt in Serbien: Der Kampf für saubere Luft, gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Rechtsstaats sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne, mit denen es sich würdevoll leben lässt. Für Belgrad hat Moramo mit dem Politikwissenschaftler Dobrica Veselinović sogar einen eigenen Bürgermeisterkandidaten aufgestellt - wohl ermutigt durch den Erfolg der Koalition Možemo (Wir können) im Nachbarland Kroatien, die in der Hauptstadt Zagreb seit letztem Jahr den Bürgermeister stellt.
Die Voraussetzungen für einen ähnlichen Erfolg sind jedoch ungleich schwieriger. Denn anders als Kroatien hat sich Serbien politisch gesehen in Richtung eines Einparteiensystem entwickelt - mit dem Alleinherrscher Aleksander Vučić an der Spitze. Dieser hat laut Verfassung in seinem Amt als Staatspräsident, das er seit 2017 ausübt, eigentlich zwar rein repräsentative Aufgaben; als Chef der nationalpopulistischen SNS (Srpska Napredna Stranka - Serbische Fortschrittspartei) hält er jedoch alle Zügel der Macht in der Hand. Dazu kommt: Die letzten Parlamentswahlen 2020 wurden von den wichtigsten Oppositionsparteien boykottiert, weshalb es im derzeitigen Parlament praktisch keine Opposition mehr zur Regierung gibt. Folgerichtig stuft die amerikanische Organisation Freedom House das Land seit zwei Jahren nicht mehr als konsolidierte Demokratie, sondern als «hybrides Regime» ein.
Die EU hat die demokratischen Defizite in Serbien jedoch lange Zeit nicht sonderlich gestört. Denn Vučić versprach Stabilität: Praktisch über Nacht hatte sich der ehemalige Radikalnationalist 2007 zum EU-Befürworter gemausert, in der Kosovo-Frage zeigte er Verhandlungsbereitschaft und wirtschaftlich glänzte er mit einer soliden Haushaltsführung und einer neoliberalen Politik, die vor allem darauf setzte, das Land für Auslandsinvestoren attraktiv zu machen. Westliche Diplomaten, die anfänglich noch mit Skepsis auf den ehemaligen «Informationsminister» von Slobodan Milošević reagierten, waren begeistert. Sie setzten nun voll und ganz auf Vučić. Denn dieser, so hieß es, «liefert»: etwa die lange geforderte Vereinbarung mit Kosovo zur Normalisierung der wechselseitigen Beziehungen. Oder den Abbau von Sozialleistungen, die Aufweichung des Kündigungsschutzes, Steuersenkungen, und staatliche Förderprogramme für ausländische Investitionen. Während sich für die deutsche Industrie Serbien so zu einem attraktiven Standort gemausert hat, gilt das für die serbischen Arbeiterinnen und Arbeiter weniger: Zwar ist die Arbeitslosigkeit unter Vučićs Regentschaft von 25 Prozent auf knapp unter zehn Prozent gesunken. Dennoch ist immer noch rund ein Viertel der Bevölkerung gefährdet, unter die Armutsgrenze zu fallen - eine der höchsten Raten im europäischen Vergleich.
An der sozialen Frage setzt vor allem die Gruppe Solidarnost an, die den linken Flügel von Moramo bildet. Ihre Mitglieder, so Miloš Baković Jadzić, sind seit vielen Jahren an linken Kämpfen gegen die Privatisierung öffentlicher Güter und den Abbau sozialer Rechte beteiligt. Auch im Wahlkampf machen sie mit der Kampagne «Lohn zum Leben» darauf aufmerksam, dass in Serbien selbst Menschen mit einer Arbeit kaum über die Runden kommen: Das durchschnittliche Nettogehalt liegt bei umgerechnet monatlich rund 550 Euro, und jeder sechste Arbeitnehmende erhält gar nur den gesetzlichen Mindestlohn, der bei 343 Euro liegt. Schätzungen zufolge wandern deshalb jährlich etwa 50.000 Serbinnen und Serben ins Ausland ab. Ganze Regionen veröden, und insbesondere im Gesundheitsbereich ist die Situation durch die jahrelange Abwanderung des medizinischen Personals inzwischen mehr als kritisch.
Dass trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit die SNS und Aleksandar Vučić seit zehn Jahren keine einzige Wahl auf nationaler oder lokaler Ebene verloren haben, liegt zum einen an einem perfiden System politischer Kontrolle: Die Loyalität zur SNS verspricht Jobs und öffentliche Aufträge, was in einem verarmten Land wie Serbien dazu führt, dass die SNS fast 800.000 Mitglieder hat. Das sind mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Mehr Parteimitglieder hatte selbst die jugoslawische Kommunistische Partei nicht, relativ zur Bevölkerungsanzahl. Zum anderen kam Vučić bei Wahlen regelmäßig zu Gute, dass im Lager der Opposition jahrelang Akteure tonangebend waren, die sich diskreditiert oder in politischen Grabenkämpfen verbraucht haben. Die alte Galionsfigur der DS (Demokratska Stranka - Demokratische Partei), der frühere Staatschef Boris Tadić, wurde 2012 vor allem für die Wirtschaftskrise und sein Unfähigkeit abgestraft, der allerorten grassierenden Korruption Herr zu werden. Spaltungen und politische Machtkämpfe haben die Partei politisch weitgehend marginalisiert. Der Wahlboykott bei den letzten Parlamentswahlen 2020 hat die Opposition noch weiter ins Abseits katapultiert. Statt, wie gehofft, die Regierung zu delegitimieren, gratulierte die internationale Gemeinschaft dem erneuten Wahlsieger Vučić anstandslos. Verschiedene Proteste auf der Straße, mit teilweise mehreren zehntausende Teilnehmenden, fielen schnell wieder in sich zusammen.
Für die nun anstehenden Wahlen hat sich die Opposition auf drei Blöcke verteilt. Neben der grün-linken Koalition Moramo steht auf der rechten Seite der sogenannte «Patriotische Block» unter Führung der radikalnationalistischen Partei Dveri. In der Mitte haben sich die DS mit der Partei des früheren Belgrader Bürgermeisters Dragan Đilas (Stranka slobode i pravde, SSP - Partei Freiheit und Gerechtigkeit) und der konservativen NS (Narodna Stranka - Volkspartei) unter Führung des ehemaligen Präsidenten der UN-Vollversammlung Vuk Jeremić sowie der aus den Anti-Regierungsprotesten 2019 hervorgegangenen PSG (Pokret Slobodnih Građana - Bewegung freier Bürgerinnen und Bürger) zusammengeschlossen.
Doch Wahlkampf aus der Opposition heraus ist in Serbien schwierig. Schon die vorherigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen waren durch eine extrem einseitige Berichterstattung zu Gunsten der SNS und Aleksandar Vučićs gekennzeichnet. Insbesondere die regierungsnahen Boulevardmedien überziehen Oppositionspolitiker - und kritische Journalist:innen - regelmäßig mit Schmähkampagnen und setzen sie dem Verdacht aus, die Regierung «destabilisieren» zu wollen. Die Situation hat sich in den letzten Monaten zwar etwas gebessert, sagt Miloš Baković Jadzić. Kandidaten von Moramo würden inzwischen auch von den regierungsnahen Fernsehsendern eingeladen. «Aber es ist kaum möglich, mit einigen wenigen Auftritten zehn Jahre der Medienkontrolle zu kompensieren».
Für den Ausgang der Wahlen am 3. April gibt es außerdem mehrere Unsicherheiten, von denen die erste die Frage ist, ob diese überhaupt einigermaßen fair verlaufen werden. Bei den letzten Parlamentswahlen stellten unabhängige Wahlbeobachtende in fast jedem zehnten Wahllokal Unregelmäßigkeiten und Zwischenfälle wie Stimmenkauf, Fotografieren von Stimmzetteln und Mehrfachabstimmungen fest – ein signifikanter Anstieg im Vergleich zu früheren Wahlen. Eine weitere Frage ist, wie sich der Krieg in der Ukraine auswirkt. Die grün-linke Koalition hatte gehofft, das Momentum der ökologischen Proteste gegen ein geplantes Lithium-Bergwerk in West-Serbien zu nutzen. Zehntausende blockierten Ende vergangenen Jahres in ganz Serbien Straßen und Brücken; es war eine der größten Bürgerproteste der vergangenen Jahre. Doch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben ökologische und soziale Themen praktisch über Nacht wieder an Bedeutung verloren. «Wir versuchen», sagt Miloš Baković Jadzić, «trotzdem immer wieder, auf die eigentlichen Probleme zurückzukommen.» Aber das ist gerade bei den Parlamentswahlen, wo es nun um vorgeblich nationale Interessen geht, schwierig. Aleksandar Vučić hat schnell reagiert und tritt nun mit dem neuen Slogan «Frieden. Stabilität. Vučić» an. Dass sich Serbien nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligt, kommt an in einem Land, in dem um die 80 Prozent der Bevölkerung Russland als «traditionellen Verbündeten» sieht und noch mehr Menschen eine Mitgliedschaft Serbiens in der NATO ablehnen.
Nicht nur deshalb werden die Wahlen wohl kaum zu einem Regierungswechsel führen. Aleksandar Vučić, der für die Präsidentschaftswahl ein Ergebnis von 60 Prozent als Ziel ausgegeben hat, und seine SNS genießen dafür weiterhin zu große Popularität. Immerhin der Einzug ins Parlament könnte Moramo gelingen, was die Chance böte, in den nächsten Jahren weiter an Profil zu gewinnen. Besser sieht die Situation in Belgrad aus: Umfragen zufolge könnte die grün-linke Koalition bis zu 15 Prozent der Stimmen bekommen und zusammen mit den anderen Oppositionsparteien die Mehrheit der SNS brechen. Ein Sieg in Belgrad, so hoffen viele, könnte langfristig auch das Sprungbrett für einen künftigen Erfolg auf nationaler Ebene werden. Eine Hoffnung, die sich daraus nährt, dass bislang jeder Wandel in Serbien in Belgrad begonnen hat.