Die Texte von Rita Segato gehören in der lateinamerikanischen feministischen Bewegung inzwischen zum Kanon. Ihre Analysen zu geschlechtsspezifischer Gewalt, zum Verhältnis von Rassismus, Kolonialität und Patriarchat sind weder aus theoretischen Debatten noch aus politischer Praxis wegzudenken. Denn ihre Beiträge helfen wie kaum andere dabei, die Komplexität aktueller Krisen nachzuvollziehen. Noch bis vor wenigen Monaten waren trotz ihrer wichtigen Forschung zu drängenden Fragen hinsichtlich patriarchaler und rassistischer Gewalt keine ihrer Texte ins Deutsche übersetzt. Letztlich auch ein Ausdruck von (akademischem) Eurozentrismus, den Segato in «Wider die Grausamkeit» kritisiert.
Das Buch Wider die Grausamkeit kann als PDF hier kostenlos heruntergeladen werden.
Zur Buchveröffentlichung von Wider die Grausamkeit diskutierten Rita Segato, Eva von Redecker und Lastesis im Dezember 2021 bei der Diskussionsveranstaltung «Verbrennt eure Angst!»
Mit «Wider die Grausamkeit» erscheint im Mandelbaumverlag – unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und nun auch zugänglich im open access – erstmals ein Buch von Rita Segato auf Deutsch. Auch wenn Segatos Analysen spezifisch lateinamerikanische Kontexte fokussieren, leisten sie einen wichtigen Beitrag, Gewaltverhältnisse auch anderswo besser zu verstehen. Wie also könnten mögliche Verbindungslinien aussehen? In ihrem Buch Revolution für das Leben greift die Philosophin Eva von Redecker unter anderem theoretische und praktische Ansätze aus der lateinamerikanischen feministischen Bewegung auf und bezieht sich unter anderem auf Rita Segato. Ausgehend von der Veränderung von Eigentum rekonstruiert sie soziale und dingliche Beziehungen. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach Jana Flörchinger mit Eva von Redecker über zentrale Konzepte in ihrem und Segatos Buch und darüber, wie wir im hiesigen Kontext an Segato anknüpfen können.
In «Revolution für das Leben» zeichnest Du unter dem Begriff der Sachherrschaft eine patriarchale Geschichte der Eigentumsform nach. Zum Ausgangspunkt nimmst Du den Beginn der Moderne und die Kolonialisierung der Amerikas, als sich nicht nur Verteilung und Zugang von Eigentum veränderten, sondern auch seine Bedeutung. Was heißt es, dass jemandem etwas gehört?
Ganz allgemein heißt es, dass es ihm zusteht. Aber welche Arten der Verfügung damit einhergehen, variiert geschichtlich stark, ebenso die Frage welche Dinge überhaupt eigentumsfähig sind. Und ich würde weitergehen und sagen: welche Dinge überhaupt «Dinge» sind. In der Kolonisierung Lateinamerikas und den europäischen Einhegungen wurde eine neue Ordnung des Zugangs zu Land durchgesetzt. Indigenen Subjekten wurde die Fähigkeit abgesprochen, Eigentümer – und das heißt in der Moderne zugleich überhaupt Person – zu sein, der Landbevölkerung wurde die Selbstversorgung unmöglich, unter anderem weil sie vertrieben wurde. Und das Land wurde nach und nach durch die kapitalistischen Verwertungsanreize zu einer abgrenzbaren, übertragbaren und ausbeutbaren Ressource. Im Feudalzeitalter gab es gar keine Unterscheidung zwischen Regierung und Eigentum, und keine allgemeinen Regeln dafür, wozu Eigentum befugt. Auf der einen Seite der Aufklärung können wir beobachten, dass Regierung über Menschen fraglicher wird, es braucht Legitimierung und sogar Zustimmung. Aber die Regierung über Dinge wird parallel immer selbstverständlicher und intensiver, sie unterwirft isolierte Objekte völlig der Willkür ihrer Besitzer. Am Ende kann man auf die Frage «Wer ist Eigentümer?» antworten: «Der, der etwas zerstören darf.» Diese Objektbeziehung meine ich, wenn ich von Sachherrschaft spreche.
Die Philosophin Eva von Redecker forscht zu neu-rechtem Autoritarismus und Eigentum. In ihrem Buch Revolution für das Leben (Fischer Verlag, 2020) ergründet sie ausgehend von Protestbewegungen eine Lebensphilosophie, in der die Gesten des Rettens, des Regenerierens, des Teilens und des Pflegens ein anderes, neues Weltverhältnis ermöglichen.
Rita Segato ist emeritierte Anthropologin und lebt und arbeitet in Argentinien. Sie ist eine der wichtigsten Stimmen in feministischen, wie dekolonialen Debatten in Lateinamerika und ihre Essaysammlungen gehören inzwischen zum Kanon feministischer Theorie.
Jana Flörchinger arbeitet als freie Referentin, Autorin und Kuratorin zu patriarchaler Gewalt und queerfeministischem Widerstand in Deutschland und Lateinamerika. Zusammen mit Börries Nehe und Timo Dorsch gibt sie den von der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Sammelband Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika (erscheint April 2022) heraus.
Ein zentrales Konzept in Segatos Texten ist die Dueñidad, die Besitzherrschaft, die im Grunde darauf zurückgeht, mittels Grausamkeit etwas Lebendiges zu verdinglichen, es zu etwas zu machen, das angeeignet werden kann. Am Beispiel femizidaler Gewalt wird in ihrem Buch deutlich, dass diese Form der Grausamkeit entmenschlicht und dadurch die Körper von Frauen und Queers auf eine Art angeeignet werden können. Inwiefern ergänzen sich Dueñidad und Sachherrschaft?
Ja, ich war so begeistert, als ich auf diesen Begriff bei Segato gestoßen bin! Und umso mehr, als dann bei Mandelbaum Wider die Grausamkeit erschien, in der sehr guten Übersetzung von Sandra Schmidt. Dueñidad ist im Spanischen ein Neologismus, auf deutsch heißt es dann «Eigentümerschaft», aber es meint mehr, als das Anrecht an bestimmten Gütern, nämlich eine ganze Weltordnung. Wenn ich das jetzt wirklich so ineinanderdenken darf, dann würde ich sagen, dass ich bei Segato einerseits einen größeren Rahmen für meine Überlegungen gefunden habe. Das war wie eine große Erleichterung, ein wenig wie das Gefühl von Heimkommen, das man als junge Feministin, oder Proto-Feministin, plötzlich hat, wenn man eine echte Vorkämpferin trifft und einem gewissermaßen die Schuppen von den Augen fallen. Also ich verstehe die Sachherrschaftsanalyse ja auch als Verdinglichungstheorie, aber dass dann jemand mit der Klarsicht der dekolonialen Perspektive längst noch weiter ausgeholt hat und sagt, dass auf dem Planeten zwei historische Projekte gleichzeitig existieren, die an verschiedenen Konzepten von Wohlbefinden und Glück orientiert sind: das «historische Projekt der Dinge» und das «historische Projekt der Beziehungen»[1] situiert die ganze Sache nochmal viel grundlegender. Und zugleich ist es so, dass Segato als Anthropologin natürlich parallel viel empirischer gearbeitet hat als ich – ein Teil dieser Arbeit [bspw. in La escritura en el cuerpo. De las mujeres asesinadas en Ciudad Juárez, Anm. JF]. wird dann ja hoffentlich auch bald auf Deutsch zu lesen sein – und insofern auch zu konkreten Analysen kommt, so wie ihrer bahnbrechenden Analyse der Femizide in Ciudad Juárez.
Ein zentrales Konzept bei Segato ist das Mandat der Männlichkeit. Segato argumentiert am Beispiel brutaler Feminizide, dass Täter mittels einer Pädagogik der Grausamkeit ihren sozialen Status kommunizieren. In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann seine Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt der Versuch. Fälle gegen trans Frauen und nicht binäre Menschen bildet die Statistik nicht einmal ab. Dennoch unterscheidet sich femizidale Gewalt in Grenzstädten wie im mexikanischen Ciudad Juárez, wo die ermordeten Körper teilweise an öffentlichen Orten abgelegt und zur Schau gestellt werden, von Feminiziden hier. Was wird sichtbar, wenn wir Gewalt als expressiven Funktion begreifen?
Ja, das sprichst Du einen wichtigen Punkt an. In meiner Analyse von Femiziden als Sachherrschaftsdelikten gehe ich stärker von der Dyade der patriarchalen Paarbeziehung aus, in der Männer auch unter Bedingungen rechtlicher Gleichstellung – also Selbsteigentümerschaft auch der Frau – diese trotzdem als Domäne ihrer Willkür ansehen, also als absolut notwendig zu kontrollierenden Besitz. Und gerade weil sich das nicht stabilisieren lässt – Frauen sind keine Dinge, die Rechtslage bestätigt den Anspruch nicht – kann sich die Eigentümerschaft nur noch im Moment der Gewalt, letzlich der Zerstörung der Frau, ihrer selbst vergewissern. Demgegenüber betont Segato die öffentliche Dimension der Frauenmorde, die sie untersucht hat. Es geht überhaupt nicht darum, diese spezielle Frau anzueignen und zu kontrollieren, es geht sowieso gar nicht um Sexualität, es geht darum, ein Zeichen zu setzen für die Souveränität – oder mit Segato «das Mandat» – eines Männerbundes. Wie die Markierung eines Territoriums: «Hier seht ihr, wer wirklich herrscht». Ich denke, dass diese Ansätze eigentlich ein sinnvolles Analysespektrum aufspannen. Es gibt unterschiedliche Varianten patriarachaler Gewalt. Expressiv sind sie allerdings auch in der Sachherrschaftsvariante. Die individuelle Souveränität, die der Täter herstellen will, ist ja ein sozialer Status, den er vor echten oder verinnerlichten Anderen um keinen Preis einzubüßen bereit ist.
In Deinem Buch nimmst du Bezug auf feministische Streikbewegungen in Südeuropa und Lateinamerika. Allen voran die massiven wie radikalen Proteste um NiUnaMenos in Argentinien, Chile und vielen Teilen Lateinamerikas, die zunächst vor allem gegen Feminizide mobilisierten und heute wichtiger Bezugspunkt für feministische Kämpfe, insbesondere für das Recht auf legale Schwangerschaftsabbrüche, sind. Bewegungen, die es vermögen aus den unterschiedlichen Positionierungen der Streikenden einen gemeinsamen Horizont zu entwickeln, weil sie ihre alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, ökonomischer, rassistischer und kolonialer Unterdrückung in eine feministische Lektüre der Gewalt münzen. In diesem Kontext schreibst Du von einer «ausschweifenden Zusammenhangbildung … in der NiUnaMenos die Revolution für das Leben vortanzt.» Was meint diese ausschweifende Zusammenhangbildung und warum ist sie revolutionär?
Ha, ja, das ist eine großartige Formulierung von Bini Adamczak. Worum es im Kern geht, ist eine Vorstellung von Kollektivität, die durch Beziehungen einer bestimmten Qualität gestiftet ist. Nicht einfach nur «Viele» sein, sondern eine neue Form des Zusammenhangs bilden. Das Projekt der Beziehungen, mit Segato gesprochen – Beziehungen nicht nach Maßgabe der Sachherrschaft, sondern der Solidarität. Das hieße, dass nicht das Leben zur Sache sondern Sachen lebendig gemacht werden. Lebendig im Sinne einer anderen Zirkulation von Gütern: geteilt und einander gegönnt statt als Ware verpackt. Und lebendig im Sinne der Ent-Vereigentümlichung: überhaupt erstmal das Begehren, die Genussfähigkeit, die Handlungskraft von patriarchal zugerichteten Körpern freizusetzen. Das wäre dann vielleicht eine Pädagogik der Zärtlichkeit anstatt einer der Grausamkeit.
[1] vertiefende Lektüre der beiden genannten »historischen Projekte« siehe Seite 23 in Wider die Grausamkeit.