Im Februar 2019 erhob sich Algeriens Gesellschaft gegen das seit der Unabhängigkeit des Landes 1962 autoritär regierende Regime und zwang Expräsident Abdelaziz Bouteflika nach sechs Wochen ununterbrochenen Massenprotesten zum Rücktritt. Der von der Protestbewegung Hirak (Arabisch für «Bewegung») seither konsequent eingeforderte tiefgreifende Systemwandel und das Ende der Einmischung des Militärs in Algeriens Politik sind jedoch in weite Ferne gerückt, hatte doch nach Bouteflikas Abtritt die mächtige Armee die Macht in Algier übernommen. Seither geht das Regime mit Repressalien und Einschüchterungen gegen Hirak und Opposition vor.
Seit Hirak-Proteste in Algerien de facto verboten sind und vor Ort aktive Aktivist*innen kaum noch Bewegungsspielraum haben, ist es heute vor allem die in Europa und Nordamerika lebende algerische Diaspora, die den Hirak im öffentlichen Raum mit regelmäßigen Protesten, Kampagnen und Graswurzelarbeit am Leben hält und somit den Kampf für politische Freiheiten und ein Ende der Militärherrschaft auch auf den Straßen fortsetzt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach deshalb mit zwei in Europa lebenden Aktivist*innen über die Rolle der Diaspora für den Hirak.
Nadia Salem lebt und arbeitet als freie Journalistin in Paris, ist Mitglied des transnationalen und aus dem Hirak hervorgegangenen Aktivist*innenkollektivs FreeAlgeria und betreibt in Kooperation mit Radiosendern in Algerien, Frankreich und Kanada eine Internet-TV-Show, die sich mit Algerien und der Menschenrechtslage vor Ort beschäftigt.
Salah Ayoub ist eine der aktivsten Köpfe von Hirak Berlin, einer vor allem in Deutschland aktiven Aktivist*innengruppe, die sich kurz nach Beginn der Hirak-Revolte in Algerien 2019 formiert hatte und seither jeden Sonntag vor das Brandenburger Tor zieht und versucht, die algerische Diaspora im deutschsprachigen Raum zu mobilisieren.
Du betreibst eine Internet-TV-Sendung zu Algerien und Menschenrechten und bist Mitglied im FreeAlgeria-Kollektiv. Kannst du uns erzählen, wie beide Projekte angefangen haben, was ihr macht und was das Kollektiv erreichen will?
Nadia Salem: FreeAlgeria ist ein Kollektiv, das mit dem algerischen Hirak entstanden ist. Wir sind algerische Männer und Frauen aus der ganzen Welt, die versuchen, etwas für unser Land zu tun und für Demokratie kämpfen. Die meisten von uns haben sich während der großen Demonstrationen in Algerien 2019 online kennengelernt. Wir fühlten uns spontan als Teil dieser Bewegung, auch wenn wir weit weg von unserem Land, in Nordamerika oder Europa, leben.
Sofian Philip Naceur ist Projektmanager im Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet als freier Journalist.
Unsere ersten Online-Treffen zielten darauf an, koordinierte Aktionen innerhalb der Diaspora zur Unterstützung unserer Mitbürger*innen in Algerien zu organisieren. So haben wir zum Beispiel im Februar 2020 ein Online-Konzert anlässlich des ersten Jahrestages des Hirak mit verschiedenen Künstler*innen wie Amel Zen, Labess und Iwal organisiert. Unser Hauptziel ist es aber, Menschen über die Situation der Menschenrechte und Freiheiten in Algerien zu informieren. Wir versuchen auch, Politiker*innen, zum Beispiel im Europäischen Parlament, für die kritische Situation, in der sich Algerien heute befinden, zu sensibilisieren.
Unsere Internet-TV-Sendung «Un vendredi pour l‘Algérie» [«Ein Freitag für Algerien»] wird an einem Freitag pro Monat ausgestrahlt. FreeAlgeria unterhält Partnerschaften mit einem Internet-Radio in Montréal in Kanada, AlternaTV, mit Radio M in Algier, Radio Galère in Marseille in Frankreich und dem Kollektiv AlgerianDetainees, einer Gruppe algerischer Journalist*innen, die auf ihrer Website die Verhaftungen von Aktivist*innen, Journalist*innen, führender Politiker*innen und anderer dokumentieren. Als Mitglied von FreeAlgeria und als Journalistin habe ich überlegt, wie ich meinem Land am besten helfen kann. Meine Antwort auf diese Frage war, eine Internet-TV-Sendung zu starten, in der Aktivist*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen frei sprechen können.
Während die Repressalien gegen Aktivist*innen in Algerien und die Corona-Krise den Hirak gezwungen haben, ihre Proteste im Land einzustellen, gibt es weiterhin regelmäßig Hirak-Proteste der Diaspora – nicht nur in Frankreich oder Kanada, sondern auch in Deutschland. Auch Hirak-Berlin zieht immer noch jeden Sonntag vor das Brandenburger Tor. Warum und mit welchem Ziel macht ihr so konsequent weiter?
Salah Ayoub: Hirak-Berlin hat sich seit 2020 viel engagiert. Wir haben am 21. Februar 2021, einen Tag vor dem zweiten Jahrestag des Hirak, erstmals seit 2019 wieder eine größere Demonstration in Berlin gegen das algerische Regime organisiert. Mit rund 150 Menschen zogen wir vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor. Zwar sind das im Vergleich zu Diaspora-Protesten in Frankreich oder Kanada nicht viele Menschen. Wenn man aber berücksichtigt, dass die algerische Diaspora in Berlin nur 1000 bis 1500 Menschen umfasst, dann war diese Demonstration ein großer Erfolg.
Zusätzlich beteiligt sich Hirak-Berlin an Diaspora-Protesten in Paris, Straßburg oder Genf und organisiert unregelmäßig Veranstaltungen wie Panel-Diskussionen auf Deutsch, in denen wir die Lage in Algerien mit Expert*innen und Aktivist*innen diskutieren. Zudem übersetzen wir Erklärungen wichtiger Akteure der algerischen Opposition ins Deutsche und verbreiten diese in sozialen Medien. Wir wollen diesen Kampf weiterführen und nutzen dafür alle friedlichen Mittel, die uns zur Verfügung stehen.
Wir wollen das algerische Volk in seinem Kampf für einen echten politischen Wandel in Algerien unterstützen, auch da das Regime weiterhin versucht, friedliche Aktivist*innen und den Hirak mit Gewalt und Repressalien einzuschüchtern. Wir in der Diaspora haben weiterhin die Möglichkeit uns zu engagieren und Menschen in anderen Ländern für unseren Kampf zu gewinnen. Trotz der schwierigen Phase, die der Hirak gerade durchmacht, geben wir nicht auf und vernetzen uns mit anderen Gruppen der Diasporen, um uns gegenseitig zu motivieren und zu koordinieren.
Der Hirak ist auf Algeriens Straßen weitgehend inaktiv während die algerische Diaspora im Ausland weiterhin regelmäßig Aktionen in der Öffentlichkeit durchführt. Welche Rolle spielt die Diaspora heute für den Hirak und wie ist sie für die Bewegung so wichtig geworden?
Salah Ayoub: Die Diaspora spielt seit Beginn des Hirak eine wichtige Rolle. Zeitgleich mit den Hirak-Protesten in Algerien 2019 begann die Diaspora Proteste und Kundgebungen vor algerischen Botschaften und Konsulaten in zahlreichen Städten überall auf der Welt zu organisieren. Während der Hirak in Algerien jeden Freitag Proteste organisierte, versammelten sich Diaspora-Gruppen in Europa und Nordamerika jeden Sonntag zu Demonstrationen. Wir waren und sind sozusagen die Botschafter*innen des Hirak im Ausland. Die Diaspora ist das Bindeglied zwischen der algerischen Gesellschaft zu Hause und in der Welt.
Als die allwöchentlichen Hirak-Demonstrationen aufgrund der Corona-Pandemie 2020 eingestellt wurden, spielte die Diaspora eine unersetzliche Rolle bei der Aufrechterhaltung und der Kontinuität des Hirak, da wir im Ausland inzwischen wieder demonstrieren können und somit die Bewegung am Leben halten. Auch deshalb ist die Diaspora heute wichtiger denn je, denn seit Hirak-Proteste in Algerien vom Regime praktisch verboten wurden und das Regime auf politische Aktivitäten mit Repressionen reagierte, ist es derzeit nur die Diaspora, die das Regime mit Aktionen auf der Straße unter Druck setzen kann.
Nadia Salem: Algerische Bürger*innen durchleben dieser Tage harte Zeiten und es ist herzzerreißend, dies von außerhalb zu beobachten. Aber wir, die algerische Diaspora, haben jetzt die Verantwortung, sie so gut wir können zu unterstützen. Wenn Algeriens Bevölkerung aufgrund der brutalen Repressalien in Algerien nicht frei sprechen kann, müssen wir laut unsere Stimme erheben und die Übergriffe des Regime anprangern. Genau das ist unsere Rolle und Verantwortung als Diaspora.
Im Mai 2022 lancierten 38 algerische und internationale Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften die NotACrime-Kampagne, um endlich mehr Aufmerksamkeit für die anhaltenden Repressalien algerischer Behörden gegen Hirak-Aktivist*innen, Menschenrechtler*innen oder Journalist*innen zu erregen. In welcher Form hat sich Hirak-Berlin an der Kampagne beteiligt?
Salah Ayoub: Wir haben die Kampagne nicht direkt mitorganisiert, aber sie mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt und weiter verbreitet. Wir haben die Texte und Inhalte der Kampagne ins Deutsche übersetzt und auf unseren Kanälen in sozialen Medien veröffentlicht. Damit haben wir versucht, die Kampagne im deutschsprachigen Raum präsenter zu machen, um mehr Aufmerksamkeit für die Menschenrechtslage in Algerien zu wecken, vor allem bei NGOs und der Presse im deutschsprachigen Raum.
Die algerische Diaspora ist in Frankreich besonders zahlreich vertreten. Wie kämpft die in Frankreich lebende Diaspora für den Wandel in Algerien?
Nadia Salem: In Frankreich gibt es Menschen, die sich seit drei Jahren jeden Sonntag auf dem Platz der Republik in Paris, am Alten Hafen in Marseille oder dem Platz Bellecour in Lyon versammeln. Diese Proteste gefallen den Vertreter*innen der algerischen Botschaft natürlich nicht, aber das ist das Mindeste, was wir tun können, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weiterhin auf das zu lenken, was heute in Algerien geschieht. Darüber hinaus finden in Frankreich zahlreiche Treffen statt, bei den Aktivist*innen und am Hirak interessierte oder beteiligte Personen über die Zukunft Algeriens, sein politisches Regime, seine Wirtschaft sowie die Beziehungen zu Frankreich diskutieren.
Vom 23. bis zum 25. Juni 2022 findet zum Beispiel an der Universität Panthéon-Sorbonne in Paris ein großes Symposium statt, dass sich mit Algerien zwischen 1962 und heute beschäftigt [«Algérie 1962-2022, Trajectoires d‘une nation et d‘une société», «Algerien 1962-2022: Wege einer Nation und einer Gesellschaft»]. An dieser Veranstaltung nehmen zahlreiche Forscher*innen aus Algerien teil und das Programm ist sehr umfangreich. Es könnte ein Höhepunkt dieses akademischen Jahres und eine gute Gelegenheit werden, eine Bilanz über die 60 Jahre Unabhängigkeit Algeriens zu ziehen. Einer der Organisatoren ist Ali Bensaad, Professor an der Pariser Universität 8. In der Tat müssen wir uns in Ruhe Gedanken machen und die Zukunft unseres Landes vorbereiten.