Das Leben von Rosi Wolfstein-Frölich (1888-1967) und Paul Frölich (1884-1953), die rund 30 Jahre bis zu dessen Tod 1953 ein Paar waren, reicht vom Deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur und das Exil bis in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland hinein. Riccardo Altieris Doppelbiografie zeichnet ein intensives Bild einer ebenso deutschen wie transnationalen Linken nach.
Wolfstein wie Frölich verbindet die Arbeiter*innenbewegung, in die Paul Frölich qua Milieu und seine bereits politisch aktiven Eltern in Leipzig hineinwuchs, während Rosi Wolfstein, die aus einer bürgerlich-liberalen jüdischen Familie in Witten im Ruhrgebiet stammte, sich dieser als junge Frau in politischer Differenz zu ihrer Familie, die freilich nie zu einem familiären Bruch führte, zuwandte. Ein ausgeprägtes soziales Gerechtigkeitsempfinden war für ihre Politisierung ausschlaggebend, früh trat auch der Einsatz für das Frauenwahlrecht hinzu. Dabei war Wolfstein durch die Insolvenz und den darauf begangenen Suizid ihres bis dahin wohlhabenden Vaters 1901 gezwungen, ihre Schulbildung knapp 15jährig zu beenden. In den Jahren des Exils vor allem in Frankreich und den USA war sie es, die immer dann das Einkommen des Paares mit Büro-, Haushalts- und Reinigungsarbeiten sicherte, wenn Solidaritätsleistungen und publizistische Aufträge nicht ausreichten. Paul Frölich war ein überdurchschnittlich begabter Schüler, der durch ein Stipendium einen seltenen, wenn auch begrenzten Bildungsaufstieg erreichte. Ohne je studieren zu können, ist er somit ein eindrucksvolles Beispiel für den Typus eines Arbeiter-Intellektuellen.
Frölich wie Wolfstein sind lange vor dem Ersten Weltkrieg als Redner*innen und Organisator*innen für die SPD und ihr Umfeld tätig. Innerhalb der SPD orientieren sich beide frühzeitig nach links, wobei Wolfstein schon ab 1909/1910 Karl Liebknecht und vor allem Rosa Luxemburg näher kennenlernte, der sie als geschätzter Lehrerin als eine von nur zwei Schülerinnen der SPD-Parteischule 1912/1913 eng verbunden war. Bei allen politischen Gemeinsamkeiten auf dem linken Flügel der Arbeiter*innenbewegung unterschieden sich Frölich und Wolfstein jedoch auch, wobei Wolfstein oft praktischer und kohärenter erscheint als Frölich (siehe S. 467). Während Wolfstein sich der Spartakusgruppe und der USPD anschloss, ist Frölich ein Vertreter jener Strömungen wie der »Bremer Linksradikalen« um Johann Knief. Beide wirken am Gründungsparteitag der KPD mit und üben später Mandate (Frölich im Reichstag, Wolfstein im Preußischen Landtag) sowie Parteifunktionen aus.
Altieri warnt angesichts der wechselhaften Konfliktlinien und innerparteilichen Bündniskonstellationen in der KPD davor, diese allzu einfach mit den Kategorien von »links« und »rechts« zu charakterisieren: »Hierzu sei zunächst erwähnt, dass der ›rechts-links-Dualismus‹, wie er nicht nur in der Sekundärliteratur, sondern ebenso in den Quellen existiert […], im Folgenden an seine Grenzen kommt. Galten Thalheimer, Brandler und Frölich einerseits als ›die Rechten‹ innerhalb der KPD, wurde ihnen im Konflikt rund um die Offensivtheorie gegenüber Paul Levi eine ›linke‹ Haltung zugeschrieben.« (S. 203 f.)
Der weitere politische Weg von Wolfstein und Frölich ist durch den Ausschluss aus der zunehmend stalinisierten KPD 1928 über die KPO (KPD-Opposition) und schließlich 1932 in die SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) gekennzeichnet, die ihrerseits von Spaltungen im Exil nicht verschont blieb. Eher zögerlich und mangels einer überzeugenden Alternative jenseits des durch den Stalinismus korrumpierten Kommunismus, dem viele ihrer Weggefährt*innen zum Opfer gefallen waren, kehrten beide schließlich, wie viele anderer ihrer SAP-Genoss*innen (z. B. Willy Brandt, Max Diamant und Otto Brenner), nach dem Krieg in die SPD zurück. Max Diamant blieb bis zu Wolfsteins Tod 1987 in Frankfurt am Main ein enger Freund, wo sie, kurz vor ihrem Tod im Alter von 99 Jahren und unmittelbar vor seinem Rücktritt als SPD-Vorsitzender, noch einmal von Willy Brandt besucht wurde. Dieser charakterisierte sie 1988 auf einer Gedenkveranstaltung wie folgt: »Wenn wir uns an Rosi Wolfstein erinnern, sollten wir dieses Luxemburgsche Erbe immer wachzuhalten suchen und uns gleichzeitig klarmachen, wie viel ärmer Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung dadurch geworden sind, dass die Nazis uns durch ihre Vernichtung fast ganz um den Nachwuchs von Sozialisten jüdischer Herkunft brachten. Ich sage dies in großer Hochachtung vor einer verdienten Sozialistin, Sozialdemokratin sehr eigener Prägung: Rosi Wolfstein-Frölich.« (zitiert nach S. 10 f. bzw. S. 472)
Frühzeitig machten sowohl Wolfstein als auch Frölich Erfahrungen mit staatlicher Überwachung und Repression, wobei Wolfstein zu den wenigen Frauen gehörte, die im Kaiserreich längere politische Haftzeiten erleiden mussten. Auch in den frühen Jahren der Weimarer Republik bis 1924 war die KPD-Politikerin zeitweilig inhaftiert oder lebte, wie auch Frölich, mehr oder minder auf der Flucht. Frölich musste 1933 die noch weit schlimmere Erfahrung der Haft in den frühen Nazi-Konzentrationslagern erleiden, ehe ihm Helfer*innen die Flucht in die Tschechoslowakei und schließlich nach Frankreich ermöglichten. Rosi Wolfstein, die als Jüdin und Sozialistin doppelt gefährdet war, emigrierte zunächst nach Belgien, ehe sie 1936 ebenfalls nach Frankreich gelangte. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 wurden Wolfstein und Frölich wie viele andere deutsche Exilant*innen in französischen Internierungslagern eingesperrt. Mit Hilfe von Varian Fry, dem so viele vor den Nazis Flüchtende ihr Leben verdanken, konnten beide schließlich 1941 in die USA ausreisen. Sowohl Frölich als auch Wolfstein verloren durch die Nazis viele Angehörige und Freund*innen, darunter die beiden Schwestern Wolfstein, die in Auschwitz-Birkenau bzw. im Ghetto Warschau ermordet wurden. (S. 392 ff.)
Die Atheistin Rosi Wolfstein äußerte sich zu ihrem Judentum später: »Obwohl ich selbst Jüdin bin, habe ich mich nicht so sehr auf der jüdischen Linie bewegt.« (S. 201). Im Unterschied etwa zu Werner Scholem beteiligte sie sich im Preußischen Landtag nicht an den Debatten über die »Ostjuden«.[1] Viele Jahrzehnte später äußert sie sich positiv über die US-Fernsehserie »Holocaust« wegen der breiten Beachtung, die die Vernichtung der europäischen Juden endlich durch ein deutsches Millionenpublikum erfuhr (S. 461 f.). Obgleich sie dem politischen Zionismus immer ferngestanden hatte, nahm sie in späteren Jahren Anteil am Schicksal des Staates Israel (S. 457).
Rosi Wolfstein, die Paul Frölich um 34 Jahre überlebte, nahm sich schrittweise seit den Jahren des Exils in Bezug auf die Außenwahrnehmung gegenüber ihrem Partner zurück. Wenngleich Frölich als Publizist und nichtakademischer Historiker von hoher Qualität tatsächlich produktiver war, so arbeitet Altieri in der Doppelbiografie zu Recht Wolfsteins Rolle sowohl als Mitwirkende an dessen Arbeiten – nicht zuletzt der Werkausgabe und seinen vielen biografischen und politischen Werken über Rosa Luxemburg –, als auch als höchst eigenständige Politikerin heraus, deren politisches Urteilsvermögen ausgeprägter als das ihres Partners gewesen sein dürfte.
Wird der Blick nur auf die politische Organisationsgeschichte der Zwischenkriegszeit gerichtet, so mag das Ergebnis von Wolfsteins und Frölichs Wirken im Sinne einer brillanten Glosse von Kurt Tucholsky (»Die Opposition«[2]) zwar bescheiden ausfallen. Aber das verflochtene Leben der beiden von Altieri Porträtierten steht für die Selbstermächtigung in der und durch die Arbeiter*innenbewegung, für ihre Aufbrüche und Leistungen ebenso wie ihre Niederlagen und verheerenden Verirrungen – und für die Suche nach einem demokratischen Sozialismus. In diesem Sinne ist die Arbeit von Altieri auch – in freier Anlehnung an Thomas Flierl – ein Beitrag zu einer Kulturgeschichte des europäischen Kommunismus. Altieris Arbeit knüpft ebenso an viele ähnlich wichtige Arbeiten von Mario Keßler, Klaus Kinner, Jörn Schütrumpf, Marcel Bois, Florian Wilde, Reiner Tosstorff und anderen an.[3] Gleichzeitig ist sein Buch auch ein Beitrag, mit dem das lange beinahe in Vergessenheit geratene gemeinsame Erbe von jüdischer Emanzipationsbewegung und Arbeiter*innenbewegung wieder in Erinnerung gerufen wird.[4] In diesem Sinne ist auch das Vorwort, das Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Altieris Buch vorangestellt hat, von besonderer Bedeutung.
[1] Siehe dazu Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940), Konstanz/München 2014. Siehe auch Christian Dietrich: Im Schatten August Bebels. Sozialdemokratische Antisemitismusabwehr als Republikschutz 1918-1932, Göttingen 2021.
[2] Kurt Tucholsky: „Die Opposition“, in: Gesammelte Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Band 8, Jahrgang 1930, S. 27-30, Hamburg 1975 (1989). »Im Anfang war der Verein […]. Was ein richtiger Verein von 1930 ist, der etwas auf sich hält: der hat – in Klammern – eine Opposition. […] Stubenreine Dackel kann fast jeder züchten –, die Seele des Vereins ist der Knatsch. […] zum Schluß war der deutsche Idealzustand erreicht: Jeder Mann seine eigene Partei.«
[3] Um hier nur einige zu nennen: Mario Keßler: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln/Weimar/Wien 2013; Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Band 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999; Jörn Schütrumpf: Rosa Luxemburg, oder: Der Preis der Freiheit, Berlin 2017; Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen 2014; Florian Wilde: Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, Konstanz 2018; Reiner Tossdorf (Hrsg.): Paul Frölich, Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890-1921, Berlin 2013.
[4] Siehe dazu auch: Riccardo Altieri/Bernd Hüttner/Florian Weis: »Die jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen«. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2021.
Riccardo Altieri: »Antifaschisten, das waren wir …« Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie, Marburg 2022: Büchner Verlag (566 S., 39 €).