Kommentar | Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Digitaler Wandel - Krieg / Frieden - Brasilien / Paraguay Militarismus in der brasilianischen Politik

Der Staatsstreich als permanente Bedrohung der demokratischen Gesellschaft

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Rodrigo Lentz,

Rodrigo Lentz, Politikwissenschaftler, Brasilien. Collage aus Porträtfoto und Titel des Beitrags

Im Oktober stehen in Brasilien die Präsidentschaftswahlen an, in denen der aktuelle Präsident Jair Bolsonaro vom ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) herausgefordert wird. Es gibt Befürchtungen, dass das Wahlergebnis – sollte Lula die Wahl gewinnen – von Bolsonaro und Bolsonaro-nahen Sektoren nicht anerkannt wird und es wird bereits jetzt öffentlich über die Möglichkeit eines Putsches spekuliert. Über die verschiedenen möglichen politischen Szenarien nach der Wahl und die Verstrickungen von Militär und Politik in der jüngsten Vergangenheit Brasiliens schreibt der Politikwissenschaftler Rodrigo Lentz.
 

Im Juni 2013 brach in Brasilien eine komplexe und vielschichtige Krise aus, die die liberale Ordnung der funktionierenden Demokratie erschütterte. Seither haben sich in Brasilien Vorfälle gehäuft, die das Überleben der Demokratie in Frage stellen. Doch erst seit 2014, als bei der Präsidentschaftswahl der amtierenden Präsidentin Dilma Roussef von den unterlegenen Kandidaten Betrug vorgeworfen wurde – ein völliges Novum in der brasilianischen Politik und seit Inkrafttreten der Verfassung von 1988 nicht vorgekommen – wurde der Staatsstreich zum geflügelten Wort in der alltäglichen Debatte.

Eine breit angelegte Kampagne, bestehend aus Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten und unter maßgeblicher Beteiligung der von den USA unterstützten Justiz, hat im Jahr 2016 zur Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff der Arbeiter*innenpartei PT durch das Parlament geführt. Die Nachfolgeregierung bildete sich aus einem Bündnis zwischen dem damaligen Vizepräsidenten Michel Temer der Zentrumspartei PMDB, den Kandidat*innen, die 2014 die Wahl verloren hatten, und einem neuen, bis zu diesem Zeitpunkt in der politischen Krise unauffälligen Akteur: dem Militär. Unter der Führung von Reservisten unterstützte die Armee die Übergangsregierung politisch und förderte Reformen zur Schwächung der Gewerkschaftsorganisationen und zur Stärkung des militärischen Geheimdienstes. Im Bündnis mit der brasilianischen Oligarchie und Repräsentant*innen der USA koordinierte das Militär den Prozess um die nachfolgenden Wahlen im Jahr 2018 und stellte dabei eine Bedingung: Der ehemalige Präsident Lula (PT), der damals in Wahlumfragen in Führung lag, sollte vom Wahlprozess ausgeschlossen und inhaftiert werden.

Rodrigro Lentz ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Brasilia. Er forscht im Rahmen des Observatoriums für Verteidigung und Souveränität des Instituto Tricontinental und ist Autor des Buches «República de Segurança Nacional: militares e política no Brasil« (Republik der nationalen Sicherheit: Militär und Politik in Brasilien), das im Jahr 2022 im Verlag Expressão Popular in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo erschienen ist.

Trotz breiter Widerstände wurde der ehemalige Präsident Lula verhaftet und von der Wahl ausgeschlossen. Das führte dazu, dass das politische Lager derjenigen, die im Jahr 2014 gegen die PT verloren hatten, beste Chancen auf einen Wahlsieg hatten. Doch das Land erlebte eine atypische Wahl, die durch den professionellen Einsatz massiver Desinformation zustande kam und zur überraschenden Wahl des ehemaligen Militärs Jair Bolsonaro zum Präsidenten der Republik führte. Von da an sah das Land fassungslos zu, wie das Militär zunehmend die politische Macht ergriff, die staatlichen Unternehmen besetzte und die Institutionen der liberal-pluralistischen Demokratie dauerhaft destabilisierte. Hinzu kam eine aggressive Bewaffnungspolitik der regierungsnahen Bevölkerung, die durch einen Diskurs der «Verteidigung der Freiheit» im Falle eines «Bürgerkriegs» gerechtfertigt wird.

Erpressung als politische Methode

Heute ist die Gefahr eines Staatsstreichs gegen Lula, sollte er die Wahl gewinnen – angeführt von Militärs in Regierungsämtern und unterstützt von zivilen Teilen der parlamentarischen Rechten – das zentrale Thema der nationalen Eliten.

Seit 2019 nutzen Generäle, Oberstleutnants und Oberste, die hohe Positionen in der Exekutive besetzen, die zivile und militärische Bürokratie, um den bevorstehenden Wahlprozess und insbesondere die Verlässlichkeit der elektronischen Wahlurne anzufechten und so der wahrscheinlichen Niederlage Bolsonaros bei den kommenden Wahlen vorzubeugen. Zu diesem Zweck haben sie die Politisierung der Streitkräfte vorangetrieben, indem sie bürokratische Privilegien, organisatorische Befugnisse und die Teilhabe von Uniformierten am Kampf um politischen Einfluss gefördert haben. So kam eine historische Konstante der Militärs in der Politik wieder neu ins Spiel: Erpressung als politische Methode und die Linke als gemeinsamer Feind.

Die kritische Haltung der Justiz gegenüber einem möglichen Staatsstreich der aktuellen Regierung im Falle einer Wahlniederlage ist eindeutig, sie nimmt deutlich Stellung gegen das Nicht-Akzeptieren des Ergebnisses und vereidigt das Wahlsystem. Die Krise zwischen der Exekutive und der Judikative, die von den Generälen mit politischen Posten in der Bolsonaro-Regierung herbeigeführt und durch taktische Fehler der Richter des Obersten Gerichts (STF) noch verstärkt wurde, war das bestimmende Thema der letzten Jahre. Wie schon im Jahr 2016 ist es erneut – wie beim parlamentarischen Putsch gegen Dilma – die Legislative, die das Zünglein an der Waage dafür zu sein scheint, welchen Weg das Land nach den Wahlen gehen wird. Gesteuert von der traditionellen Rechten, die zu den Verbündeten der Regierung gehört, nimmt die Abgeordnetenkammer eine zweifelhafte Haltung ein, stellt sich jedoch gegen einen Putsch. Hier stellt sich die große Frage, ob sie sich anders entscheiden wird, wenn das Wahlergebnis in Frage gestellt werden sollte und eine institutionelle Sackgasse droht. Die Hypothese des «Semipräsidentialismus» ist bereits im Entstehen, ähnlich wie beim parlamentarischen Staatsstreich von 1961: Durch den öffentlichen Widerstand des Heeres, der Marine und der Luftwaffe gegen die Amtseinführung des damaligen verfassungsmäßigen Präsidenten João Goulart (der Arbeiter*innenpartei PTB) entstand ein Machtvakuum. Und nach erheblichem Widerstand der Zivilbevölkerung und verschiedener Armeedivisionen (bekannt als «Legalitätskampagne») wurde ein Abkommen zwischen den politischen Eliten geschlossen, das die Amtseinführung des Präsidenten garantierte, die jedoch mit erheblichen Einschränkungen des Parlamentarismus einherging.

Politisierung des Militärs und Militarisierung der Politik

In der militärischen Sphäre der Macht besteht ein großer ideologischer Zusammenhalt zwischen den militärischen Mitgliedern der Regierung und der politischen Kultur des Militärs. Darüber hinaus ist, trotz der damit verbundenen Imagekosten, die Übertragung von Macht an die Militärs – insbesondere an das Offizierskorps – sowie die geschaffenen wirtschaftlichen Vorteile und «Möglichkeiten» offensichtlich. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Beteiligung des Militärs an einem – ohnehin unwahrscheinlichen – klassischen Staatsstreich zu garantieren. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Anzahl von Offizier*innen der drei Streitkräfte, die für eine «professionelle» und «unpolitische» Haltung der Institution eintreten und mit der derzeitigen Regierung unzufrieden sind. Andererseits kann das Militär auf bundesstaatlicher Ebene mittels der Militärpolizei, die der Armee unterstellt ist, regional eine agitatorische Rolle übernehmen, wenn dies von den Vorgesetzten disziplinarisch gebilligt werden sollte. Daher tendiert das Militär dazu, statt eines direkten Eingreifens auf Erpressung als politische Währung zu setzen: Einerseits kann das Militär auf diese Weise die hinzu gewonnene Macht bewahren, doch andererseits bleibt das Agieren auf Drohungen beschränkt, sofern eine politische Isolierung droht. Diese Konstellation könnte einen Schutzwall für die Demokratie darstellen, sofern eine soziale Mobilisierung dahintersteht, die momentan allerdings noch nicht auf den Straßen zu sehen ist.

In Bezug auf die wirtschaftlich Mächtigen ist eine eher kritische Haltung gegenüber der Infragestellung des Wahlprozesses wahrnehmbar. Obwohl mehrere Geschäftsleute mit der Regierung verbunden sind und die neoliberale Wirtschaftspolitik beibehalten wird, wächst in der Finanz- und Industrieelite der Glaube an die Unfähigkeit des Militärs, angesichts der explodierenden Armut und der Jahrhundertinflation politisch einen wirtschaftlichen Aufschwung steuern zu können.

Auf der wissenschaftlich-technischen und kulturellen Ebene der Machtverhältnisse schließlich entfaltet sich ein regelrechter «Informationskrieg»: Spionage, Sabotage, Delegitimierung von Wahlinstitutionen, Demoralisierung von Führungspersonen und Gruppen und das Setzen auf gewaltsame Auseinandersetzungen sind in der Regel die Waffen des Militärs, um ein für sie ungünstiges internes und externes Umfeld zu verändern. Ohne die anderen Dimensionen aus dem Blick zu verlieren, könnte diese Ebene als der wichtigste «Kriegsschauplatz» der Wahlen 2022 bezeichnet werden.

In diesem Szenario ist die einzige Gewissheit die Ungewissheit über das, was kommen wird. Neben der neuen Herausforderung, die Fairness des laufenden Wahlprozesses zu wahren, der bereits durch destabilisierende militärische Angriffe bedroht ist, stehen die demokratische Gesellschaft und ihre Organisationen vor der Aufgabe, die Amtseinführung der gewählten Kandidat*innen und die politischen Voraussetzungen für die Regierungsführung zu gewährleisten. Nur so können die tiefgreifenden Mechanismen der Politisierung des Militärs, die die zunehmende Militarisierung der Politik nähren, entschärft werden. Und dies wird ohne Organisation, Bildung und Mobilisierung der Bevölkerung nur eine wünschenswerte, aber unerreichbare Perspektive bleiben.

Im Zuge des Vorwahlkampfes hat das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo drei Expert*innen gebeten, die aktuelle Situation in Brasilien wenige Monate vor den Wahlen jeweils unter ihrer fachlich-spezifischen Brille zu beleuchten:

Bianca Santana, Aktivistin der Schwarzen Bewegung in Brasilien und Journalistin (u.a.) informiert über den Widerstand gegen Bolsonaro und weist darauf hin, dass es ein fataler Fehler wäre, nur auf die Wahlkampagnen zu setzen und die Mobilisierung auf den Straßen außer Acht zu lassen.
João Brant beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Rechten und Fake News weltweit. Er nimmt Brasilien als ein Beispiel, um das Gefahrenpotenzial der Entwicklung des digitalen Raums für die Demokratie aufzuzeigen.
Rodrigo Lentz von der Universidad de Brasilia untersucht die Rolle des Militärs in der brasilianischen Politik und zeigt dass die bewaffneten Kräfte ihr eigenes politisches Projekt haben.

Die drei Artikel wurden in einem illustrierten Faltblatt auf Spanisch veröffentlicht. Die Texte liegen nun auch in deutscher Übersetzung vor.