Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Brasilien / Paraguay Kein Wahlsieg ohne die Straße

Warum die sozialen Bewegungen auf der Straße die Wahl in Brasilien entscheiden könnten

Information

Autorin

Bianca Santana,

Bianca Santana, Journalistin, Brasilien. Collage aus Porträt und Titel des Artikels

Die Journalistin und soziale Aktivistin Bianca Santana reflektiert über die Entwicklung der sozialen Bewegungen Brasiliens vom Jahr 2013, in dem sich aufgrund von Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr eine neue Protestära entzündete, bis zur aktuellen Situation vor den Wahlen. Dabei geht es um die Vereinnahmung der Proteste durch rechte Kräfte, innerlinke Konflikte sowie die Herausforderungen für eine linke Erneuerung im Kampf gegen Bolsonaros Politik für eine soziale Transformation Brasiliens.
 

Im Jahr 2013 waren wir auf den Straßen. In jenem Jahr rief die seit 2005 bestehende Bewegung Movimento Passe Livre (MPL, dt. Bewegung für kostenlosen Nahverkehr) in zahlreichen brasilianischen Städten und Bundesstaaten zu Massendemonstrationen gegen die steigenden Preise des öffentlichen Nahverkehrs auf. Die brutale Polizeigewalt, die bei jeder Demonstration eingesetzt wurde, um die Demonstrant*innen zu unterdrücken, hatte zur Folge, dass jeder nächste Protest nochmal größer wurde. Die Forderung nach bezahlbaren Fahrpreisen wurde zunächst auf eine größere Transparenz im Verkehrssektor ausgeweitet und danach auf eine Überprüfung der Gewinne der Verkehrsunternehmen. «Morgen wird es mehr sein« – der Ruf, der in Bezug auf die Größe der Proteste mit jeder Aktion lauter wurde, war keine leere Ankündigung und Ausdruck einer Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen. Es ging nicht nur darum, dass die Fahrpreise um 20 Centavos angehoben wurden. Es ging um Rechte.

Aber der Wunsch nach Teilhabe und direkter politischer Aktion von Tausenden Brasilianer*innen wurde von den linken Parteien, die dieses Mal nicht an der Spitze der Proteste standen, als Verrat interpretiert. Zugleich verstand es die Rechte – daran gewöhnt, sich alles zum eigenen Vorteil anzueignen –, die Stärke der Bewegung auf der Straße zu erkennen und deren politische Agenda zu verändern: Statt sozialer Themen rückte der inhaltslose Diskurs der Korruptionsbekämpfung in den Vordergrund. Schnell nahmen die Rufe «Ohne Flagge» (gemeint ist die Ablehung der Institutonen) zu, und es häuften sich Erklärungen in der Mainstream-Presse, dass die Demonstrationen überparteilich seien. Die Gewalt gegen als Zeichen ihrer Parteizugehörigkeit in Rot gekleidete Menschen bei den Protesten nahm zu. Die Arbeiter*innenpartei PT beschuldigte unsere Bewegung zur politischen Erneuerung der Linken daher im Dienst der Rechten zu stehen. Wir kehrten verängstigt nach Hause zurück und entschuldigten uns praktisch für unseren Aktivismus bei der PT für die regierungskritischen Demonstrationen von links. Auf diese Weise gewann die Rechte die Straßen.

Bianca Santana ist eine Aktivistin der Schwarzen Bewegung in Brasilien. Journalistin, mit einem Master in Pädagogik und promoviert in Informationswissenschaften an der Universität São Paulo (USP). Autorin der Bücher «Continuo preta: a vida de Sueli Carneiro» (2021) und «Quando me descobri negra» (2015). Sie stellte den Sammelband «Vozes Insurgentes de Mulheres Negras: do século XVIII à primeira década do século XXI» (2019), zusammen, der von Mazza Edições und der Rosa Luxemburg Stiftung herausgegeben wurde.

Die Vereinnahmung der Straßen durch die Rechten

Die Vereinnahmung der Straßen durch die Demonstrationen der Rechten gab auch der Unzufriedenheit der Eliten über die Fortschritte der Regierung Lula in Bezug auf die Rechte der Teile der Bevölkerung Aufschwung und ein virulenter Klassenhass erstarkte.
Die rassistische Mittelschicht war zudem irritiert von den Errungenschaften des movimento negro, der Bewegung Schwarzer Menschen, zu denen die Einführung von Quoten für den Zugang zu öffentlichen Universitäten, die Anerkennung von Arbeitsrechten für Hausangestellte, sowie die stärkere Kaufkraft und somit der Zugang der Bevölkerung den Armenvierteln zu Konsumgütern gehörte. Die brasilianische Mittelschicht ist historisch aus den eigenen Privilegien und der Diskriminierung von Schwarzen und Armen hervorgegangen, die zudem als «das Andere» der brasilianischen Gesellschaft stilisiert wurden. Als Tochter eines Dienstmädchens in einer öffentlichen Universität zu studieren oder als arme Person mit dem Flugzeug reisen – das konnte aus Sicht dieser rassistischen Mittelschicht nicht toleriert werden.

Im Jahr 2014 begann die Operation Lava Jato (dt. Waschsalon, politisch motivierte Antikorruptions-Task-Force), die bis 2021 andauerte: Unter Missachtung von Grundsätzen der brasilianischen Demokratie und unter dem Vorwand von Korruptionsvorwürfen wurden in der Regierung Menschen regelrecht verfolgt. Die Bewegung Movimento Passe Livre, die im Jahr zuvor die Straßenproteste für soziale Rechte ins Leben gerufen hatte, verlor ihren Platz in der politischen Szene. Es entstand eine rechte Parodie, das Movimento Brasil Livre (Bewegung Freies Brasilien), das nun einen Anti-System-Diskurs auf die Straße brachte.

Dennoch wurde im Jahr 2014 die Präsidentin und Nachfolgerin von Lula, Dilma Rousseff, wiedergewählt. Wir haben an den Wahlurnen gewonnen. Aber da die Straße weiterhin der Rechten gehörte, kam es 2016 zu einem Staatsstreich. Dieser stürzte Dilma und verfestigte sich mit der Verhaftung von Lula, dem bekanntesten Opfer der Operation Lava Jato, und der politischen Absprache der Rechten mit den Militärs und den USA. Ihren Gipfel erreichte diese Entwicklung mit der Machtübernahme des pensionierten Hauptmanns der Armee, Jair Bolsonaro, bei den Wahlen 2018.

Und heute, im Jahr 2022, konzentrieren wir uns erneut auf die Wahlurnen und vernachlässigen die Straße. Bereits ein Jahr nach dem Sieg der Rechten an den Urnen formierte sich in Brasilien ein neuer Prozess der politischen Artikulation: Organisationen, Einrichtungen, Gruppen und Kollektive des movimento negro Brasiliens gründeten die Coalizão Negra por Direitos (Schwarze Koalition für Rechte), um sich so dem Rassismus entgegenzustellen, der täglich Hunderte von Schwarzen Männern und Frauen im ganzen Land tötet. Ein Aufstand gegen das breite Spektrum von rassistischem, geschlechtsspezifischem und sozialem Hass, der die Regierung Bolsonaro auszeichnet.Ich habe aus verschiedenen Bereichen der brasilianischen Linken gehört, dass die Coalizão Negra por Direitos die wichtigste Bewegung ist, die sich in den letzten Jahren in Brasilien gegründet hat. Das bereitet mir Sorgen. Nicht wegen der Koalition selbst. Sondern weil wir noch keine Bewegung der Massen sind und weil wir – leider – auch noch weit davon entfernt sind, eine zu werden.

Im Jahr 2019 haben sich die Schwarzen Bewegungen zusammengeschlossen, um auf nationaler und internationaler Ebene politisch aktiv zu werden und sich auf bürokratischem Weg gegen eine autoritäre Regierung zu wehren. Wir haben die Versuche gestoppt, die Quote für Schwarze Menschen in öffentlichen Universitäten zurückzunehmen; wir haben im Jahr 2018 aus nächster Nähe die Ermittlungen zum Mord an der Schwarzen Stadträtin Marielle Franco begleitet, die von Milizen in Rio de Janeiro ermordet wurde; wir haben die Quilombola-Gemeinden im Bundesstaat Maranhão bei der Verteidigung ihres Territoriums unterstützt, das das brasilianische und US-amerikanische Militär für den Bau einer Raketenabschussbasis nutzen will. Und was noch wichtiger ist: Wir haben einen organisatorischen Sprung gemacht.

Schwarze Gruppen kämpfen für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft

Wir sind derzeit im ganzen Land mehr als 230 Schwarze Gruppen, die daran arbeiten, eine politische Agenda zur Verteidigung der sozialen Rechte und zur Bekämpfung des Neoliberalismus aufzustellen. Wir haben die Kampagne «Es gibt Menschen, die hungern» ins Leben gerufen, die, ausgehend von der Verteilung von Lebensmitteln in der Notsituation der Corona-Pandemie, die politische Bildung in Schwarzen und marginalisierten Gebieten in allen brasilianischen Bundesstaaten fördert. Wöchentlich treffen wir uns, um die aktuelle Situation zu diskutieren und Entscheidungen im Kollektiv zu treffen. Und wir rufen dazu auf, nicht nur gegen Bolsonaro vorzugehen, sondern auch den landesweiten Genozid an Schwarzen anzuprangern und zu beenden.

Und obwohl ich Fortschritte erkenne, behaupte ich, dass es immer noch zu wenige sind, die sich der Bewegung angeschlossen haben. Dass wir nur dann eine echte Chance haben werden, für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft zu kämpfen, die frei von Rassismus und Machismus ist und die das gute Leben fördert, wenn wir zu einer Schwarzen Massenbewegung werden. Daher frage ich mich, wie das Jahr 2022 wird. Zweifellos ist es wichtig, Schwarze zu wählen. Aber sollte das unser vorrangiger Fokus sein? Wie viel bringt jedes politische Mandalt, das mit der Bewegung verbunden ist, für die Bewegung im Allgemeinen und für die notwendige Transformation der sozialen Realität des Landes?

Im März dieses Jahres war ich Mitglied einer Delegation von Organisationen, die die Coalizão in Kolumbien und Chile bilden. Wir haben die Endphase des Wahlkampfs von Francia Márquez miterlebt, bevor sie 15 Prozent der Stimmen für das Präsident*innenamt erhielt, ebenso wie die Amtseinführung von Gabriel Boric in Chile, der die Aktivitäten des 8. März auf den Straßen von Santiago vorausgingen. Inmitten von über 350.000 Frauen zu sein, die die Straßen besetzen, weckt die Erinnerung an die Demonstrationen im Juni 2013 in Brasilien und liefert Antworten auf die Frage, warum die chilenische Regierung sich feministisch nennen darf.

Trotz aller Schwierigkeiten waren die Streiks und Straßendemonstrationen in Kolumbien, sowie die Schulbesetzungen, Streiks und Demonstrationen in Chile entscheidend für die gesellschaftliche Auseinandersetzung und für die Erfolge bei den Wahlen. Und die Ausweitung der Präsenz auf der Straße kann zu linken Regierungen führen, die Lateinamerika neue Wege eröffnen werden. Hier in Brasilien müssen wir nicht nur Bolsonaro an der Wahlurne besiegen, indem wir Lula wählen (der Kandidat der PT liegt in den Wahlbefragungen vorne), sondern wir müssen das Wahlergebnis nachhaltig gestalten und unsere politische Agenda auf die gesamte Bevölkerung ausweiten. Wie kann die Coalizão Negra por Direitos ihr Aktionsgebiet ausweiten? Wie können wir die Erfahrungen der Schulbesetzungen im Jahr 2015 heute nutzen? Wie lässt sich die Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (Bewegung der Landlosen Landarbeiter*innen, MST) im Kampf gegen die Agrarindustrie unterstützen, die jeden Tag Landarbeiter*innen tötet? Wie kann Landbesitz und die Stärkung der Quilombola-Gemeinden gewährleistet werden? Wie lässt sich die Gewalt gegen indigene Gemeinschaften, Mädchen und Frauen beenden und wie kann erkannt werden, dass die politische Weisheit der indigenen Völker grundlegend dafür ist, dass das Leben der Menschheit auf der Welt weiterhin möglich bleibt? Der Diskurs der politischen Erneuerung ist sogar zum Namen einer Partei in Brasilien geworden, der Neuen Partei (Partido Novo), die sich «neu» nennt, aber alte Praktiken reproduziert. Selbst der Präsident der Milizen, Bolsonaro, der selbst 30 Jahre lang Abgeordneter war, spricht sich gegen die alte Politik aus und präsentiert sich als Alternative. Wie können wir in das Spiel einsteigen, um die Herzen der Menschen – wirklich – zu erobern? Das Vertrauen, das wir alle in Lula haben, reicht nicht aus, um das Land wieder aufzubauen. Wir müssen Lula wählen, aber es muss noch mehr passieren.

Die Geister des Jahres 2013 aus der Flasche zu lassen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, kann uns helfen zu verstehen, dass wir uns für eine neue politische Kultur öffnen müssen - partizipativer, feministischer, Schwarzer, indigener, zeitgemäßer mit den Möglichkeiten der sozialen Netzwerke, in echter Verbindung mit der Forderung nach Authentizität in der Politik. Francia Márquez' Wahlkampfslogan «Schwarze Frauen, vom Widerstand zur Macht, bis auch der Alltag Würde hat» erinnert uns daran, wie die Bewegungen Schwarzer Frauen, die ganz Lateinamerika beeinflusst hat, Möglichkeiten zur Analyse und Veränderung der Welt eröffnete. Die Frauen, die sich dem Machismus und dem Rassismus widersetzen, sind diejenigen, die sich um die Menschen, das Wasser und den Boden sorgen, und sie müssen an die Macht kommen. Nicht damit sie ihre Position in einer Logik der Ungleichheit umkehren und die Spitze besetzen, sondern um zur Förderung von Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechten aller beizutragen. Das war die politische Agenda von Marielle Franco, als sie im März 2018 mit vier Kopfschüssen ermordet wurde.

Vier Jahre später wissen wir immer noch nicht, wer den Auftrag für Marielles Mord erteilt hat. Das zeigt uns, dass Wahrheit und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Ermordung einer Schwarzen Parlamentarierin in Brasilien keine Priorität haben. Weder von der Milizregierung, die den Beschuldigten nahesteht, noch von der Linken, die sagt, sie wolle Bolsonaro stürzen, aber genau das Thema ignoriert, das den Präsidenten und seine teils mitregierenden Söhne am meisten angreifbar macht. Also, wer hat sie nun angeordnet, die Ermordung von Marielle?

Im Zuge des Vorwahlkampfes hat das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo drei Expert*innen gebeten, die aktuelle Situation in Brasilien wenige Monate vor den Wahlen jeweils unter ihrer fachlich-spezifischen Brille zu beleuchten:

Bianca Santana, Aktivistin der Schwarzen Bewegung in Brasilien und Journalistin (u.a.) informiert über den Widerstand gegen Bolsonaro und weist darauf hin, dass es ein fataler Fehler wäre, nur auf die Wahlkampagnen zu setzen und die Mobilisierung auf den Straßen außer Acht zu lassen.
João Brant beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Rechten und Fake News weltweit. Er nimmt Brasilien als ein Beispiel, um das Gefahrenpotenzial der Entwicklung des digitalen Raums für die Demokratie aufzuzeigen.
Rodrigo Lentz von der Universidad de Brasilia untersucht die Rolle des Militärs in der brasilianischen Politik und zeigt dass die bewaffneten Kräfte ihr eigenes politisches Projekt haben.

Die drei Artikel wurden in einem illustrierten Faltblatt auf Spanisch veröffentlicht. Die Texte liegen nun auch in deutscher Übersetzung vor.