«Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?» Brechts Zitat, paraphrasiert und auf den über 40 Jahr währenden Krieg in Afghanistan angewandt, könnte lauten: Was ist die Handhabung von Waffen gegen die Herstellung von Waffen?
Afghanistans Kriegsökonomie in ihrer internationalen Dimension besteht vor allem aus der Rüstungsindustrie und dem relativ neuen Sektor der Sicherheitsdienstleister. In ihrer afghanischen Dimension geht es nicht nur um die Anwendung von Waffen zur Durchsetzung bestimmter Kriegs- oder politischer Ziele, sondern auch um die Bestreitung des Lebensunterhaltes in einer von 40 Jahren Krieg ausgepowerten Wirtschaft. Bereits vor Beginn der neuesten afghanischen Kriege in den 1970er Jahren zählte sie zu den schwächsten der Welt, wenn sie bis dahin auch in der Lage war, die Bevölkerung des Landes ausreichend zu ernähren.
Thomas Ruttig betreibt seit vielen Jahren den Afghanistanblog. Er ist Mitbegründer des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin.
Während die Aktien des militärisch-industriellen Komplexes durch die Decke gingen und die afghanischen Warlords reich wurden, gehören Kämpfer aller Seiten – wie die Mehrheit der Bevölkerung – zu den Verlierern der Kriege. Allerdings sind sie in der Lage, ihre Waffen einzusetzen, um von der Bevölkerung einen Lebensunterhalt zu erpressen. Politische Protektion durch ihre Warlords gibt ihnen dabei Straffreiheit.
Der militärisch-industrielle Komplex
Bekannt sind die Zahlen für die internationalen Kriegsausgaben. Das Costs-of-War-Projekt der Brown University im Staat Rhode Island beziffert sie für die USA von der Intervention gegen die Taleban im Jahr 2001 bis zum Truppenabzug im August 2021 auf 2.313.000.000.000 (2,313 Billionen) US-Dollar. Davon entfielen 145 Milliarden auf «Versuche, Afghanistan wieder aufzubauen», wie es der zuständige US-Sonderinspekteur (SIGAR) 2021 in einem Resümee-Papier vorsichtig formulierte, also dem, was gemeinhin als «Entwicklungshilfe» bezeichnet wird. Das sind gut sechs Prozent der gesamten Kriegsausgaben. Wiederum nur 55 Milliarden davon entfielen auf den zivilen Bereich; 90 Milliarden flossen also in die afghanischen Streitkräfte.
Der internationale Aspekt des Kriegsgewinnlertums aus den Afghanistan-Kriegen ist bisher nur in Ansätzen beleuchtet worden. Das Costs-of-War-Projekt errechnete, dass sich der Wert der Aktien der fünf größten US-Rüstungsfirmen seit Beginn der «Kriege gegen den Terror» verzehnfacht hätte. Seit 2001 erhielten sie Pentagon-Aufträge im Wert von 2,2 Billionen USD. Ein neuer Bericht des Projekts legt offen, dass Sicherheitsdienstleister vom US-Verteidigungsministerium seit 2001 insgesamt 108 Mrd. US-Dollar für Aufträge in Afghanistan erhielten. Mehr als ein Drittel davon (37 Mrd.) gingen an solche, deren Identität geheim gehalten wird.
Wie viele der so produzierten US-Waffen in Afghanistan eingesetzt wurden, ist unklar. Klar ist hingegen, dass der Löwenanteil der US-Rüstungsausgaben für die Kriege gegen den Terror in den vergangenen 20 Jahren an das eigene Militär ging, ein kleiner Teil an die afghanischen Streitkräfte. Drei Viertel aller schweren Waffen, die sie seit 2001 erhielten, waren Neuproduktionen. Drei Viertel davon lieferten die USA. Außerdem lieferten sie und andere Staaten großen Mengen an Kleinwaffen und Munition. Allein aus den USA gingen von September 2001 bis September 2015 Kleinwaffen im Wert von 2,16 Mrd. US-Dollar nach Afghanistan und Irak. Beide Länder wurden in US-Budgets oft gemeinsam unter den «Kriegen gegen den Terror» geführt. Von 2005 bis August 2021 stellten die USA den afghanischen Streitkräften laut Pentagon Ausrüstung im Wert von 18,6 Mrd. Dollar zur Verfügung.
Laut SIGAR fielen fast 30 Prozent der US-Ausgaben für Afghanistan zwischen 2009 und 2019 «Verschwendung, Betrug und Missbrauch» – also Korruption – zum Opfer. Ein Großteil davon steckten sich die afghanischen Verbündeten des Westens in die Tasche. Einer der größten Brocken dabei war das Geschäft mit der Versorgung der NATO-Truppen, das das US-Militär einem Konsortium aus sieben teilweise afghanischen Firmen übertragen hatte. 2009 brachten sie fast 190.000 Tonnen Fracht – von Munition bis Trinkwasser sowie 5 Millionen Liter Treibstoff pro Tag – an die NATO-Basen in Afghanistan. Laut eines «Warlord Inc.» betitelten Berichts des US-Kongresses von 2010 floss ein Großteil des 2-Mrd.-Dollar-Geschäfts als Schutzgelder an afghanische Warlords (die zum Teil die vom Konsortium subkontraktierten afghanischen Transportfirmen kontrollierten), korrupte Polizisten und die Taleban.
Von der sogenannten Entwicklungshilfe blieb ein Löwenanteil nicht in Afghanistan, oder kam gar nicht erst dort an. 2014 schrieb die Weltbank, dass «Ausgaben ‹für› Afghanistan nicht Ausgaben ‹in› Afghanistan» sind. «Die meisten Hilfsgelder (sowohl zivile Hilfe als auch Sicherheitsunterstützung), einschließlich jener, die im Land an Kontraktnehmer vergeben werden, haben einen niedrigen einheimischen Wirtschaftsanteil. (…) Nur 38 Cent jedes Dollars erreichen die lokale Wirtschaft». Berücksichtige man dabei noch die Sicherheitsausgaben für Entwicklungsprojekte, so liege der «einheimische Wirtschaftsanteil» der aggregierten Hilfsflüsse nur bei 14 bis 25 Prozent – also höchstens einem Vierteldollar. Sarkastisch gesagt, ist das eher Selbsthilfe für die Geberländer. Neuere Zahlen dazu sind dem Autor nicht bekannt. Auch hier besteht deutlicher Forschungsbedarf.
Allein bis 2009 wurden 17 Mrd. US-Dollar durch die internationalen Truppen in Afghanistan vergeben, damals 65 Prozent der Gesamtsumme. Sie kam vor allem militär-politischen und nicht Entwicklungszwecken zugute. Damit wurde z.B. versucht, die Loyalität lokaler power broker oder örtlicher Gemeinschaften zu kaufen, zumeist in Taleban-beeinflussten Gebieten. Gebiete, die die Zentralregierung (noch) unterstützten, wurden benachteiligt. Schon die Ausgaben des US-Kommandeursfonds (Commanders Emergency Response Program, CERP) mit 1,5 Mrd. US-Dollar nur zwischen 2004 und 2011 waren größer als die Ausgaben der afghanischen Regierung für Gesundheit und Bildung. Zu den Kontraktnehmern solcher «Entwicklungshilfe» gehörten sogenannte For-profit-NGOs mit Sitz in westlichen Ländern, wohl eine Erfindung der Afghanistan-Kriege, sowie mit afghanischen Politikern und Warlords (aber auch Newcomern) verbundene Firmen und Schein-NGOs.
Auch die CIA beteiligte sich an Direktzahlungen an Politiker, bis zu Ex-Präsidenten Hamed Karsai und seinen später ermordeten Bruder Ahmad Wali Karsai, der in Kandahar eine Art Familienmiliz aufbaute und ebenfalls in den Drogenhandel verstrickt war.
Bekannter ist ein anderes Phänomen: die sogenannte administrative Korruption, die endemisch und bald sprichwörtlich wurde. Man kann davon ausgehen, dass große Teile des von der Weltbank als «einheimischer Wirtschaftsanteil» bezeichneten Teils der externen Entwicklungszahlungen (20,0 bis 36.25 Mrd. US-Dollar) in korrupte Kanäle flossen. Vorhandene Zahlen sind haarsträubend. Das Afghanistan Border Monitoring Project von Alcis, einer britischen Firma, die Daten aus Konfliktgebieten auswertet, geht davon aus, dass regierungsnahe power broker jährlich allein 767 Millionen US-Dollar an Bestechungsgeldern (über zu ihren Netzwerken gehörende korrupte Beamte) für nicht deklarierte Export- und Importgüter an offiziellen Grenzübergängen einstrichen, und dazu weitere 650 Millionen an Kontrollposten an den Hauptverkehrsstraßen im Land. (Dazu kamen «Zölle» der Taleban an den von ihnen kontrollierten inoffiziellen Übergängen und Gebieten.)
Korruption und Katastrophe
Auch sonst erhoben alle afghanischen Konfliktparteien «Steuern» auf fast all Wirtschafts- und Handelstätigkeiten – die Taleban «offiziell» und Polizisten, Soldaten und Milizen der Regierung für die eigene Tasche. Ein Unternehmer sagte jüngst dem britischen Guardian, er habe über die Jahre insgesamt 3 Mio. US-Dollar an «Steuern» an die Taleban zahlen müssen.
Es gab Geistersoldaten, -polizisten, -lehrer und –schulen, die in den Erfolgsstatistiken auftauchten, aber nicht wirklich existierten. Die dafür überwiesenen Entwicklungsgelder teilten korrupte Beamte und Machthaber auf lokaler wie nationaler Ebene unter sich auf. US-Militär Jonathan Schroden schrieb bereits im Januar 2021, er schätze, dass nur 180.000 der offiziell 350.000 afghanischen Soldaten und Polizisten tatsächlich existierten.
Dieselben Warlords, die mit den NATO-Truppen gegen die Taleban kämpften, und ihre Firmen, die den Nachschub für sie transportierten, schafften auch die Ernte der explodierenden Drogenwirtschaft aus dem Land. Die Menge an produziertem Rohopium war von durchschnittlich etwa 100 Tonnen pro Jahr in den 1970er Jahren auf 3000-4000 während der Mudschahedin-Fraktionskriege in den 1990ern und 6000 unter den Augen der NATO-Truppen gestiegen. Spitzenwert waren 9000 Tonnen im Jahr 2017. Bereits in den frühen Jahren nach der US-geführten Intervention schossen in Afghanistans Städten mit Drogengeldern gebaute Poppy-Paläste aus dem Boden – und wurden oft an Botschaften und westliche Kontrakteure vermietet. Legendär wurden die Luxusapartments afghanischer Politiker in Dubai und der Fall der Kabul Bank, die mit einem Schneeballsystem von Krediten und Reinvestitionen fast in den Kollaps getrieben wurde und etwa eine Milliarde Dollar «verlor». Sie musste mit westlichen Steuergeldern gerettet werden, damit Afghanistans Staatsbedienstete weiterbezahlt und ein Staatszusammenbruch vermieden werden konnten. Der Skandal wurde weitgehend vertuscht. Deutsche Diplomaten und Bundeswehr pflegten trotz Wissens um deren Verstrickung in den Dogenhandel intensive Beziehungen mit einigen dieser Warlords, z.B. in ihrem damaligen Hauptstationierungsort Kundus.
Warlords und Politiker-Newcomer wie Karsai reinvestierten ihre Korruptionsgewinne zunächst in die legitime Wirtschaft, neben dem Bau- und Transportwesen für das NATO-Militär in den Import/Export-Sektor, Immobilien, das Bankwesen und den Bergbau und verwandelten sie schließlich in politisches Kapital. Sie stellten Milizen auf, um Wähler einzuschüchtern, oder kauften sie gleich, ließen Wahlergebnisse manipulieren und sicherten sich einflussreiche Posten in Regierung, Parlament und Verwaltung. Korrupte Geschäftsleute kauften Parlamentssitze, um politische Immunität zu erlangen, und Regierung und Opposition dort Stimmen, um wichtige Abstimmungen zu gewinnen. Im letzten, 2018 gewählten Parlament saßen fast nur noch Geschäftsleute ohne politisches Programm.
Was der afghanische Analyst Rahmatullah Amiri und seine britische Kollegin Ashley Jackson jüngst in einem Bericht für den britischen Think Tank ODI über sogenannte Friedensschaffungs- und Stabilisierungsprojekte schrieben, trifft für alle diese Bereiche zu. Die westlichen «Interventionen (...) hatten oft korrosive und kontraproduktive Effekte, befeuerten oft Korruption, schürten Konflikte über Ressourcen und erodierten traditionelle Institutionen [zur Konfliktbeilegung]. (...) Die internationale Gemeinschaft und die [damalige Regierung] benutzten Hilfe und Nötigung, um lokale Führungspersonen und Gemeinschaften zu zwingen, eine Seite [im Konflikt] zu wählen. Das war eine Falle: eine Seite zu wählen würde unvermeidlich das Risiko erhöhen, zum Ziel [der anderen Seite] zu werden, und erodierte den Zusammenhalt von Gemeinschaften. (...) Diese Dynamik zerstörte das soziale Gewebe vieler Gemeinschaften».
Wer die Verlierer sind, ist klar: «die Bevölkerung». Die UNO sprich von der «am schnellsten wachsenden humanitären Katastrophe weltweit». Demzufolge bekommen mehr als 90 Prozent der Haushalte nicht genug zu essen; die Hälfte der Bevölkerung leide unter «Nahrungsmittelunsicherheit», d.h. steht kurz vor einer Hungerkatastrophe. Dafür ist v.a. die von Washington inszenierte Einstellung der langfristigen Entwicklungszahlungen verantwortlich; solche Zahlungen deckten bis August 2021 etwa drei Viertel der afghanischen Staatsausgaben. Das ließ massenhaft Jobs in bisher regierungsgeführten Bereichen wie dem Gesundheits- und Bildungswesen sowie bei NGOs verschwinden und die neu entstandene afghanische Mittelschicht fast völlig wegbrechen, die von diesen Einkommen abhängig war. Der kanadische Journalist Matt Aikins berichtete jüngst in der New York Times von seinem Besuch in einem UN-Verteilungszentrum in Kabul, wo Männer «in einer Reihe an, die sich mehrere Blocks durch das Viertel zog» nach Nahrungsmittelhilfe anstanden. «Das war die Mittelschicht», zitierte Aikins einen UN-Mitarbeiter. (27)
Zudem drängten die Taleban und die Angst vor ihnen überdurchschnittlich viele Frauen aus der Lohnarbeit. Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten «drastische» Einkommensrückgänge. Die meisten ländlichen Haushalte werden wegen der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren ihre Nahrungsmittelreserven deutlich vor dem Winter aufgebraucht haben.
Selbst viele ehemalige Kämpfer gehören zu den Verlierern. Bereits ein vom Westen finanziertes Programm nach dem Sieg über die Taleban 2001 scheiterte daran, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung standen, um die Demobilisierten nachhaltig in die zivile Wirtschaft zu integrieren, und massiver Korruption («Geisterdemobilisierte»). Vor allem die Unterkommandeure wollten nicht wieder Bauern werden. Sprichwörtlich der Ausspruch eines von ihnen: «Für einen Sack Weizen und ein paar Dollar gebe ich nicht meine Waffe ab.» Die Warlords konnten viele der Demobilisierten für ihren Milizen remobilisieren und ließen sich dafür sogar vom Staat bezuschussen. Der Westen akzeptierte das in seiner Not, der wieder stärker werdenden Taleban Herr werden zu wollen.
Diese Erfahrungen sind auch ein Grund dafür, dass die Taleban bisher ihre Zehntausende von Kämpfern nicht demobilisieren, sondern sie über «Polizeidienste» bei der Stange halten, weil ihnen dabei zumindest sporadische Weiterbezahlung winkt. AAN zitierte einen Taleban-Kämpfer aus Logar, der offenbar nach Hause gegangen und dort bei der Verteilung von Nahrungsmitteln leer ausgegangen war: «Von zehn Empfängern ist vielleicht einer wirklich bedürftig. Der Rest sind Leute mit Beziehungen. Natürlich spielt die [Taleban-]Regierung eine Rolle bei dieser Korruption.»
Auch bisherige Nicht-Taleban suchen sich unterdessen Beschäftigung bei der berüchtigten «Moralpolizei» der Taleban, etwa in Bamian. «Zögernd, weil es keine anderen Jobs gibt», so die Schwester eines von ihnen.