Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Partizipation / Bürgerrechte - Iran - Feminismus Iran vor der Revolution?

Der Iran wird derzeit von heftigen Protesten erschüttert, die die Machthaber in Angst und Schrecken versetzen.

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Hamid Mohseni,

Protest mit abgeschnittenen Haaren während einer Demonstration vor dem iranischen Konsulat nach dem Tod von Mahsa Amini in Istanbul, Türkei, 26. September 2022
Weltweit löst der Tod der 22-jährigen Mahsa Jina Amini in iranischem Polizeigewahrsam Proteste aus. Eine Frau hält abgeschnittene Haare in der Hand während einer Demonstration vor dem iranischen Konsulat nach dem Tod von Mahsa Amini in Istanbul, Türkei, 26. September 2022, Foto: picture alliance/EPA/SEDAT SUNA

Der Iran wird derzeit von einer heftigen Protestwelle erschüttert. In über einhundert Ortschaften gehen die Menschen seit gut zwei Wochen auf die Straße und demonstrieren gegen die Islamische Republik (IRI). Sie liefern sich militante Auseinandersetzungen mit einem mächtigen, aber überfordert wirkenden Sicherheitsapparat, zerstören Symbole der Herrschaft, besetzen Regierungsbüros und kontrollieren gar vorübergehend ganze Orte, wie zuletzt das überwiegend kurdisch besiedelte Oshnaviyeh. Über hundert Menschen sollen bereits gestorben sein, Tausende wurden verhaftet. Bemerkenswert ist, dass Frauen den verordneten Hidschab abnehmen und die Proteste prägen. Offensichtlich beinhalten die Proteste des Septembers 2022 ein revolutionäres Moment, das die islamistischen Machthaber in Angst und Schrecken versetzt.

Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste dort kritisch begleiten.

Auslöser für die Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Jina Amini, einer iranischen Kurdin, in Polizeigewahrsam. Am 13. September wurde sie von der iranischen «Moralpolizei» in Teheran auf ihr Kopftuch angesprochen und festgenommen. Der Vorwurf lautete, es sei zu viel Haar zu sehen, das sei «unislamisch» und «unsittlich». Als «Erziehungsmaßnahme» kam Amini einige Stunden in Gewahrsam, und zwar ins berüchtigte Evin-Gefängnis. Als sie von dort entlassen wurde, befand sie sich im Koma und verstarb drei Tage später im Krankenhaus. Die iranischen Behörden behaupten, Amini sei an einem epileptischen Anfall mit anschließendem Herzinfarkt gestorben, sie habe bereits vorher an gesundheitlichen Probleme gelitten – eine Pauschalerklärung des Regimes für Foltertote. Augenzeugen berichten indes, ihr Kopf sei bei der Festnahme auf eine Motorhaube geschlagen worden. Andere zu der Zeit im Gefängnis inhaftierte Frauen sagten bei ihrer Entlassung: «Sie haben dort jemanden umgebracht.» Aminis Familie stellte in einem Interview klar, dass ihre Tochter vor der Inhaftierung kerngesund gewesen sei, und hochrangige iranische Mediziner erklärten öffentlich, dass es keine Belege für einen Tod durch Herzinfarkt gebe. In der Tat weist Aminis geleakte Kopf-CT Anzeichen für eine Hirnblutung als Todesursache auf.

Doch bereits vor dem Leak und den Aussagen der Familie und diverser Mediziner, die allesamt die behördliche Version in Frage stellten, war für die Demonstrierenden das Wesentliche klar: Eine junge Frau wurde wegen eines Stücks Stoff bzw. «wegen ein paar Haarsträhnen» (Aminis Mutter bei deren Beerdigung) von Staatsdienern umgebracht. Bald fanden erste Versammlungen und Aktionen im kurdischen Teil Irans statt, insbesondere in Sanandaj – Aminis Wohnort und Hauptstadt der iranischen Provinz Kordestān –, doch binnen weniger Stunden verbreiteten sich die Proteste landesweit, Aminis Bild und die Hashtags #IranProtests2022 sowie #MahsaAmini gingen durch die digitale Welt.

Es ist die Banalität ihres Todes, die die Proteste so intensiv werden ließ. Millionen Iranerinnen kennen diese Schikane, haben sie bereits am eigenen Leib erlebt oder an Schwestern, Tanten, Müttern, Freundinnen bezeugen können, wie Frauen vor ihren Augen von konservativen Regimetreuen sowie von jener «Moralpolizei» bespuckt, beschimpft, geschlagen, getreten, festgenommen und gefoltert werden. Aminis Tod ergab sich aus einer umstrittenen Alltagshandlung, die seit dem Bestehen der Islamischen Republik selbst aus Kreisen der herrschenden politischen Klasse kritisiert wird. Das erklärt die Frustration, die Wut und letztlich auch den Mut der derzeit im Iran Protestierenden.

Der Kampf gegen den Hidschab

Gleichzeitig ist der Hidschab im Iran weitaus mehr als nur ein Stück Stoff: Er ist erstens ein Schlüssel zum Verständnis der Ideologie der Islamischen Republik und zweitens das wichtigste Thema der größten und bedeutendsten sozialen Bewegung im Land, der Frauenbewegung.

In der Ära vor der IRI hatte der Schah – ein westlich-orientierter, autoritärer Modernisierer von oben – das Tragen des Hidschabs verboten. In der antimonarchistischen Revolution von 1979, die von vielen unterschiedlichen Kräften im Land getragen wurde, deutete man ihn zu einem Widerstandssymbol gegen den Schah um; viele, auch linke, progressive und feministische, Frauen legten ihn aus strategischen Gründen an.

Nach der Revolution sicherten sich die Mullahs mit ihrer Galionsfigur Ayatollah Khomeini – unter massivem Einsatz von Gewalt gegen die vorherigen Verbündeten – die Macht. Mittels des Verbots oppositioneller Organisationen und Parteien, Inhaftierungen und Massenhinrichtungen vernichteten sie die ehemals starken kommunistischen Parteien sowie die Volksmudschaheddin und sicherten sich auf diese Weise die Alleinherrschaft. Die Zwangsverschleierung – das Nicht-Tragen wurde als Loyalität zum Schah gedeutet und als konterrevolutionär gebrandmarkt – war für die Islamisten von herausragender Bedeutung. Ihr Frauenbild fokussierte auf die Rolle der Frau als unterstützende Begleiterin, die sich um die Reproduktionsaufgaben innerhalb der Familie zu kümmern habe. Gleichzeitig wurden Frauen verantwortlich gemacht für den vom neuen Regime beklagten moralischen Verfall der Gesellschaft. Die Lösung dieses Verfalls sahen die neuen Machthaber im Tragen des Hidschabs. So sagte Khomeini: «Wenn die islamische Revolution kein anderes Ergebnis haben sollte als die Verschleierung der Frau, dann ist das per se genug für die Revolution» (Nameye-Zan, No. 2-3., Teheran, 2003). Anders ausgedrückt: Über die Frauen kontrollieren die Mullahs die Gesellschaft.

Die Verpflichtung zum Kopftuch-Tragen war zwar in Khomeinis Augen die wichtigste politische Maßnahme, provozierte jedoch auch den Widerstand der Frauenbewegung, der die Einführung des Hidschabs zumindest verzögerte. Somit wurde der Hidschab zum wichtigsten Thema der Frauenbewegung in der post-revolutionären Ära.

Aber auch nach der Etablierung der IRI skandalisierten Frauen immer wieder die zutiefst sexistische Lebensrealität im Land. Darunter fielen auch Themen jenseits der Kleiderordnung, wie das Ehe- und Scheidungsrecht, das Mitspracherecht jenseits männlicher Bezugspersonen, das Mindestalter für (Zwangs-)Verheiratungen und Strafmündigkeit, das Recht auf Abtreibung, die bestehenden Berufsverbote, Repräsentation in der Politik usw. Doch der Hidschab vereinte symbolisch all diese Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, insbesondere im Alltag.

Inzwischen kämpfen Frauen seit Jahrzehnten mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen das Regime. Sie konnten durchsetzen, dass insbesondere in großen Städten wie Teheran und Isfahan das Kopftuch bewusst immer nachlässiger getragen und mehr Haar gezeigt wird. Vor einigen Jahren wurden Kampagnen ins Leben gerufen, bei denen Frauen ohne Hidschab und/oder in «schriller» Bekleidung sich in den öffentlichen Raum begeben und einander dabei filmen. Im Dezember 2017 stieg Vida Modavahed – eine alleinstehende Mutter aus einfachen Verhältnissen – auf einen Stromkasten auf der symbolträchtigen Teheraner Revolutionsstraße, nahm ihr weißes Kopftuch ab und schwenkte es an einer Stange – das ikonische Foto ging um die Welt und wirkt heute geradezu prophetisch. Denn auch in der aktuellen Protestbewegung ist das Abnehmen des Hidschabs und die starke Präsenz von Frauen in der vordersten Reihe das Zeichen, das diese Protestwelle prägt und der Legitimität der IRI – wenn sie in einigen Wochen denn noch so besteht – nachhaltig Schaden zufügt. Zugleich ist diese Bewegung ein Schlag ins Gesicht derjenigen linksliberalen Pseudofeministinnen, die behaupten, es gehe beim Kampf gegen den Hidschab nur um ein «bisschen Wind im Haar» und um «westliche Ideologien»

Ein Land als Pulverfass

Die September-Proteste sind, wie auch die letzten Wellen der Aufstände im Iran, nicht vom Himmel gefallen. Man kann ihre Intensität und ihren Radikalismus nicht verstehen ohne den Kontext und die Lage, in dem sich das Land politisch und ökonomisch befindet.

Erstens hat die IRI einen «Geburtsfehler», denn für viele Sachverhalte in der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts fehlt ihrem Personal schlicht die Kompetenz. Im politisch totalitären System der IRI sind die wenigen wirklich einflussreichen Positionen ausschließlich mit islamischen Gelehrten besetzt, die eine streng geistliche Ausbildung durchlaufen haben.

Zweitens ist die IRI hochgradig korrupt. Ein Konglomerat aus Mullahs und dem industriell-militärisch-ökonomischen Komplex der Revolutionsgarden teilt sich sämtliche Schlüsselsektoren der Wirtschaft in sogenannte Bonyads auf, das heißt sie schanzen sich gegenseitig Aufträge, Genehmigungen und Beschlüsse zu mit dem Ziel der eigenen Profitmaximierung. Die gigantische soziale Kluft zwischen den Angehörigen des Staatsapparats und der Bevölkerung tritt durch die Sanktionen immer deutlicher zutage: Während die Herrschenden keinen Deut von ihrem luxuriösen Leben abrücken, stürzen immer mehr Menschen in existenzielle Krisen und wissen nicht, ob sie sich und ihre Familie am nächsten Tag noch ernähren können. Dieser Zustand spitzt sich dadurch zu, dass die IRI Mitleid erheischend verkündet, dass sämtliche Budgets im Land gekürzt werden müssten, während gleichzeitig weiterhin Milliarden an die Verbündeten in der Region fließen, um den Stellvertreterkrieg gegen den Westen – in Syrien, Israel/Palästina, Jemen, dem Irak und andernorts – weiterzuführen.

Drittens treffen die aktuellen Proteste das Regime zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, da der alternde Führer Ayatollah Khamenei seine einstige Stärke zunehmend einbüßt. Bemerkenswerterweise hat er sich bis heute nicht zu den Protesten geäußert. Der ohnehin schwache und nicht wirklich von der Bevölkerung legitimierte Präsident Ebrahim Raisi befand sich nicht einmal im Land; bei Ausbruch der Proteste weilte er auf der UN-Versammlung in New York und kehrte erst nach über einer Woche Ausnahmezustand nach Teheran zurück. Und schließlich zeigt der aufgeblasene, für übermächtig gehaltene Sicherheitsapparat erste Risse. Denn die seit Jahren andauernde Aufstandsbekämpfung gegen die eigene Bevölkerung hinterlässt Spuren. Inzwischen gibt es gar Gerüchte, dass manche Sicherheitskräfte es leid seien, brutal gegen ihre Mitbürger*innen vorzugehen. Es existieren sogar Aufnahmen von Szenen, in denen Einheiten der Sicherheitskräfte aufeinander losgehen. Es könnte also tatsächlich sein, dass die Einheit des Sicherheitskomplexes der IRI diesmal aufbricht.

Zur Realität der letzten Jahre gehört ebenfalls, dass die Menschen im Iran so verzweifelt sind, dass das Land zu einem Pulverfass wird. Verschiedene Anlässe werden dabei zu den berühmten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen; dabei kann es sich um die Inflation handeln, die bei über 30 Prozent liegt, und damit um nicht bezahlbare Lebensmittel- oder Benzinpreise; um ökologische Krisen oder, wie jetzt geschehen, um den Tod einer jungen Frau wegen des Hidschabs. Seit 2018 ist zudem eine Radikalisierung der Proteste festzustellen. Die Parole «Reformer, Konservative – das Spiel ist vorbei» manifestiert, dass das Vertrauen ins politische System erschüttert ist und die Bevölkerung jeden Glauben an die pseudodemokratischen Verfahren verloren hat.

Das linke iranische «Slingers Collective» diagnostiziert aktuell gar eine «Massenbewegung gegen die geschlechtliche, ethnische und soziale Unterdrückung der Bevölkerung durch das theokratische Regime». In der Tat lässt sich eine beeindruckende Solidarität zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten beobachten. So finden die Proteste überall im Vielvölkerstaat statt, es gibt ein klares gemeinsames Anliegen – das war zuvor nicht immer der Fall, die Proteste blieben oftmals regional isoliert. Darüber hinaus deuten auch die Parolen auf die Einheit und Verschwisterung der Akteur*innen hin: Da Amini Kurdin war und die Proteste im kurdischen Teil des Landes am stärksten sind, ist das aus Kobanê bekannte «Jin, Jiyan, Azadi» (Frau, Leben, Freiheit) eine der wichtigsten Parolen. Man hört sogar Slogans wie «Kurdistan, Du bist Auge und Licht des Iran». Und wenn, wie jetzt, überall im Land die Frauen an der Spitze der Proteste stehen und sich den verhassten Hidschab vom Kopf reißen, dann handelt es sich um nicht weniger als einen Moment des revolutionären Aufbruchs.

Allerdings sollte man von vorschnellen Urteilen absehen, denn es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Proteste gewaltsam niedergeschlagen werden. In diesem Fall würde einmal mehr ein hoher Preis für das Streben nach Freiheit bezahlt. Fest steht aber auch, dass die Proteste vom September 2022 den Riss zwischen Bevölkerung und Regime weiter vertiefen werden. Und wie tief kann der Riss gehen, bevor alles auseinanderfällt?