Nachricht | Gesellschaftstheorie - WM Katar 2022 Was verbirgt sich hinter «Sportswashing»?

Warum Katar an der Austragung von Sportgroßveranstaltungen wie der WM 2022 interessiert ist

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Frau (Angela Merkel) im Kreise vieler Männer (deutsche Nationalmannschaft) in einer Umkleide
Angela Merkel posiert mit der deutschen Nationalmannschaft nach einem gewonnenen Spiel während der WM 2014 Foto: picture alliance / AP Photo | Guido Bergmann

Kein Wort ist seit Jahren so verbreitet, wenn es um die FIFA-Weltmeisterschaft in Katar geht: Sportswashing. Der Vorwurf erklingt überall, wo sich Menschen damit auseinandersetzen, warum das größte Sportevent des Planeten ausgerechnet auf der arabischen Halbinsel stattfindet. Zwischen Dünen und Meer, augenscheinlich sehr schwierige Bedingungen für den Fußball und seine Spieler. Schon als die Leichtathletik-WM 2019 in Katar stattfand, mehrten sich die Stimmen ob der brutalen Hitze. Der Marathon-Lauf der Frauen fand mitten in der Nacht statt, um vor den Temperaturen sicher zu sein und doch: 28 der 68 Läuferinnen kollabierten, bei den Männern sah es nicht viel besser aus. Und dass trotz idealer Wetterverhältnisse für Katar: um die 30 Grad Celcius, eine Luftfeuchtigkeit zwischen 50 und 75 Prozent.

Eine lohnende Anlage

Katar nutzt den Sport, offensichtlich sollte dafür ein Standortvorteil erarbeitet werden, der es dem katarischen Staat ermöglichte, über 500 Sportevents seit 1990 zu veranstalten. Von großen Golfturnieren über Formel 1-Strecken bis hin zur FIFA-Weltmeisterschaft: Aus einem unbekannten, kleinen Land der arabischen Halbinsel ist eine der wichtigsten Akteure des Weltsports geworden. Langfristiges Ziel des Emirats ist eine Reihe von Modernisierungen, die es dem katarischen Staat ermöglichen, sich unabhängiger vom Öl zu machen und andere Wirtschaftszweige zu erschließen. Mit der «Vision 2030» brachte das katarische Königshaus eine neue Ausrichtung auf den Weg, die u.a. auch Ziele formuliert, wie der Mittlere Osten den Klimawandel bekämpft und sich mit erneuerbaren Energien auseinandersetzt. In Zeiten, in denen auch der deutsche Bundeswirtschaftsminister in Katar Klinken putzen muss, um Erdgas zu erhalten, natürlich tolle Neuigkeiten. So lässt sich Robert Habeck mit den Worten zitieren:

«Katar ist dabei, die Fördermenge von Gas zu erhöhen und wir brauchen kurzfristig mehr Gas, das wir aus Russland ja ersetzen wollen. (...) Die Gespräche haben allerdings nicht nur über die Kurzfrist gehandelt, sondern sie handeln auch davon, wie es energiepolitisch insgesamt weitergeht. Vor meiner Reise wurde mir gesagt: ‹Katar liefert Gas und die interessieren sich nicht groß für erneuerbare Energien und Klimaschutz.› Das ist aber nicht der Fall. Die Transformation, die Bereitstellung von erneuerbaren Energien, die Klimaneutralität... Ich habe dies hier immer wieder angesprochen und zu meiner Überraschung gab es da eine große Aufgeschlossenheit.»

Sportswashing oder Kooperation?

Der Begriff Sportswashing unterstellt dabei eigentlich nur Bestrebungen, die das Ansehen eines Landes oder konkreter einer politischen Führung durch die Veranstaltung von Sportevents oder durch Investitionen in den Sport verbessern. Aus einer deutschen Perspektive dürfte dabei sofort der ein oder andere Gedanke zu Angela Merkel wandern, die als deutsche Bundeskanzlerin nicht nur erheblich von der aufstrebenden Männernationalmannschaft ab 2006 profitierte, sondern auch immer wusste, wie sie sich in diesem Umfeld zu präsentieren hatte. Die Szenen von Merkel als Trösterin in der Umkleidekabine, die entsprechende Inszenierung sowohl in den Filmen «Deutschland. Ein Sommermärchen» und «DIE MANNSCHAFT» als auch in der Kommunikation des Bundeskanzlerinnenamts. Doch das will dieser Begriff eigentlich nicht abdecken.

Sportswashing kam Anfang der 2010er Jahre auf, und bietet – ob konkret so formuliert oder eben nicht – eigentlich ein Konzept zum Verstehen dessen, was die Golfstaaten seit knapp zwei Jahrzehnten versuchen, meist mit rassistischen Untertönen. Einfluss in den europäischen Sport einkaufen, unentbehrliche Finanziers werden, Kontrolle erhalten. Nicht nur Katar steckt mit beiden Händen im Sportbusiness, auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Dubai, Saudi-Arabien und Bahrain sind mittlerweile wichtige Investoren des globalen Sports und insbesondere des Fußballs. Katar investierte über eine Milliarde US-Dollar in ihr französisches Aushängeschild, Paris Saint-Germain. Als die WM-Doppelvergabe 2018/2022 im Dezember 2010 stattfand, sorgte u.a. der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy dafür, dass Katar die WM 2022 erhielt. Im Gegenzug verdienten sich französische Unternehmen mit Großaufträgen an der arabischen Halbinsel ein goldenes Näschen. Viel zu oft wird dabei so getan, als wenn es bei den Sport-Investments nur darum geht, über die eigenen Missstände hinwegzutäuschen. Als wenn die Staaten in Katar oder Saudi-Arabien dem Rest der Welt einfach den Schein von eingehaltenen Menschenrechten und funktionierenden Arbeitsschutzbedingungen präsentieren wollten. Dafür sprechen auch die Schein-Reformen, die der katarische Staat seit einigen Jahren offiziell umsetzt, von denen aber migrantische Arbeiter*innen übereinstimmend berichten, dass sich in der Praxis kaum etwas getan hat.

Das Konzept des Sportswashing verdeckt jedoch einige wesentliche Dimensionen, um das Phänomen zu verstehen: Auch Unternehmen des kapitalistischen Zentrums haben die Golfregion für sich entdeckt und nutzen ebensolche Sportveranstaltungen, um sie zu verwestlichen. So hat die WM-Vergabe nach Katar unter anderem zum größten Auftrag in der Geschichte der Deutschen Bahn geführt, die wiederum etliche andere deutsche und französische Unternehmen mit Unteraufträgen versehen konnte. Der Grund dafür liegt auf der Hand, denn in den künstlich anmutenden Städten der arabischen Halbinsel existiert kaum Infrastruktur und Sportereignisse bieten den Anreiz, auf quasi leerem Tisch von Grund auf zu planen und Profite aus Großaufträgen zu erzielen, wie es bei Sportereignissen in Deutschland, Großbritannien oder den USA nicht möglich wäre. Einfach, weil die Infrastruktur bereits vorhanden ist.

Gramsci, Hegemonie und Katar

Warum aber ist Katar an diesen Veranstaltungen interessiert? Die gängige Erklärung auf diese Frage findet sich in der oftmals benannten Soft Power-Strategie Katars, die das ideologische Fundament von Sportswashing legt. Aber wer von Soft Power spricht, sollte nicht von den Grundannahmen dieses Konzepts schweigen, denn hier zeigen sich die Probleme. Der Erklärungsansatz einer Soft Power-Strategie Katars folgt den liberalen Grundannahmen der Internationalen Beziehungen, denen kritisch begegnet werden muss: Wir haben es dort nicht mit einem leeren Feld zu tun, in dem reine Anarchie herrscht und dem nur mit Ordnung durch Interdependenzen, Kooperation und internationale Organisationen entgegnet werden kann. Wir haben es mit einer Welt zu tun, die auf einer Hegemonie des globalen Kapitalismus basiert und daraus transnationale Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausbildet. Verkennen oder ignorieren wir diesen Ansatz, tragen wir zum Erhalt herrschender sozialer Machtverhältnisse bei. Wir ignorieren die Ursachen all der Ungerechtigkeiten innerhalb der bestehenden Ordnung und stellen sie als natürlich hin. Anstelle die Bedingungen strukturellen Wandels zu untersuchen, verharrt das vermeintlich erklärende Fundament der Soft Power fast bewegungslos im Raum und liefert uns bestenfalls Ansätze, die von dem kanadischen Politikwissenschaftler Robert Cox als problemlösende Ansätze bezeichnet werden, die in ihrer Konstitution die sie umgebenen Verhältnisse als gegeben ansehen und damit ihre Leerstelle offenbaren.

Ganz anders eben genannter Robert Cox, der unter Rückgriff auf Erkenntnisse des italienischen Marxisten Antonio Gramsci eine kritische Theorie der Hegemonie, der Weltordnung und des historischen Wandels begründete und damit neo-gramscianische Perspektiven auf der Ebene Internationaler Beziehungen einführte. Anstelle einer vermeintlich neutralen, anarchischen Weltordnung liefert Gramsci in seiner marxistischen Manier eines historisch-materialistischen Verständnisses eben einen neuen Ansatzpunkt. Setzte sich Gramsci selbst noch vornehmlich mit den Mechanismen bürgerlicher Herrschaft auseinander, nutzen Cox und Co. eine davon inspirierte Perspektive, um eben nicht auf der Ebene des Nationalstaats zu verweilen, sondern Macht- und Herrschaftsverhältnisse im globalen Raum kenntlich zu machen. Gramsci hat dafür bereits vor knapp hundert Jahren das Vokabular geliefert, denn auch im Hinblick auf Weltordnung(en) geht es um Hegemonie. Anstelle des realistischen Verständnisses von Hegemonie als ökonomische wie militärische Dominanz eines Staates versuchen neo-gramscianische Perspektiven ein historisches Verständnis der Herausbildung von Hegemonie zu entwickeln und dabei soziale, kulturelle und ideologische Dimensionen miteinzubeziehen. Die Politologen Andreas Bieler und Adam David Morton sprechen deshalb von einem Hegemonie-Begriff, der «sich auf vorherrschende Macht- und Herrschaftsstrukturen [bezieht], die durch einen hegemonialen Konsens abgesichert sind.» Sie zielen damit auf die Einhaltung und Akzeptanz bestimmter Ideen durch die vielen verschiedenen Akteure auf der Ebene Internationaler Beziehungen ab: Ohne Hegemonie kein allgemein unterstütztes Macht- und Herrschaftsverhältnis, ohne ein allgemein unterstütztes Macht- und Herrschaftsverhältnis keine durch relative Zustimmung getragene Weltordnung.

Eine Hand wäscht die andere

Nur: Wie können uns neo-gramscianische Perspektiven dabei helfen, die Außenpolitik Katars besser zu verstehen? Ein Sprichwort dieser Perspektiven lautet: Die sozialen Produktionsbeziehungen bringen Fraktionen sozialer Kräfte hervor. Dieses Sprichwort lässt sich im Fall Katar sehr gut beobachten, denn der Einfluss west-europäischer Staaten und den USA auf den kleinen Staat der arabischen Halbinsel ist nicht zu unterschätzen. Unternehmen aus Deutschland und Frankreich betrachten Katar als zu erobernden neuen Markt, dem sie willentlich helfen, um für sich neue Quellen der Kapitalakkumulation zu erschließen. Militärisch schützen die Staaten dieser Unternehmen Katar als neuen Markt und sorgen für eine relative Sicherung des Wohlstands, der selbst in der Katar-Krise 2017-2021 nur leicht schwächelte. Offensichtlich ist dieses transnationale Kapital nicht einfach eine autonome Kraft außerhalb des Einflusses der katarischen Emir-Familie, sondern geht eine enge Beziehung mit der hiesigen, führenden Klassenfraktion ein, die im Fußball noch deutlicher wird.

Als 1997 der allererste FIFA Confederations Cup ins Leben gerufen wurde und die Nachfolge des saudi-arabischen König-Fahd-Pokals antrat, hatte sich der damalige FIFA-Generalsekretär Joseph «Sepp» Blatter für einen Tag in das kleine Nachbarland abgesetzt und angeregt mit dem katarischen Emir und Scheich Hamad Bin Khalifa al-Thani geredet. Sein Sohn ist das heutige Staatsoberhaupt in Katar und die damaligen Gespräche zwischen seinem Vater und dem späteren FIFA-Präsidenten zeigen deutlich auf, welche Chance die Funktionäre des kapitalistisch eingehegten Fußballs in Katar sahen:

«Während der Eröffnung des FIFA / Confederations Cup [...] im Dezember 1997 [...] war der Generalsekretär der FIFA mindestens einen Tag lang verschwunden. Blatter verließ Riad zu einem geheimen Besuch im benachbarten Katar. Dort traf er in Doha den Herrscher des Landes, Scheich Hamad Bin Khalifa al-Thani. [...] Khalifa al-Thani steht im Ruf eines Modernisierers, eines Mannes, der die Türen seines Landes für westliche Investoren öffnen möchte. [...] Sein Treffen mit Blatter diente nicht dem Gespräch über Innovationen. Das Thema, das zur Diskussion stand, war [...] Macht und wie man sie an sich bringt. Die Lösung dafür ist auch nicht ganz neu. Man kauft sie sich. Ich weiß nicht, was Blatter dem Scheich angeboten hat, aber ich wäre nicht schrecklich überrascht, wenn es in naher Zukunft eine Ankündigung der FIFA geben sollte, dass eines der vielen Turniere, die unter der Präsidentschaft Havelanges das Licht der Welt erblickt haben, in Katar abgehalten werden soll.»

Der Journalist David A. Yallop hat damit schon zwölf Jahre vor der WM-Vergabe erraten, in welche Richtung diese Zusammenarbeit geht. Aber nicht nur das: Das Bündnis zwischen FIFA und der herrschenden Klasse in Katar ist keines, das durch Ungleichheit oder Abhängigkeit geprägt war. Stattdessen finden sich hier zwei Bündnispartner zusammen, die ihre hegemoniale Stellung innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse eint.

Über den Tellerrand hinaus!

Wir sollten also nicht einfach über eine Soft Power-Strategie des vermeintlich unabhängigen und autonom agierenden Staates Katar reden, der sich über Sportswashing reinwäscht. Der Ansatz des neoliberalen Institutionalismus lässt Katar die Rolle des Bösewichts wie automatisch zu fallen, ohne die Hintergründe und Ursachen der Verquickung im Sport anzutasten. Die Rolle des globalen Kapitalismus und die Hegemonie der sozialen Kräfte – vor allem des transnationalen Kapitals – sind sträflich vernachlässigt worden. Der kapitalistisch eingehegte Sport mag auch zur Absicherung Katars in der Binnenpolitik der arabischen Halbinsel beitragen, ist aber vor allem ein Produkt des hegemonialen Projekts zwischen der politischen Führung Katars, der herrschenden Klassen im kapitalistischen Zentrum (allen voran Frankreich), den transnational agierenden Unternehmen und den Funktionären des kapitalistisch eingehegten Fußballs. Wir erleben nur oberflächlich eine Offensive der katarischen Autokraten, um über kulturelle und sportliche Investitionen an Macht und Einfluss auf geopolitischer Ebene zu gelangen. Stattdessen erleben wir Macht- und Herrschaftsstrukturen, die im Sinne einer Weltordnung des globalen Kapitalismus agieren. Katar ist ein neuer Markt zum Erobern und gleichzeitig sorgt die politische Führung Katars für neue Investitionen auf einem Wachstumsmarkt in Europa: dem kapitalistischen Fußball. Ganz im Sinne des hegemonialen Konsenses. 

Literaturverweise

  • Bieler, Andreas/Morton, Adam David: Neo-Gramscianische Perspektiven. In: Schieder, Siegfried/ Spindler, Manuela (Hg.): Theorien der Internationalen Beziehungen. 3. Aufl. Opladen & Farmington Hills 2010. S. 371-398.
  • Cox, Robert W.: Weltordnung und Hegemonie. Grundlagen der „Internationalen Ökonomie“. Marburg 1998.
  • Jäger, Glenn: In den Sand gesetzt. Katar, die FIFA und die Fußball-WM 2022. Köln 2018.
  • Yallop, David A.: Wie das Spiel verlorenging. Die korrupten Geschäfte zwischen FIFA und Medien. München/Düsseldorf 1998.