Nachricht | Iran - Golfstaaten Saudi-Arabien und die Proteste im Iran

Die Medienberichterstattung und eine nationale politische Kommunikationsoffensive

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«Zan, zendegi, azadi» (Frau, Leben, Freiheit) – Saudi-Arabien nutzt die Proteste im Iran, um sich als ein gemäßigtes islamisches Land und als Alternative zum theokratischen Regime in Teheran darzustellen.
«Zan, zendegi, azadi» (Frau, Leben, Freiheit) – Saudi-Arabien nutzt die Proteste im Iran, um sich als ein gemäßigtes islamisches Land und als Alternative zum theokratischen Regime in Teheran darzustellen. Artin Bakhan via Unsplash

Seit dem brutalen Tod der 22-jährigen Kurdin Masha Amini im Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei kam es zu massiven Protesten und Aufständen gegen die iranische Regierung. Sie werden in der gesamten Region des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie in Nachbarländern aufmerksam verfolgt und lösen große Kontroversen aus. Insbesondere für Saudi-Arabien sind die Proteste ein Schlüsselmoment im Konflikt mit seinem erbitterten Rivalen, der seit der Islamischen Revolution von 1979 besteht.

Saudi-Arabien hat sich dem westlichen Bündnis gegen Russland nicht angeschlossen. Anfang Oktober bekräftigte das Land auf politischer und symbolischer Ebene den Zusammenhalt des globalen Energiekartells OPEC, das sich mit Russland auf erhebliche Kürzungen der Produktion von Energieträgern geeinigt hatte, um die Preise nach oben zu treiben. Gegenüber dem Iran stellt es sich jedoch als prowestlich und als treuer Garant westlicher Interessen in der Region dar.

Darüber hinaus bietet die Krise im Iran dem derzeitigen saudischen Regime einen Vorwand, das eigene nationale Narrativ und die Propaganda zu forcieren, die in dieser post-pandemischen Zeit auf ein westlich ausgerichtetes und gemäßigt religiöses Saudi-Arabien abstellen. Diese Ziele entsprechen der Berichterstattung der saudischen Mainstream-Medien zu den iranischen Protesten. Regierungsnahe Medien befürworten die Proteste und ihre politischen und sozialen Forderungen von Anfang an.

Darüber hinaus betonen sie, dass sich der soziale und verfassungsrechtliche Fortschritt eines Landes in Frauenrechten und Frauenemanzipation äußere. Nicht zum ersten Mal nutzt Saudi-Arabien die Stellung der Frau für anti-iranische Propaganda. Diesmal sollen jedoch die Unterschiede zwischen Saudi-Arabien und dem Iran auf eine neue theoretische Basis gestellt werden. Diese Theoretisierung gehört zum aktuellen Diskurs, der nachgewiesene Menschenrechtsverletzungen ausblendet und die jüngere Geschichte des Landes beschönigen will, insbesondere in Bezug auf Frauenrechte sowie soziale und politische Freiheiten.

Die jüngsten Reformen im Rahmen der saudischen Vision 2030, die die Stellung der Frau verbessert haben – etwa durch die Aufhebung des Fahrverbots und die Lockerung der Vormundschaftsgesetze –, sind ideale Rechtfertigungen für dieses neue Narrativ. Vor allem die Abschaffung der berüchtigten saudischen Religionspolizei wird als wichtigstes ideologisches Argument gegen den Iran angeführt. Die Mutawa (Komitee zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters) war für ihren systematischen Machtmissbrauch bekannt und verbreitete bei Jugendlichen und Frauen im öffentlichen Raum Angst und Anspannung. In einem Spezialdossier von Arab News bezeichnet Alex Whiteman den Iran anlässlich der Proteste als ein «theokratisches Regime». Gleichzeitig lieferte Diana Galeeva einen kurzen, aber klugen historischen Abriss der iranischen Frauenbewegung.

Bis Mitte Oktober weigerten sich saudische Regierungsvertreter*innen, die iranische Krise öffentlich zu kommentieren. Der saudische Außenminister wollte etwa in einem Interview mit Al-Arabiya keine Stellungnahme abgeben und verwies auf Saudi-Arabiens Politik der Nichteinmischung. Dennoch berichtete das Land von einem drohenden iranischen Angriff. Als Reaktion haben Saudi-Arabien, die USA und weitere verbündete Staaten in der Region ihre Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Laut saudischen Geheimdienstinformationen, die der Presse zugespielt wurden, vermutet Riad, dass der Iran Angriffe auf saudische Ziele plant, um von der innenpolitischen Krise abzulenken. In einem kürzlich bei Arab News erschienenen Artikel führt Mohamed Al Sulami diese Mutmaßung näher aus.

Saudi-Arabien sieht die vielschichtige und komplizierte Krise im Iran als eine Chance, die eigene Führungsrolle in der arabischen Welt zu stärken und sich als Bewahrer von Frieden und Stabilität in der Region zu etablieren. Gleichzeitig bietet sie abermals eine Gelegenheit, die nationalen Narrative des kulturellen und sozialen Wandels in Saudi-Arabien zu pflegen. Diese Narrative dienen innen- und außenpolitischen Zwecken. Sie sind ein willkommener Ausweg aus einer Legitimationskrise internationalen Ausmaßes, die auf die Ermordung von Jamal Khashoggi im Jahr 2018 zurückgeht. Die Krise im Iran ist für das Land also auch eine Chance, seine Beziehungen zu den USA neu zu gestalten, nachdem es bei diesem wichtigsten Verbündeten in Ungnade gefallen ist.

Diese Narrative klingen womöglich auch für diejenigen Teile der saudischen Gesellschaft überzeugend, die durch den religiösen Fundamentalismus in Saudi-Arabien sowohl Unterdrückung als auch physische und psychische Gewalt erlitten haben. Die Kommunikationsstrategie adressiert jedoch nicht die inneren und strukturellen Widersprüche des derzeitigen Regimes. In Saudi-Arabien sind politische Parteien verboten, und damit auch jeder Protest. Außerdem befinden sich die derzeitige Führung und der Kronprinz in einem lange währenden Kampf mit der religiösen Spitze des Landes und politischen Aktivist*innen. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob das Lob des iranischen Widerstands mit Mohammed bin Salmans vorrangigem Ziel vereinbar ist, das Regime zu reformieren und gleichzeitig vor politischen Umwälzungen zu bewahren.
 

Übersetzung von André Hansen & Sabine Voß für Gegensatz Translation Collective