Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine-Krieg Ukraine: Der lange Weg zur Selbstbestimmung

Fünfmal erklärten die Ukrainer*innen ihre Unabhängigkeit, und jedes Mal haben sie ihre Nation neu erfunden. Von Cristina Florea

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Cristina Florea,

Menschen mit ukrainischen Flaggen und Protestplakaten für die Unabhängigkeit  versammeln sich am Kiever Flughafen.
Als der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow am 07. Juli 1991 die ukrainische Hauptstadt Kyjiw besuchte, war bereits klar, dass die Ukrainer sich von der Sowjetunion lösen und einen eigenen Staat gründen wollten.  Foto: Sven-Erik Sjöberg DN TT / IMAGO

Der Untergang der Sowjetunion im Jahr 1991 überraschte alle, auch den Mann, der unmittelbar dafür verantwortlich war. 1985 hatte Michail Gorbatschow die Perestroika («Umbau») ausgerufen, ein Reformprogramm, das die sowjetische Gesellschaft radikal umgestalten sollte. Wesentlich dabei war die Glasnost, das Versprechen, dass der Einparteienstaat nunmehr «transparent» sein sollte. Kommunistische Funktionär*innen konnten nun also offen kritisiert werden. Eine der vielen unerwarteten Folgen dieser Reformen bestand darin, dass sich neue zivilgesellschaftliche und politische Organisationen gründeten, die das Monopol der Kommunistischen Partei im öffentlichen Raum brachen.

In den osteuropäischen Satellitenstaaten ermutigte die Perestroika die jeweiligen Oppositionsbewegungen zu einer Reihe von «sanften» Revolutionen, wie jene der Solidarność in Polen und die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei. Beide Länder stürzten 1989 ihre kommunistischen Regime. Doch wie der Historiker Mark Kramer zeigt, stärkten die Reformen auch den Widerstand in der Sowjetunion selbst, einschließlich der Volksfronten in den baltischen Staaten und der nationalistischen Bewegung in Georgien, die ihre Unabhängigkeit einforderten.

In der Ukraine, der zweitgrößten Republik der UdSSR, gab es keine einheitliche Opposition. Am 1. Dezember 1991 stimmten dennoch über 90 Prozent der Ukrainer*innen für die Unabhängigkeit. Der im Juni zum russischen Präsidenten gewählte Boris Jelzin ging noch davon aus, dass die Ukraine auch nach einer Auflösung der Sowjetunion mit Russland verbunden bleiben würde. Als ein ukrainischer Journalist Jelzins Weigerung kritisierte, die Republik in die Unabhängigkeit zu entlassen, sagte der Pressesprecher des Kremls nur: «Ihr wollt nicht mit Russland in einer Union leben? Das ist für euch eine kommunistische Altlast? Dann geht doch, aber gebt uns die Krim und den Donbas zurück!»

Wladimir Putin rechtfertigt seinen mittlerweile zwölf Monate andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der gleichen Rhetorik wie früher Jelzin und seine Verbündeten: Die Ukraine sei eine Erfindung der Sowjetunion, die außerhalb Russlands unvorstellbar sei. Wie in jeder wirkungsvollen Propaganda steckt auch in dieser Behauptung ein Körnchen Wahrheit: Die postsowjetische Ukraine war in vielerlei Hinsicht ein Produkt der jahrzehntelangen Sowjetherrschaft. Die Ukraine übernahm von den Sowjets einen Staatsapparat und institutionelle Strukturen. Ihr Staatsgebiet gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg und der Eingliederung in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR) teilweise zu unterschiedlichsten Herrschaftsbereichen, so etwa zu Polen-Litauen, Österreich oder dem zaristischen Russland. Die Sowjets bauten ein zugleich sowjetisches und ukrainisches Staatswesen auf und konstituierten auch eine ukrainische Identität, die den neuen urbanen, multiethnischen und zweisprachigen Charakter der sowjetischen Ukraine widerspiegelte. Diese Identität definierte sich nicht mehr im Gegensatz zu Russland, wie es im Zeitalter des romantischen Nationalismus noch der Fall gewesen war. Russland wurde als freundlicher großer Bruder gesehen, der auf dem Weg zum Kommunismus schon weiter vorangeschritten war.

Zweihundert Jahre lang haben die Ukrainer*innen auf die sich verändernden Lebensumstände mit Erzählungen über ihre nationale Vergangenheit reagiert. Im 20. Jahrhundert erklärten sie fünfmal ihre Unabhängigkeit: 1918 in Lwiw und Kiew, 1939 in Transkarpatien, 1941 erneut in Lwiw und 1991 in Kiew. Jedes Mal mussten sie nicht nur einen ukrainischen Staat erschaffen, sondern auch eine ukrainische Nation. Wie diese Nation aussehen sollte, war keineswegs selbstverständlich. Der ukrainische Nationalismus des 19. Jahrhunderts vertrat etwa keine einhellige Position zur Identität der Ukrainer*innen. Die einen hielten Polen für die größere Bedrohung, die anderen Russland. Allein unter den galizischen Ruthen*innen gab es nicht weniger als fünf verschiedene Fraktionen: polonophil, ukrainophil, russophil, altruthenisch und kleinrussisch. Während des Zweiten Weltkriegs setzten einige Ukrainer*innen auf Nazi-Deutschland, während andere sich unter sowjetischer Herrschaft bessere Chancen ausrechneten, eine eigene Staatlichkeit zu erlangen. Nach 1991 kam es zu neuen Spaltungen zwischen den Ostukrainer*innen, die dem postsowjetischen Russland verbunden blieben, und den Westukrainer*innen, die sich eher am Westen orientierten. Der russisch-ukrainische Krieg ist die neueste blutige Etappe des unvollendeten Zusammenbruchs des Sowjetimperiums und der langen Geschichte des ukrainischen Nationalismus.

Die Entstehung der ukrainischen Nation

Die ruthenische Sprache, wie das Ukrainische damals genannt wurde, differenzierte sich vom Russischen und Belarussischen zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert, als die meisten Ukrainisch Sprechenden in den Gebieten des ehemaligen mittelalterlichen Staates der Kiewer Rus lebten. Die Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus waren schon auf verschiedene Fürstentümer aufgeteilt, als sie den Mongolen zum Opfer fielen, um in der Folge von der Goldenen Horde, dem Großfürstentum Moskau, Ungarn, dem Osmanischen Reich und Polen-Litauen beherrscht zu werden. Bis zum 17. Jahrhundert hatte sich eine eigenständige ruthenische Identität herausgebildet, obwohl es noch keine nennenswerte ruthenische oder ukrainische Nation gab. In Gebieten, in denen Ruthenisch gesprochen wurde, schreibt Andrew Wilson in seiner Studie «The Ukrainians: Unexpected Nation», wechselten die Eliten häufig zwischen dieser Sprache und dem Polnischen, dem Lateinischen und dem Kirchenslawischen. Die hauptsächlich in polnischer Sprache vermittelte Bildung ließ die Adeligen ruthenischer Herkunft mehr in die Nähe der polnischen Nation – einer Nation der Adligen – rücken.

Vor dem späten 16. Jahrhundert gehörten die meisten Ruthen*innen in Polen-Litauen dem orthodoxen Christentum an. Auf der Union von Brest im Jahr 1596 wurde eine eigene griechisch-katholische oder unierte ukrainische Kirche gegründet, die direkt dem Papst unterstellt war. Orthodoxe Kosaken und Bauern widersetzten sich der Union; besonders bekannt ist der Aufstand von 1648, den der Kosakenführer («Hetman») Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnische Herrschaft anführte. Im Vertrag von Perejaslaw von 1654 schwor Chmelnyzkyi dem Zaren die Treue und brachte die ukrainischen Gebiete vorübergehend unter russische Kontrolle. In russophilen Narrativen galt der Vertrag als Zusammenschluss oder «Wiedervereinigung der Rus» und wurde herangezogen, um Russlands Ansprüche auf die Ukraine zu rechtfertigen. Nationalistische ukrainische Historiker*innen definierten den Vertrag jedoch als ein freiwilliges Bündnis, mit dem das Kosakenhetmanat den Schutz Russlands gesucht hätte, ohne seine Autonomie aufzugeben.

Nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert wurden die polnisch beherrschten ukrainischen Gebiete erneut aufgeteilt, diesmal zwischen Russland im Osten und Österreich im Westen. Unter österreichischer und russischer Herrschaft entwickelte sich der ukrainische Nationalismus parallel zum polnischen. Als die Bevölkerung Kongresspolens, das Russland von Napoleon erworben hatte, 1830/31 aufbegehrte, schlugen die zaristischen Ordnungskräfte den Aufstand nieder und versuchten, dem Einfluss der polnischen Nationalist*innen entgegenzuwirken, indem sie eine dreieinige russische Nationalität vertraten: Russ*innen, Belaruss*innen («Weißruss*innen») und Ukrainer*innen («Kleinruss*innen»).

Um diese gemeinsame «Rus»-Identität in den ukrainischen Eliten zu fördern, gründete das zaristische Russland neue Universitäten in Kiew und Charkiw. Doch statt der erhofften Zentren der russophilen Kultur entstanden mit den Universitäten Brutstätten des ukrainischen Nationalismus. In Kiew gründete sich eine Geheimgesellschaft, die Kyrill-und-Method-Bruderschaft, deren Mitglieder eine eigenständige ukrainische Nationalität behaupteten, in Abgrenzung zu Polen und Russland. Das berühmteste Mitglied der Bruderschaft war der Dichter und Künstler Taras Schewtschenko. Der frühere Leibeigene veröffentlichte 1840 in St. Petersburg eine Balladensammlung mit dem Titel «Kobsar», die den Grundstein für eine neue ukrainische Volksliteratur legte. Mykola Kostomarow, ein weiteres Mitglied der Bruderschaft, rief in seinem Manifest «Bücher der Genesis des ukrainischen Volkes» zu einer größeren, von der Ukraine geführten slawischen Konföderation auf, die auf egalitären Prinzipien und einer Volksvertretung beruhen sollte. Beide Männer, so Wilson, definierten die ukrainische Nation als von Natur aus demokratisch und damit wesensverschieden von Russland. Es hieß, die «Freiheitsliebe für die eigenen Leute stand dem Wunsch des Imperialisten entgegen, alle anderen in Ketten zu legen». 1847 verhaftete die zaristische Polizei Kostomarow und Schewtschenko und bezeichnete die Bruderschaft als ein Instrument polnischer Intrigen. Als die polnische Bevölkerung 1863 erneut aufbegehrte, untersagten die zaristischen Ordnungskräfte alle ukrainischen Veröffentlichungen und erklärten die ukrainische Sprache zu einer polnischen Erfindung.

In Österreich entstand nach 1848 eine ukrainische Nationalbewegung, als sich die Ukrainer*innen in Galizien und der benachbarten Provinz Bukowina erstmals politisch im Obersten Ruthenischen Rat organisierten. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte Österreich die Ruthen*innen gegen die revolutionären Bestrebungen Polens unterstützt und sie ermutigt, durch kulturelle Einrichtungen wie das theologische Seminar für griechisch-katholische Ruthen*innen in Lwiw (damals Lemberg) eine eigene Identität zu entwickeln. Nun aber schloss die Habsburger Monarchie einen stillschweigenden Kompromiss mit Polen und machte es – als Gegenleistung für Loyalität – zur herrschenden Kraft in Galizien. Enttäuscht suchte die ruthenische Intelligenz im österreichisch beherrschten Galizien den Schutz Russlands und machte sich dafür die «kleinrussische» Identität zu eigen, die das Zarenreich bei seinen antipolnischen Kampagnen propagierte. Diese russophile Stimmung herrschte unter den österreichischen Ukrainer*innen bis in die 1880er Jahre vor, als das österreichische Kaiserreich in einer Reihe von Gerichtsprozessen gegen russophile Ukrainer*innen vorging. Später übernahm eine von der österreichischen Regierung unterstützte ukrainophile und populistische Strömung die Führung.

«Es lebe die freie Ukraine!»: Demonstration auf dem Maidan-Platz in Kyjiw, 1918. Foto: Wikimedia Commons

Der Erste Weltkrieg eröffnete den ukrainischen Nationalist*innen ganz neue Möglichkeiten, da er zugleich das Ende des Zarenreichs und Österreich-Ungarns bedeutete. Dies geschah unter sehr instabilen Bedingungen. Zwischen 1917 und 1919 gab es in den Regionen der heutigen Ukraine nicht weniger als sechs verschiedene Regierungen: die unabhängige Ukrainische Nationalrepublik (UNR), die 1917 ausgerufen wurde; eine von den Bolschewiki kontrollierte Ukrainische Volksrepublik, die im November 1917 im Osten gegründet wurde; eine einmonatige Wiederherstellung der UNR im Jahr 1918; eine von Deutschland kontrollierte Marionettenregierung; eine weitere Iteration der UNR unter einem Komitee, das sich Direktorium nannte; schließlich ein weiterer unabhängiger Staat in den ehemals österreichischen Gebieten, die Westukrainische Volksrepublik (ZUNR), die sich 1919 mit dem Direktorium vereinigte. Im Laufe des nächsten Jahres durchquerten mehrere Armeen – die Bolschewiki, die Weißen, die polnische Armee, Truppen der Entente und anarchistische Kräfte – die Gebiete dieser hybriden ukrainischen Republik. In einem blutigen Bürgerkrieg verlor diese einige ihrer Gebiete an Polen, andere an Rumänien und wieder andere an die Bolschewiki. Die über mehrere Reiche verstreuten Ukrainisch Sprechenden sollten erst über zwei Jahrzehnte später wieder in einem Staat vereint werden.

Das sowjetische Projekt: die Ukrainische SSR

Diese Wiedervereinigung war ein sowjetisches Projekt. Nachdem die Bolschewiki den Bürgerkrieg in Russland gewonnen und einen Großteil des ehemaligen Zarenreichs zurückerobert hatten, führten sie in den von ihnen beherrschten Gebieten einen neuen Staat ein. Wie genau dieser Staat aussehen sollte, war ungewiss, aber er würde nichtrussische Nationalismen mäßigen müssen, insbesondere die ukrainische Nationalbewegung, eine sehr prominente und hervorragend organisierte Kraft des ehemaligen Zarenreichs. In seinen Schriften zur Ukraine entwickelte Lenin seinen Umgang mit dem «Nationalitätenproblem». Seine Idee war, dass der Nationalismus eine unvermeidliche Etappe auf dem Weg zum Kommunismus sei. Der neue bolschewistische Staat sollte daher nach Lenin nationale Identitäten in seine Strukturen einbeziehen.

Die Ukrainer*innen schufen seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihre nationale Identität. Während der Großteil der bäuerlichen Bevölkerung sich immer noch nicht als ethnische Gruppe betrachtete, verfügten die ukrainischen Eliten über eine eigene Literatur, die bis zu Iwan Kotljarewskyjs «Enejida» zurückreichte, einer 1798 veröffentlichten Travestie von Vergils «Aeneis» mit saporoger Kosaken in den Hauptrollen. «Vor nicht allzu langer Zeit hieß es noch, die ukrainische Republik und die ukrainische Nation seien von den Deutschen erdacht worden», sagte Stalin 1921, damals Kommissar für Nationalitäten. «Es ist jedoch klar, dass die ukrainische Nation existiert und dass es in der kommunistischen Verantwortung liegt, ihre Kultur zu entwickeln.»

Als die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik am 30. Dezember 1922 formal gegründet wurde, war sie eine der wichtigsten konstituierenden, quasi souveränen Republiken der UdSSR. In der Praxis war die Sowjetunion ein von Moskau aus regiertes Reich, das sich als antiimperialistisch verstand. Das Bekenntnis zum Antiimperialismus war für die nicht-russischen Nationalitäten, insbesondere für die Ukrainer*innen, schwer nachvollziehbar. Viele von ihnen sahen die russischsprachigen Bolschewiki in der Fortsetzung einer älteren imperialen Tradition, die die ukrainische Kultur unterdrückt hatte. Lenin war der Meinung, dieses Misstrauen überwinden zu können, indem er mehr Nicht-Russ*innen in die Kommunistische Partei und die sowjetischen Staatsstrukturen einbezog. Dieser Gedanke stand im Mittelpunkt der Korenisazija, bei der Ukrainer*innen in wichtige Positionen des Parteienstaats befördert wurden und die ukrainische Sprache in den öffentlichen Einrichtungen dominierte. Ende der 1920er Jahre lernte fast jedes Schulkind in der Ukrainischen SSR Ukrainisch.

Die sowjetischen Funktionäre pflegten die Loyalität ukrainischsprachiger Kader und hofften so, ihren Einfluss auf die Bauernschaft zu verstärken, die nach wie vor mehr am Land als an nationaler Selbstbestimmung, Antiimperialismus oder Kommunismus interessiert war. Zwischen 1918 und 1920 tobte in der Ukraine ein tödlicher Bürgerkrieg zwischen den Weißen, den Roten und den Grünen (lokalen Bauernmilizen, die sich sowohl gegen die Weißen als auch gegen die Roten stellten). Bewaffnete Bauernaufstände erschütterten die ländlichen Gebiete. Der anarchistische revolutionäre Bauernführer Nestor Machno kämpfte anscheinend gegen alle: gegen die UNR, die Mittelmächte, die Weiße Armee und die Rote Armee. Keine dieser Kräfte konnte die Bauernunruhen in den Griff bekommen.

Die Korenisazija der Bolschewiki war erstaunlich fortschrittlich, vor allem im Vergleich zur minderheitenfeindlichen Politik, die damals in Polen und Rumänien herrschte. Sie war aber nur von kurzer Dauer. In den 1930er Jahren verursachte Stalins forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft den Holodomor – eine Hungersnot, bei der fast vier Millionen Ukrainer*innen starben. Seine massenhaften Unterdrückungsaktionen richteten sich gegen «kriminelle und klassenfeindliche Elemente», darunter auch Funktionär*innen, die mit der Umsetzung der Korenisazija beauftragt waren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Ukrainer*innen auf dem Land gelebt, doch als die Überlebenden der Hungersnot in schnell wachsende Städte wie Charkiw strömten, entstand eine neue städtische Klasse und ein neues Proletariat. Ende der 1930er Jahre waren die meisten Städte in der Ukrainischen SSR, die zuvor russifiziert worden waren, überwiegend ukrainisch geworden.

Der ukrainische Nationalismus während des Zweiten Weltkriegs

Nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt annektierte Stalin 1939 Ostpolen und gliederte einen Teil davon als «Westukraine» in die Ukrainische SSR ein, unter dem Vorwand, dass ethnische Ukrainer*innen vor der polnischen Verfolgung gerettet werden müssten. So ähnlich drückt sich auch Putin aus: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine sei eine Reaktion auf die «völkermörderische» Politik der ukrainischen Regierung gegenüber den russischsprachigen Minderheiten im Osten der Ukraine. In den darauffolgenden Jahren versuchten die sowjetischen Behörden, in dem annektierten Gebiet, das sie kurzzeitig durch die Nazi-Besatzung verloren hatten, eine sowjetukrainische Identität zu schaffen. Um sie nach dem Zweiten Weltkrieg in die Ukrainische SSR zu reintegrieren, deportierten sie sogenannte Klassenfeinde – vor allem polnische und jüdische Menschen – und besetzten die Regierungsposten mit ethnischen Ukrainer*innen und Russ*innen.

Die Durchsetzung einer sowjetischen Identität erwies sich in den annektierten Gebieten jedoch als schwierig, da die Ukrainer*innen dort in den Zwischenkriegsjahren einen noch radikaleren Nationalismus entwickelt hatten. Eine Säule dieser Tradition war die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die 1929 von Jewhen Konowalez gegründet wurde und eine nationale Identität vertrat, die sich gegen Pol*innen, Rumän*innen und Russ*innen richtete und eine unabhängige Staatlichkeit anstrebte. Um die Ordnung des Versailler Vertrags zu revidieren, die die Ukrainer*innen zur größten europäischen Nationalität ohne eigenen Nationalstaat machte, griff die OUN zu konspirativen und terroristischen Methoden. Beeinflusst durch die Schriften von Dmytro Donzow, der meinte, Ukrainer*innen müssten ihre Provinzialität und Randständigkeit in Europa mit allen Mitteln überwinden, lehnten ihre Mitglieder die liberale Ordnung ab und vertraten eine Mischung aus integralem Nationalismus und Faschismus. Mit Wohlwollen betrachteten sie die Entwicklungen in Nazi-Deutschland und teilten dessen Wunsch, Europa nach den Maßstäben ethnischer Reinheit neu zu ordnen.

Um 1940 hatten sich die 11.000 Mitglieder der OUN in zwei Fraktionen gespalten. Die radikalere OUN-B wurde von dem in Galizien geborenen Stepan Bandera angeführt, der sich während der Besetzung der Westukraine mit den Nazis verbündete. In den Jahren 1940 und 1941 arbeitete die OUN-B mit Offizieren der Abwehr und der Wehrmacht zusammen und half bei der Vorbereitung des deutsch-sowjetischen Krieges, indem sie zwei rein ukrainische Bataillone und Sonderkommandos bildete, die bei der Verwaltung der von den Deutschen «befreiten» Gebieten helfen sollten, im Gegenzug für vage Versprechen der Unabhängigkeit. Als Bandera im Juni 1941 in Lwiw die Unabhängigkeit der Ukraine verkündete, ließen die deutschen Behörden ihn verhaften und brachten ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Banderas Leute, die in einer aufständischen Armee organisiert waren, führten zusammen mit anderen ukrainischen paramilitärischen Einheiten weiterhin ethnische Säuberungsaktionen durch, die sich vor allem gegen polnische Zivilist*innen richteten.

Als die Rote Armee 1944 begann, die von Deutschland besetzten Gebiete zurückzuerobern, wurde sie zum Ziel des Terrorismus ukrainischer Nationalist*innen. Die Sowjets reagierten mit Gegenmaßnahmen, die bis in die 1950er Jahre andauerten und denen mehr als 150.000 Ukrainer*innen zum Opfer fielen. Doch selbst als die Sowjets die nationalistischen Organisationen ausrotteten, behielten sie das Ukrainische als offizielle Verwaltungs- und Bildungssprache in den zurückeroberten Gebieten bei, auch wenn viele Partei- und Staatskader zumeist Russisch sprachen. 1956 überließ Nikita Chruschtschow der Ukrainischen SSR die Krim, um sich die Loyalität der ukrainischen kommunistischen Eliten bei seinem Machtstreben in der Folge von Stalins Tod zu sichern. Dies geschah am 300. Jahrestag der Unterzeichnung des Perejaslaw-Vertrags und unterstrich damit die historischen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sowie den privilegierten Status der Ukraine unter den Sowjetrepubliken.

Vom Marxismus-Leninismus zum Nationalismus

Die föderale Struktur, die Lenin in den 1920er Jahren geschaffen hatte – getrennte Republiken mit eigenen Partei- und Staatsinstitutionen, die von einer zentralen Kommunistischen Partei in Moskau zusammengehalten wurden –, hatte für die folgenden Jahrzehnte Bestand. Als sie in den 1990er Jahren entlang ethnischer oder nationaler Linien zersplitterte, kamen viele Beobachter*innen zu dem Schluss, dass der Nationalismus die Ursache für ihren Untergang sei. Doch die Sowjetunion selbst hatte diese Grenzen gezogen, um den Nationalismus in Schach zu halten. Die kommunistische Autorität war das Einzige, was die verschiedenen ethnisch-territorialen Einheiten der Föderation zusammenhielt, und ihre Schwächung beseitigte diesen Kitt.

An die Stelle des Marxismus-Leninismus trat der Nationalismus. Die Kommunistische Partei und das sowjetische Projekt verloren unter Gorbatschow ihre Legitimität. Kommunisten wie Leonid Krawtschuk, der künftige Präsident der unabhängigen Ukraine, wurden über Nacht zu Nationalisten. Der Historiker Wladislaw Subok beobachtet in seiner jüngsten Darstellung des Zusammenbruchs der Sowjetunion: «Wer die ukrainischen Nationalist*innen verfolgt und eingesperrt hatte, umarmte nun die ehemaligen Opfer und sang mit Tränen in den Augen ukrainische Lieder.»

Russland leitete diese Abkehr von der Union und die Hinwendung zum Nationalismus selbst ein. Diesmal wollte das Land nicht andere Nationalitäten fördern, sondern sich für die russische Kultur und die russischen Interessen starkmachen, die in den Augen mancher unter der Sowjetherrschaft stark vernachlässigt worden waren. Boris Jelzin – ein Bauingenieur, der sich durch die von Gorbatschow eingeführten Mehrparteienwahlen in einen populistischen Politiker verwandelt hatte – wurde zum Sprecher der intellektuellen Eliten Russlands, die sich selbst als liberal bezeichneten und mit dem sowjetischen Kommunismus und dem langsamen Reformtempo unzufrieden waren. Jelzin verdankte seinen plötzlichen Aufstieg an die Macht allerdings auch einem anderen Teil der russischen Öffentlichkeit: den konservativen Nationalist*innen, die der Meinung waren, dass die Russ*innen ebenso sehr wie andere Nationalitäten, wenn nicht sogar mehr, Opfer des Sowjetkommunismus gewesen seien. Wie der regimekritische Schriftsteller Alexander Solschenizyn, dessen «Archipel Gulag» in der Sowjetunion erst während der Perestroika veröffentlicht werden konnte, sahen diese Menschen den Kommunismus als einen Fremdkörper der russischen Nationalidentität an und forderten eine Rückkehr zu vorsowjetischen Traditionen. Schließlich suchte Jelzin die Partnerschaft mit Eliten in den nicht-russischen Republiken, die in Gorbatschows Reformen eine Chance für mehr Autonomie und eine Umstrukturierung der Union sahen – darunter auch mit der neuen Führung der Ukraine.

Im Gegensatz zu anderen separatistischen Bewegungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken scheute sich diese Bewegung vor Gewaltanwendung. In Bergkarabach, Abchasien, Südossetien und anderswo kam es zum plötzlichen und blutigen Bruch mit dem Sowjetimperium, während die Wende in der Ukraine friedlicher und langwieriger war. Die Entsowjetisierung wurde in der neuen unabhängigen Republik nach 1994 durchgeführt, allerdings nur teilweise und ungleichmäßig. Während die westukrainische Stadt Lwiw mit ihrer langen Tradition des radikalen Nationalismus sofort sowjetische Denkmäler entfernte und Straßen umbenannte, ließen die Städte im Osten und im Zentrum die Überreste der sowjetischen Vergangenheit weiter bestehen.

Auch die während der Perestroika entstandene Ukrainische Volksbewegung (Ruch) forderte nicht die völlige Loslösung von Sowjetrussland, wie es die nationalistische Opposition in den baltischen Staaten getan hatte, wo die Menschen im August 1989 aus Protest gegen die Sowjetherrschaft auf die Straße gingen und Menschenketten bildeten. Während sie auf ihrer Gründungskonferenz 1989 für die ukrainische Unabhängigkeit eintrat, legte Ruch auch fest, dass die Ukraine «in einer sowjetischen Föderation» verbleiben würde. Dieser Widerspruch wurde, wie Kramer betont, «nicht aufgelöst». Nach 1991 verfolgte Ruch Unabhängigkeitsbestrebungen, die die Ukraine durch Verhandlungen mit Russland und nicht durch einen Krieg erlangte.

Das Fortbestehen einer ausgeprägten sowjetukrainischen Identität nach 1991 erklärt in großen Teilen, warum die Trennung der Ukraine von Russland friedlich verlief. Nationalist*innen der Ruch-Strömung, die die Russifizierung der Ukraine anprangerten und an die Russisch Sprechenden appellierten, wieder «ihre Muttersprache» zu verwenden, und behaupteten, es sei «willensschwach und falsch», Russisch zu sprechen, repräsentierten nicht die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, die zweisprachig war und solche Appelle als befremdlich empfand. Ethnische Russ*innen in der Ukraine sprachen selten fließendes Ukrainisch. Sie beherrschten es allerdings gut genug, um sich zurechtzufinden. Ethnische Ukrainer*innen hatten hingegen keine Probleme, sich als Ukrainer*innen zu identifizieren, obwohl ihre Muttersprache Russisch war. Neu gewählte ukrainische Politiker*innen übernahmen die Ruch-Rhetorik, verfolgten aber keine radikale Politik, weil sie jene Bevölkerungsgruppen nicht verprellen wollten, die Wilson als «die andere Ukraine» bezeichnet.

Die Demokratisierung nach Gorbatschows Rücktritt im Jahr 1991 führte zu einer wirtschaftlichen Notlage, wie sie Russland seit 1917 nicht mehr erlebt hatte: Die Inflation sprang 1992 von 200 auf 2600 Prozent. Sie führte auch zu einer Krise der Ideen und Werte. Der Marxismus-Leninismus und der Kommunismus waren diskreditiert, aber an ihre Stelle trat nichts als die Gier nach Geld. Wie eine Person der belarussischen Journalistin Swetlana Alexijewitsch erzählte, lasen die Sowjetbürger*innen vor 1991 «tonnenweise Bücher […]. Wir träumten von der Revolution, aber wir hatten Angst, sie nicht mehr zu erleben.» Da die Sowjetunion nun nicht mehr existierte, wurde denselben Leuten klar, dass auch ihre Träume und intellektuellen Ambitionen verschwunden waren. Sie sahen, wie Bibliotheken und Theater in Geschäfte und Märkte umgewandelt wurden. Sie gingen von der Verehrung des Buchs zu dessen Verkauf über, um sich im Business zu versuchen – das Wort der Stunde. «Wir tauschen jetzt», sagte ein verbitterter Russe zu Alexijewitsch, «unser Öl gegen Unterhosen.»

Obwohl Jelzins Regierung einige liberalisierende Maßnahmen ergriff, etwa sein Dekret zur Preisgestaltung, das den Weg für den Übergang Russlands in die Marktwirtschaft ebnete, kamen diese Reformen zu spät und nahmen die Form einer Privatisierungspolitik an, die von alten sowjetischen Eliten und kriminellen Elementen manipuliert wurde, um großen Reichtum anzuhäufen. Es entstand eine neue Gesellschaftsschicht: die Oligarchen. 1998 stürzte der Rubel ab, und Russland geriet in Zahlungsverzug. In der folgenden Dekade wuchs das russische Bruttoinlandsprodukt dank des Exports fossiler Brennstoffe um über 80 Prozent. Die Arbeitslosigkeit sank drastisch, eine neue Mittelschicht entstand. Viele waren beim Staat beschäftigt.

Putin: Vom Krieg in Tschetschenien zum Krieg gegen die Ukraine

An der Spitze dieses scheinbaren Wirtschaftswunders stand ein ehemaliger KGB-Offizier, der den Zusammenbruch des ostdeutschen kommunistischen Regimes von seinem Posten in Dresden aus miterlebt hatte. In einer Rede vor dem russischen Parlament im Jahr 2005 bezeichnete Wladimir Putin den Zusammenbruch der UdSSR als «die größte geopolitische Katastrophe des [20.] Jahrhunderts». Sein Ziel war nicht nur der wirtschaftliche Wiederaufbau Russlands, sondern auch die Wiederherstellung seines Großmachtstatus – ein Projekt, für das er sich zweifellos Napoleon zum Vorbild nahm, eine von ihm besonders bewunderte historische Figur, und auch Peter den Großen, dessen Porträt in seinem Büro hing, als er in den 1990er Jahren im Stadtrat von St. Petersburg arbeitete. Zunächst musste er die kommunistische Ideologie, die unter der Sowjetherrschaft die Größe Russlands unterfüttert hatte, durch etwas anderes ersetzen, das das Vakuum ausfüllen konnte. So kam es zu einer Art russischem Nationalismus mit imperialen Anklängen, gestützt auf den Glauben, dass Russland eine historische Mission zu erfüllen habe.

Diese Ideologie lag Putins Entschluss zugrunde, 1999 einen Krieg in Tschetschenien zu beginnen. Es war seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bereits der zweite Krieg Russlands in dieser Region; fünf Jahre zuvor hatte Jelzin eine Reihe brutaler Angriffe auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny gestartet, die viele Kommentator*innen mit den aktuellen Angriffen auf ukrainische Städte verglichen haben. Doch tschetschenische Guerilla-Einheiten hielten stand, und die Schlacht endete mit einem Waffenstillstand. 1999 war Putin entschlossen, die Situation im Nordkaukasus zu lösen. Er war der Ansicht, Russlands Überleben hänge davon ab.

Der derzeitige Krieg in der Ukraine ist eine Fortsetzung dieser Kampagne zur Wiederherstellung der russischen Einflusssphäre in den ehemaligen Sowjetgebieten. Viele Russ*innen, die die Auflösung der Sowjetunion als Demütigung und Verlust ihres Sinns im Leben empfunden hatten, teilten Putins Ambitionen. «Das Leben nach dem Untergang des Imperiums war langweilig», erzählte ein Sowjetbürger Alexijewitsch. «Eine große Idee fordert Blut. Heute will niemand mehr ausziehen und irgendwo sterben.»

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 warf Putin den USA vor, eine unipolare Welt zu schaffen, «in der es nur einen Herrscher, nur einen Souverän gibt». Als im November 2013 in Kiew die Proteste ausbrachen, die später als Euromaidan und «Revolution der Würde» bekannt wurden, sah er seine Befürchtung einer Einkreisung durch den Westen bestätigt. Hunderttausende protestierten auf den Straßen der Ukraine, als Präsident Viktor Janukowitsch, den Putin im Grunde bestochen hatte, von einem geplanten Abkommen mit der Europäischen Union zurücktrat. Wenn die Ukraine dem russischen Einfluss entkäme, würde sich Moskau den USA und Westeuropa geschlagen geben. Also annektierte Putin die Krim und unterstützte die Separatist*innen in den östlichen Provinzen Donezk und Luhansk.

Der Euromaidan begann im November 2013 und war eine Protestbewegung gegen die Entscheidung der ukrainischen Regierung, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Er führte zum Sturz von Präsident Wiktor Janukowytsch.  CC BY 2.0, Sasha Maksymenko

Putin hat mehr dafür getan, die Ukrainer*innen aus den historischen Verstrickungen mit Russland und der Sowjetunion zu befreien, als es ein einzelner ukrainischer Nationalist je vermocht hätte. In der Ukraine hat sein Revanchismus eine Reihe von nationalistischen Reaktionen hervorgerufen. Einige nationalistische Gruppierungen wie Swoboda, der Rechte Sektor und das Asow-Bataillon haben sich die rechtsextremen Bewegungen der 1930er und 1940er Jahre zum Vorbild genommen. Asow verwendete Symbole wie das Hakenkreuz und SS-Insignien auf ihren Uniformen, und die Aktivist*innen des Rechten Sektors und der Swoboda bekennen sich stolz zu ihrer geistigen Verwandtschaft mit der OUN der Zwischenkriegszeit. 2014 leisteten diese Kräfte gewaltsamen Widerstand gegen Präsident Janukowitsch und seine Pläne, den Maidan niederzuschlagen. Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr und Sommer desselben Jahres erhielt die extreme Rechte 6,5 Prozent der Stimmen und sieben Sitze. Heute sind die demokratischen Nationalist*innen, die eine engere Bindung an die NATO und die EU befürworten, zahlenmäßig klar in der Mehrheit.

Als Russland 2014 die Krim annektierte, fühlten sich die Ukrainer*innen weitgehend verloren und von den westlichen Mächten, die die territoriale Integrität der Ukraine nicht verteidigen wollten, im Stich gelassen. Unter Präsident Petro Poroschenko hat sich das ukrainische Establishment nach innen und nach rechts orientiert. 2015 erließ die Regierung eine Reihe von «Gedächtnisgesetzen», die das Infragestellen der offiziellen, zutiefst antisowjetischen Sichtweise der ukrainischen Vergangenheit mit Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren belegten. 2018 unterzeichnete Poroschenko ein umstrittenes Gesetz, das vorschrieb, in allen staatlichen Schulen ab der fünften Klasse Ukrainisch zu unterrichten, woraufhin Russland den Einwand erhob, die Ukraine versuche «mit Gewalt ein ethnisches Sprachregime in einem multinationalen Staat zu etablieren».

Acht Jahre später befindet sich die Ukraine in einer ganz anderen Lage, und der Westen hat sich wie nie zuvor hinter sie gestellt. Im Gegenzug unterstreicht die überwiegende Mehrheit der Ukrainer*innen ihren Wunsch nach Demokratie – ein Ideal, das sie erst seit kurzem in ihrem Heimatland erblicken können, wo die kommunistischen Eliten auch nach 1991 noch eines der korruptesten Regime der Welt beherrschten. Ob sich diese demokratische Form des Nationalismus in der Ukraine durchsetzen wird, hängt wohl auch davon ab, inwieweit die Regierungen der USA und Westeuropas bereit sind, ihr zu helfen – nicht nur durch militärische Hilfe, sondern auch durch die Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Institutionen und bei der Eindämmung der Spannungen zwischen den Ethnien. Wie die früheren Kriege in der Region eröffnet auch der aktuelle Konflikt den Ukrainer*innen neue Möglichkeiten, sich selbst zu verstehen – diesmal nicht nur als Opfer Russlands, sondern als Gestaltende ihres eigenen Schicksals.

Der Text, den wir hier in deutscher Erstveröffentlichung präsentieren, erschien zuerst unter dem Titel «Ukraine’s Long Self-Determination» in der «New York Review of Books» vom 7.12.2022. Copyright © 2022 Cristina Florea. (Die Zwischenüberschriften wurden von uns eingefügt – D. Red.) Die Übersetzung stammt von André Hansen und Margarete Gerber für Gegensatz Translation Collective.