Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Theorie des Antisemitismus Gerrits: The Myth of Jewish Communism. A Historical Interpretation; Brüssel 2009

Die jüdischen Kommunisten, die zu den Triebkräften der kommunistischen Revolutionen in Osteuropa zählten, wurden auch zu ihren «Hauptverlierern»

Information

Autor

Mario Kessler,

Nur wenige historische und politische Debatten sind mit mehr Emotionen geführt worden als die nach dem Anteil von Juden an der kommunistischen Bewegung. André Gerrits, Associate Professor in East European Studies an der Universität Amsterdam, schreibt: «Der jüdische Kommunismus war ein machtvoller und lang andauernder Mythos. Auf der naheliegenden Verbindung zweier politischer Vorurteile basierend, nämlich Antikommunismus und Antisemitismus, sollte dieser Mythos eine beachtliche Zahl von Verfechtern finden.» (S. 9f.) Vom Nazismus einmal abgesehen, fand das Schlagwort vom jüdischen Bolschewismus und später vom jüdischen Kommunismus seinen größten Widerhall in Ost- und Ostmitteleuropa, wo es immer noch als Scheinargument in den Kontroversen eingesetzt wird, die mit dem Erbe der von der sowjetischen Herrschaft geprägten Regime zu tun haben, die diese Länder fünfundvierzig Jahre lang prägten.

Verglichen mit der politischen Bedeutung des hier verhandelten Gegenstandes ist nur wenig an Forschungsliteratur zur Geschichte dieser Kontroverse erschienen. Das vorliegende Buch geht dieser Diskrepanz zwischen dem lautstarken politischen Diskurs und der wenigen auf Quellenmaterial beruhenden Literatur nach, obgleich in jüngster Zeit die beiden Bücher zum Thema von Jeff Schatz und Agnieszka Pufelska herauskamen. Gerrits’ Untersuchung möchte keine vollständige Erörterung des Problems bieten. Es konzentriert sich vielmehr auf drei miteinander verbundene Fragestellungen: Erstens geht es der Frage nach den Gründen für die relativ geringe wissenschaftliche Behandlung des Themas nach, zweitens untersucht es, vor allem am polnischen Beispiel, die Wirkung des Schlagwortes, drittens fragt es nach den Reaktionen der (polnischen) Kommunisten. Der innerjüdische Diskurs wird nicht ignoriert, doch konzentriert sich Gerrits auf die streng wissenschaftliche Seite der Debatte, an der sich Wissenschaftler jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft beteiligten.

Der erste Teil des Buches befasst sich deshalb mit spezifisch historiographischen Deutungen. Der Verfasser zeigt, wie die Kontroverse im westdeutschen Historikerstreit der 1980er Jahre eine neue Qualität erreichte, als Ernst Nolte schrieb, Hitlers Antisemitismus habe einen «rationalen Kern» enthalten und der Nazismus sei im Grunde eine Gegenoffensive und legitime Antwort auf den Bolschewismus gewesen. Später behauptete Nolte, der Nazismus sei die wirksamste aller Gegenkräfte zum Bolschewismus gewesen, einer politischen Bewegung, die in hohem Maß von Juden unterstützt wurde. Hitler habe deshalb durchaus «rationale» Gründe für seine gewalttätige Judenfeindschaft gehabt. Diese antisemitischen Interpretationen wurden von der übergroßen Mehrheit der deutschen Historiker zurückgewiesen.

Der Entschluss von Juden, der kommunistischen Partei beizutreten, war eine Entscheidung zugunsten der nichtjüdischen, säkularen Welt, vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa. Doch war sie «nicht so sehr ein Akt der Assimilation als vielmehr ein Tauschakt: Eine Form der Isolierung, nämlich die, ein Jude zu sein, wurde gegen eine andere Form eingetauscht, nämlich die der Existenz als Kommunist.» (S. 39f.) Der Verfasser sieht Isaac Deutschers bekanntes Diktum vom «nichtjüdischen Juden» als Teil eines, wie er es nennt, «revisionistischen Diskurses» der jüdischen Geschichte. Das heißt, «dass der Schlüssel für das Überleben der Juden nicht nur in der Theologie, im Recht oder anderen überlieferten Charakteristika liegt. Jüdische Politik und sogar jüdische ‚Macht’ müssen ebenfalls in die Analyse einbezogen werden.» (S. 32) Das jüdische Engagement in der sozialistischen und der kommunistischen Bewegung kann somit als ein Bestreben gesehen werden, die humanistischen Werte der jüdischen Ethik auf die praktische Politik anzuwenden.

Im zweiten Teil der Studie untersucht Gerrits genauer das Stereotyp vom «jüdischen Kommunismus». Er konzentriert sich dabei auf die polnische Kontroverse und legt die Bedeutung des äußerst abwertenden Terminus Żydokomuna («Judenkommune») dar. Dieses Stigma wurde den Juden angeheftet, die als Kollektivum nicht nur hauptsächlich für die Russische Revolution von 1917 verantwortlich gemacht wurden, sondern ihnen wurde damit auch die Verantwortung für alle Übel der stalinistischen und post-stalinistischen Regime zwischen 1945 und 1989 in die Schuhe geschoben.

In der Zwischenkriegszeit stellten die Juden einen bemerkenswerten Anteil an den Führungskräften der kleinen Kommunistischen Partei Polens. Die Partei lehnte traditionelle jüdische Sitten und Bräuche jedoch ab und sah sich ausdrücklich als internationalistische Kraft. 1938 wurde sie durch Stalin aufgelöst. Viele ihrer Begründer, Juden wie Nichtjuden, verschwanden in den «Säuberungen».

Doch begrüßten 1939 viele Juden den sowjetischen Einmarsch in Ostpolen, da sie die Rote Armee als ein geringeres Übel als die Nazis ansahen. Gerrits zeigt, wie sehr sich das Bild von den rote Fahnen schwenkenden Juden in die polnische kollektive Erinnerung eingegraben hat. Oftmals halfen sie der sowjetischen Besatzungsmacht, bekannte Gesichter der früheren polnischen Verwaltung ausfindig zu machen und festzunehmen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde der Glaube an das Stereotyp der Żydokomuna zum entscheidenden Antrieb für die Massaker von Polen an Juden, darunter dem berühmten Massaker von Jedwabne. Die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Widerstandskämpfern blieben gespannt, obgleich es durchaus auch Kontakte bis hin zur Zusammenarbeit gab.

In den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft nach 1945 spielten Juden eine quantitativ zwar relativ geringe, doch äußerlich sehr sichtbare Rolle sowohl im äußerst unpopulären Geheimdienst wie auch im Parteiapparat. Die folgenden Pogrome, so in Kielce 1946, wurden und werden als Ausdruck der weitverbreiteten Furcht vor der Herrschaft der in der Sowjetunion ausgebildeten Parteikader gesehen. Ihnen wurde untergeschoben, dass sie Polen «erobern» und unterwerfen würden. Gerrits geht der Frage nach, auf welche Weise traditionelle antijüdische Vorurteile, die allgemein gewalttätige, aus dem Krieg resultierende Atmosphäre und die Furcht, die überlebenden Juden könnten ihr Eigentum zurückfordern, zusammenfielen. Die massiven antijüdischen Vorurteile führten zur Massenauswanderung der Überlebenden des Holocaust aus Polen. Die verbleibenden Juden verbanden ihre Interessen mit denen des von der Sowjetunion abhängigen Regimes, obgleich sie keineswegs alle den Stalinismus unterstützten. Im Gegenteil: Viele Intellektuelle jüdischer Herkunft gehörten in den 1950er und 1960er Jahren zu den treibenden Kräften beim Versuch, die Gesellschaft zu humanisieren. Gerade sie wurden in zeittypischer Weise als «kommunistische Revisionisten» bezeichnet.

Der spezifische Charakter des kommunistischen Antisemitismus in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg steht im Mittelpunkt des dritten Teils des Buches. Obgleich der Antisemitismus bei polnischen Kommunisten traditionell als reaktionär galt, wurde er nun heimlich und sogar offen zum Bestandteil der neostalinistischen Spielart des polnischen Nationalismus. Die Parteidogmatiker, später (nach ihrem Treffpunkt) als Natolin-Fraktion« bekannt, begannen während der «Tauwetter»-Periode 1956-57 zielgerichtet antisemitische Vorurteile als politische Waffe einzusetzen. Sie machten die «jüdischen Apparatschiks» für den geringen Widerhall des Kommunismus in der polnischen Gesellschaft verantwortlich.

Nach dem israelischen Sieg im Junikrieg 1967 setzte die polnische Parteispitze, angelehnt an die Sowjetunion, eine als «Antizionismus» bemäntelte antijüdische Kampagne in Szene. Doch traf diese kaum auf Unterstützung in der Bevölkerung. Vielmehr zogen viele nichtjüdische Polen Parallelen zwischen Israel und den früheren Kämpfen Polens um Unabhängigkeit. Sie begrüßten den israelischen Sieg über die Araber als Niederlage der Sowjetunion. Dabei spielte auch die Tatsache, dass viele israelische Offiziere polnische Juden waren, eine große Rolle. «Unsere Juden schlagen die sowjetischen Araber», war sehr oft zu hören.

Im März 1968 wurde der «internationale Zionismus» für die Proteste der polnischen Studenten gegen die Regierung verantwortlich gemacht. Die nichtjüdische Parteielite benutzte den Mythos von «Juden als Zionisten» als «Begründung» dafür, Juden von ihren Positionen in wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen sowie aus den Massenmedien zu entfernen. Eine jedoch keineswegs erwartete Auswirkung der Kampagne war die Tatsache, dass sich damit das kommunistische Regime auch unter linksorientierten Polen diskreditierte. Viele Gegner dieser antisemitischen Politik waren in den 1980er Jahren in der Solidarność-Bewegung und hier vor allem auf ihrem linken Flügel zu finden. Sie wurden zu Hauptkräften im Kampf um eine Demokratisierung der polnischen Gesellschaft.

Als Grund für den Mangel an wissenschaftlichen Studien gegenüber den zahlreichen populären und populistischen Äußerungen zum Thema nennt Gerrits die Tatsache, dass es eben in Polen wie anderen Staaten Osteuropas keinen «jüdischen Kommunismus» als sozial oder kulturell klar zu bestimmendes und von anderen Strömungen abgrenzbares Phänomen gab. Vielmehr war und blieb es ein antisemitisches Konstrukt. Die einzigen Beispiele eines «jüdischen Kommunismus» waren die Jüdischen Sektionen der sowjetischen kommunistischen Partei zwischen 1918 und 1930, die kommunistischen Parteizellen im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidshan im Fernen Osten der Sowjetunion, kurzlebige jüdische Gruppen in anderen kommunistischen Parteien, die die jüdischen Parteimitglieder jedoch nur in das allgemeine Parteileben integrieren sollten, sowie natürlich die Israelische Kommunistische Partei, deren Mitglieder heute in der Mehrzahl Araber sind.

Gerrits’ Buch zeigt, dass alle Publikationen, die den Kommunismus als jüdische Verschwörung darstellen, nichts als unwissenschaftliche Machwerke sind. Diese pseudowissenschaftlichen Werke sehen «die Juden» als eine vorgestellte Einheit. Sie übertreiben den Anteil von Juden an der kommunistischen Bewegung bis ins Maßlose und unterschlagen oftmals die Tatsache, dass Juden zu Opfern des Stalinistischen Antisemitismus wurden. Heute werden die überlebenden jüdischen Kommunisten häufig als Schuldige für die «dunklen Jahre der sowjetischen Okkupation» gebrandmarkt. Gerrits zieht deshalb den Schluss, dass die jüdischen Kommunisten, die zu den Triebkräften der kommunistischen Revolutionen in Osteuropa zählten, auch zu ihren «Hauptverlierern» wurden. (S. 200)

André Gerrits, The Myth of Jewish Communism. A Historical Interpretation, Peter Lang, Brüssel 2009, 220 S., EUR 48,50.

Erstmals erschienen in Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, 9 (2010), Nr. 1, S. 187-191.