Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Rubovitch: Eduard Bernstein. Deutscher, Sozialdemokrat und «trotz allem Jude»; Leipzig 2019

Kann zu einer breiteren Würdigung dieses deutschen Demokraten, Sozialisten und weitsichtigen jüdischen Intellektuellen beitragen

Eine Biografie dieses sozialistischen Demokraten in der Reihe Jüdische Miniaturen war ein Desiderat, das Yuval Rubovitch nun mit einem knappen, aber weiteres Interesse weckenden Text geschlossen hat. Bernsteins Lebensspanne reicht von der Entstehungszeit der deutschen Sozialdemokratie über die Zeit der Sozialistengesetze bis zum Ende der Weimarer Republik. Die Reihe der Miniaturen entwickelt sich zu einem einführenden Panorama über den Beitrag jüdischer Persönlichkeiten zu Wissenschaft, Politik und Kultur in Deutschland und präsentiert eine Vielzahl von Personen, deren Beitrag nach dem Zivilisationsbruch der Schoah in Vergessenheit geraten ist.

Der locker geschriebene Text von 52 Seiten (plus Inhaltsverzeichnis und Anmerkungen 75 Seiten) gewahrt einen sympathischen ersten Einblick in Leben und Denken dieses Intellektuellen, der zeitlebens wie kaum ein anderer seine eigene weltanschauliche Position und seine politischen Optionen reflektierte und bis ins Alter hinein bereit war, sie angesichts neuer Erkenntnisse zu revidieren. Gleichzeitig war er ein disziplinierter «Parteisoldat» der SPD, der als Gegner des reichsdeutschen Obrigkeitsstaates einen langen Lebensabschnitt im Exil verbringen musste und erst viele Jahre nach Aufhebung der Sozialistengesetze wieder nach Deutschland einreisen durfte.

Der 1850 geborene Eisenbahnersohn Eduard Bernstein, aus einem assimilierten reformjüdischen Elternhaus stammend, begann seine politische Laufbahn als Anhänger der sozialliberalen Fortschrittspartei. Unter dem persönlichen Eindruck zweier Reden des Lassalleaners Friedrich Wilhelm Fritzsche und besonders August Bebels wurde er Sozialist und trat 1872 der Partei Bebels und Wilhelm Liebknechts bei.

Bereits im Vorfeld des «Vereinigungsparteitages» der beiden sozialistischen Parteien ADAV und SDAP 1875 in Gotha spielte er eine wichtige Rolle. Zunächst überzeugter Marxist, war er Teil des intellektuellen Dreiecks Engels-Kautsky-Bernstein, welches «das intellektuelle und programmatische Fundament für die Marxisierung der deutschen Sozialdemokratie» (S. 18) in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts legte, wie Rubovitch Christina Morina zitiert. Als Redakteur des «Sozialdemokrat», der im Ausland produzierten Exilzeitung der SPD, musste Bernstein in Zürich und London nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 weitere elf Jahre auf die Aufhebung seines Haftbefehls warten. Bereits 1902 wurde er in den Reichstag gewählt. Zu dieser Zeit war der «Revisionismusstreit» bereits in vollem Gange. Beeinflusst durch die britischen Fabier, einem einflussreichen Kreis britischer Intellektueller, die ihren Sozialismus ethisch und empirisch begründeten, hatte Bernstein seinen orthodoxen marxistischen Standpunkt verlassen und setzte sich für parlamentarische Reformen zur Demokratisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ein. Leider werden Bernsteins Positionen nur im Verhältnis zu Kautsky dargestellt, nicht nur die bösen Anfeindungen z. B. Rosa Luxemburgs wären darüber hinaus von Interesse gewesen. In ihrer Schrift «Sozialreform oder Revolution» diffamierte sie 1899 den Genossen im Exil als «Opportunisten», seine Theorie als «Versumpfung des Sozialismus» und sprach ihm gar die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie ab: «Bernstein und die Sozialdemokratie stehen jetzt auf gänzlich verschiedenem Boden.» Auch dass «Ede» sich zum Neukantianer entwickelt hatte und die erkenntnistheoretische Debatte über Marxismus und Neukantianismus, u. a. ausgetragen in der «Neuen Zeit» und den «Sozialistischen Monatsheften» (an der sich auch Plechanov, Zhitlowsky und Mehring beteiligten), findet leider keine Erwähnung.

1915 veröffentlichen Bernstein und Kautsky gemeinsam mit Hugo Haase einen ersten sozialdemokratischen Aufruf gegen den Krieg, 1918 finden sich die beiden Hauptkontrahenten des Revisionismusstreites gemeinsam außerhalb der SPD wieder – als Kriegsgegner in der USPD. Beide kehrten in die SPD zurück. Im Februar 1919 nahm Bernstein als Gast an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Bern teil. Dort widersprach er einer Gleichsetzung der Russischen Revolution mit den Bolschewiki, deren System er als «Zerrüttung, als Ruin des Landes» (S. 38) betrachtete.

Im Bekenntnis zur deutschen Kriegsschuld und seiner Zustimmung zum Versailler-Vertrag bezog Bernstein eine klare Minderheitsposition, die auch in der SPD auf breiten Widerstand stieß. Hier deutet der Autor einen Punkt nur an, der Vertiefung verdient hatte: die antisemitischen Ausfalle des Reichstagsabgeordneten Adolf Braun, der auf dem SPD-Parteitag im Juni 1919 sein Missfallen über «die Art des Wesens» Bernsteins und die «talmudistische Methode» seiner Politik zum Ausdruck brachte, sowie des späteren sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller, der an Bernstein gerichtet pöbelte: «Man darf eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtspunkt des Rabbiners von Minsk behandeln…»(1).

Am Schluss des Bändchens wendet sich Rubovitch den Wandlungen zu, die Bernsteins Position hinsichtlich seiner eigenen jüdischen Identität und der Frage einer politischen Zukunft der jüdischen Nation durchlief. War er 1877 aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten, da er sein Judentum primär als religiöse Zugehörigkeit verstand, so fand ein gewandeltes Selbstverständnis zuerst seinen Ausdruck im Nachruf auf Jenny Marx im Jahr 1898, deren jüdisches Selbstverständnis er hervorhob. 1902 erschien ein Aufsatz Bernsteins über den Sozialisten und Frühzionisten Moses Hess, und 1905 veröffentlichte er einen Beitrag fur ein Buchprojekt des Zionisten Alfred Nossing (uber jüdische Migration nach England). 1903 rief er im Reichstag die deutsche Regierung auf, sich fur die verfolgten Juden Rumäniens zu engagieren. Im selben Jahr übernahm der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund eine Stellungnahme Bernsteins zu den Pogromen in Kischinau und Homel. Bernstein lobte die beginnende jüdische Selbstverteidigung. 1907 sah er unter den russischen Gegebenheiten «die Autonomie jüdischer Gemeinden als politischer Körper auf der Linie des Fortschritts liegen», eine Lösung der «Judenfrage» sei dies nicht, diese sei erst dort gegeben, wo «jede Sonderstellung der Juden aufgehört hat» (S. 50). Noch 1916 meinte er, «der Zionismus kann die Lösung nicht bringen», zur Assimilation gebe es keine Alternative. Dennoch hatten Juden eine auf Vermittlung zwischen den Völkern gerichtete «Sendung» zum «Weltbürgertum». Dieses sei «kein Widerspruch gegen den nationalen oder ethnologischen Patriotismus, sondern deren zulässige und mit dem Aneinanderrucken der Volker notwendige Ergänzung» (S. 53) – eine mitten im Weltkrieg bewundernswert unzeitgemäße Überlegung.

Rubovitch betont die Bedeutung des aggressiven Antisemitismus in den Jahren der Weimarer Republik, insbesondere gegenuber den «Ostjuden», fur die Erkenntnis Bernsteins, dass die Existenz einer jüdischen Heimstätte in Palästina fur die bedrohten Juden notwendig sei. Trotz seiner in den letzten Lebensjahren deutlichen Sympathien fur den Zionismus blieb er Internationalist. Es ginge nicht um die Verdrängung der Araber Palästinas, sondern um eine Heimstätte fur die verfolgten jüdischen Proletarier und die Entwicklung des Landes, die allen seinen Bürgern zugutekommen solle. Sechs Wochen vor der Machtübergabe an die Nazis starb Bernstein in Berlin.

Der Miniatur sind viele Leser zu wünschen, sie macht Lust auf mehr. So kann sie zu einer breiteren Würdigung dieses deutschen Demokraten, Sozialisten und weitsichtigen jüdischen Intellektuellen beitragen.

Kay Schweigmann-Greve (Hannover)

Yuval Rubovitch: Eduard Bernstein. Deutscher, Sozialdemokrat und «trotz allem Jude» (Jüdische Miniaturen Bd. 242), Hentrich & Hentrich, Leipzig 2019, 76 Seiten, 8,90 Euro.

1 Francis Ludwig Carsten: Eduard Bernstein 1850–1932. Eine politische Biographie, Munchen 1993, S. 178 f.

Erstmals erschienen in: Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien, Nr. 3/2021.