Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus; Hamburg 2022

Ein unterschätztes Problem: Das Verhältnis von Arbeiterbewegung und Judenfeindschaft

Mario Keßler hat eine Reihe von Büchern zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung veröffentlicht. Wegen ihres großen Quellenreichtums sind sie immer lesenswert. Das gilt auch für seine neue Publikation «Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung. Darin geht es sowohl um das Engagement der Arbeiterorganisationen im Kampf gegen Antisemitismus als auch um Antisemitismus in der Arbeiterklasse selbst. Wenn Keßler daran erinnert, dass sowohl Pierre-Joseph Proudhon als auch Charles Fourier (nicht aber Henry de Saint-Simon) Antisemiten waren, so zeigt das, dass auch die Führungsfiguren der Arbeiterbewegung daraufhin zu befragen sind. Einen beispielhaften Kontrapunkt setzte Jean Jaurès während des Dreyfus-Prozesses. Der stieß bei Arbeitern auf wenig Interesse, weil der Angeklagte ein hoher Offizier und kein Proletarier war. Jaurès stellte klar, dass die Arbeiter die jüdische Frage nicht nur unter dem Aspekt der eigenen Klassenbetroffenheit, sondern als Problem der Demokratie verstehen müssten. Auf diesem Niveau wurde Fragen des Antisemitismus nicht immer behandelt.

Festzuhalten bleibt, dass das sozialistische Versprechen des Universalismus auch viele Jüdinnen und Juden veranlasste, multiethnischen linken Organisationen beizutreten und deren Credo selbst leidenschaftlich zu vertreten. Aber die historische Permanenz von Antisemitismus – auch innerhalb der Arbeiterklasse – führte dazu, dass Juden ihre Emanzipation auch auf eigenen Wegen erreichen wollten. Dieses komplexe Problem durchzieht Keßlers Buch.

Es behandelt den Zeitraum von 1844 bis 1939, hält also inne vor der Zäsur, die der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust setzte. Obwohl Keßler davor warnt, die – nicht nur positiven – Beziehungen, die den proletarischen und jüdischen Emanzipationskampf verbanden, aus der Perspektive des Zeitalters nach dem Holocaust zu beurteilen, hält er diese Basisregel historischer Forschung nicht immer ein. Allerdings fordert der Zivilisationsbruch der Schoah auch dazu heraus. Insofern muss die sozialistische Arbeiterbewegung, die jede ethnische Diskriminierung aufzuheben versprach, darauf befragt werden, ob sie mehr zu seiner Verhinderung hätte tun können.

Marx und die «Judenfrage»

Fraglich scheint allerdings, ob antisemitischen Impulsen bei Karl Marx nachgespürt werden muss, weil dieser in seiner privaten Korrespondenz mit Friedrich Engels jüdische Genossen, mit denen politische Differenzen bestanden, zum Beispiel Ferdinand Lassalle, gelegentlich mit abschätzigen Floskeln belegte, die auf ein angebliches Steckenbleiben in jüdischer Folklore verwiesen. Öffentlich kam diese Marotte niemals zum Tragen. Hier wird an den Juden Marx ein Maßstab heutiger «Political Correctness» angelegt und außer Acht gelassen, dass Frotzeleien innerhalb einer Ethnie, die im Begriff ist, sich kulturell stark auszudifferenzieren, keine Ausnahme und nicht über zu bewerten sind. Obwohl Keßler selbst dieses Fazit zieht, wird die breite Darstellung verbaler «Entgleisungen» bei einem Teil der Leser doch als untergründiger Antisemitismus hängenbleiben.

Diskutabel sind die Mängel in Marxens Frühschrift «Zur Judenfrage» allerdings. Richtig ist die Kritik Hans Mayers, dass Marx das in viele soziale Schichten gespaltene, reale Judentum einseitig «an Voraussetzungen und Erscheinungsformen des Kapitalismus band». Marx habe, so Keßler, aber durchaus erkannt, »dass nicht ausschließlich Juden die Wesenszüge der bürgerlichen Gesellschaft verkörpern. Die historische Entwicklung habe zur Übertragung der handelskapitalistischen Tätigkeit von Juden auf Christen geführt; oder, wie Marx es in seiner junghegelianischen Diktion beschrieb: ›Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.‹« Diesen Text als antisemitisch zu deuten – was andere, nicht aber Keßler, tun – unterschlägt, dass das ausdrückliche politisches Ziel dieser Jugendschrift die völlige bürgerliche Gleichstellung der Juden war. Dafür nannte der junge Marx zwei wesentliche Voraussetzungen: das Diskriminierungsverbot auf Grund von Religionszugehörigkeit² und die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, was sich selbstverständlich nicht allein auf Juden bezog. Dass dies zu abstrakt gedacht war, zeigen die jüdischen Erfahrungen in der Sowjetunion.

Richtig ist sicher auch der Einwand des Historikers Enzo Traverso, dass in Marxens Frühschrift die Emanzipation der Juden noch nicht mit dem Emanzipationsprozess des Proletariats verbunden ist. Das geschah erst mit der Schaffung der theoretischen Grundlagen des Kommunismus und in der politischen Praxis von Marx und Engels. Aber auch die über dem »Manifest der Kommunistischen Partei stehende Losung «Proletarier aller Länder vereinigt euch!» erwies sich historisch als nur partiell praktikabel. Die Spannungen zwischen proletarischer und ethnischer Emanzipation nicht nur der Juden, sondern auch anderer «kleiner» Völker, erkannten weder Marx noch Engels als ein bleibendes Problem. Sie verharrten bei der optimistischen Sicht, diese Widersprüche würden sich in gemeinsamen Kampferfahrungen mildern und in einer sozialistischen Gesellschaft auflösen. In einem im Anhang abgedruckten Brief von 1880 behauptete Engels sogar, dass der Antisemitismus nur ein Relikt der von jüdischen Bankiers abhängigen Junkerkultur sei und sich bereits mit der kapitalistischen Moderne abschwäche. Er warnte jedoch vor der Instrumentalisierung des Antisemitismus im antikapitalistischen Kampf rückständiger Schichten, denn die realiter zu bekämpfenden reichsten Kapitalisten seien keineswegs Juden. Jüdische Arbeiter in Amerika und England seien «die am schlimmsten ausgebeuteten und die allerelendsten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da sollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital?»

Moses Hess und der Zionismus

Moses Hess, zunächst Bewunderer und Kampfgefährte von Marx, teilte deren Optimismus immer weniger. Er kam zu der Überzeugung, dass Antisemitismus in der Gesellschaft und auch in Teilen der Arbeiterbewegung so stark war, dass den Juden nur übrigbliebe, sich als kulturelle Nation zu konstituieren und ein Territorium zu suchen, auf dem sie eine sozialistische Gesellschaft errichten könnten. Für Marx und Engels wurde Hess dadurch zum Nationalisten, für Juden zu einem der Urväter der zionistischen Idee. Keßler hebt hervor, dass die Dynamik des Emanzipationskampfes nicht nur der Juden, sondern vieler «kleiner Völker» jenseits des historischen Horizonts von Marx und Engels lag. Umso mehr wurde Hess von Ernst Bloch geschätzt. Hess’ kaum von ökonomischen Überlegungen geprägter kommunistischer Kampfgeist führte in der späten Sowjetunion und in der DDR zur Rehabilitierung – wohl auch, weil mittlerweile die Dialektik von Nationalem und Internationalem realistischer beurteilt wurde.

Eine ausführlichere Darstellung hätte Rosa Luxemburg verdient. Sie blieb bei der Auffassung, dass die Emanzipation von Polen und Ukrainern, einschließlich der unter ihnen lebenden Juden, in einer auf dem Boden des Zarenreichs entstehenden sozialistischen Großrepublik zu lösen sei.

Aus Keßlers vorwiegend empirischer Abhandlung ist eine Synthese von weitreichender Bedeutung ableitbar. Sowohl die Linie von Marx als auch die von Hess prägten und prägen die Organisationen der Arbeiterbewegung. Stets erklärte sich der die Mehrheit repräsentierende Strom für universalistisch, so dass, von dessen Standpunkt aus gesehen, artikulierte Interessen von Minderheiten als Partikularinteressen erschienen. Während Keßler dazu neigt, den jüdischen Interessen größeres Gewicht zu geben, hält es die Rezensentin für sinnvoller, hier einen – über die jüdische Frage hinausgehenden – innerhalb der globalen Arbeiterklasse wirksamen antagonistischen Widerspruch zwischen partikularen und universalen Interessen zu erkennen. Nicht zuletzt wegen der wachsenden Migration scheint er auf einer langen Zeitachse noch nicht lösbar, sondern kann nur von Fall zu Fall bearbeitet werden.

Die durch staatsbürgerliche und soziale Diskriminierung besonders schwierige Lage der Juden in Osteuropa hatte zur Gründung jüdischer proletarischer Parteien geführt. 1897 entstand in Polen, Litauen und Russland der säkular orientierte Allgemeine Jüdische Arbeiterbund (im Folgenden: Bund), der beanspruchte, alle jüdischen Arbeiter zu vertreten. Er forderte kulturelle sowie weitgehende autonome Verwaltungsrechte – und zwar nicht nur für Juden, sondern für alle Minderheiten. So kam es zu Konflikten mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), unter deren Dach der Bund bis 1903 wirkte. In einer Adresse an die jüdischen Arbeiter schrieb Wladimir Iljitsch Lenin 1905, dass sich die SDAPR, um Offenheit für andere Nationalitäten zu signalisieren, bewusst nicht Russische Sozialdemokratische Partei genannt habe. Es müsse daran gearbeitet werden, «dass sich alle zersplitterten sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Nationalitäten in einer einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands vereinigen». Auch den Anspruch des Bundes, alle jüdischen Arbeiter zu vertreten, wies er zurück.

Abgelehnt wurde dieser Anspruch auch von der 1906 von Ber Borochow gegründeten Partei Poale Zion (Arbeiter Zions). Da der Zionismus anfangs eine bürgerliche Initiative gewesen war, besaß er zunächst kaum Attraktivität für das jüdische Proletariat. Borochows Programm zielte auf eine Modernisierung der in Osteuropa meist noch auf Kleinbetriebe verteilten jüdischen Arbeiterklasse und ihrer «nichtproduktiven Elemente», der «Luftmenschen». Notwendig sei eine Proletarisierung der Juden, «die Herausbildung eines jüdischen Land- und in naher Zukunft auch Industrieproletariats», wie Keßler schreibt. Diese Proletarisierung könne aber nur in einem eigenen jüdischen Staatswesen erfolgen, wofür allein die alte Heimat des jüdischen Volkes, Palästina, in Frage käme. Bochorow warb daher für die «zielgerichtete Kolonisation» in Palästina. Poale Zion konstituierte sich 1907 in Den Haag als Weltverband und fand in dessen Zweig in Palästina mit David Ben Gurion bereits einen der künftig wichtigen Politiker. Bedenklich war Borochows Vorstellung, dass die Juden dort «bald eine überragende Position» einnehmen würden.

Aus den Reihen des Bundes kam die erste kritische Voraussicht auf die Schwierigkeiten, «die der Zionismus, auch in seiner sozialistischen Variante, für das jüdisch-arabische Verhältnis in Palästina mit sich bringen würde». David Balakan warnte, «die zu Enteignenden würden auch nicht die Hände in den Schoß legen». Chaim Jakow Gelfand sah bereits 1905 eine harte Konkurrenz zwischen Juden und Arabern auf dem Arbeitsmarkt voraus. Der auch innerjüdisch umstrittene Zionismus wurde ein Element von Spaltungen in der gesamten Arbeiterbewegung. Keßler macht auch auf spätere, bedenkliche zionistische Positionen aufmerksam, die die Besiedlung Palästinas mit dessen angeblicher Menschenleere rechtfertigten. Andere begründeten sie mit der Modernisierung, die Juden in das noch weitgehend feudal organisierte Land bringen würden – ein typisch kolonialistisches Argument. Dagegen standen linkszionistische, zum Teil kommunistische Positionen, die ein künftiges Zusammenleben beider Völker ermöglichen wollten.

Anhaltende ­Ressentiments

Im revolutionären Russland stellten die Spannungen zwischen der großen jüdischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft eine große Herausforderung dar. Die in Bedrängnis geratene orthodoxe Kirche verknüpfte antisemitische und antibolschewistische Propaganda, was besonders in der Ukraine zu Pogromen führte. Von Ausnahmen abgesehen wurden Juden durch die Rote Armee vor Pogromen geschützt. Viele Bundisten, aber auch Mitglieder des linken Flügels der Poale Zion kämpften in ihren Reihen.

Die Schwierigkeit, eine politische Linie für die in viele Schichten differenzierte Judenheit in der Sowjetunion zu finden, ist nicht zu unterschätzen. Sollten die Juden als Nation anerkannt werden, obwohl sie kein geschlossenes Siedlungsterritorium hatten? Viele Angehörige des 1919 verbotenen Bundes⁷ wurden Bolschewiken und konnten sowohl die Anerkennung als Nation als auch ein Programm der Entwicklung national-kultureller Autonomie erreichen. Das Jiddische als Schrift- und Kultursprache konnte sich zunächst entfalten. Die mosaische Religion, die damals wie heute vielen Juden als wichtigstes Identitätsmerkmal galt, unterlag jedoch von Anfang an ebenso starken Beschränkungen wie Christentum und Islam. Zur Kontrolle und Orientierung jüdischer Angelegenheiten wurde eine parteikonforme jüdische Organisation aufgestellt, die Jewsekzija. Sie agierte gegen zionistische Tendenzen und später auch gegen einen angeblichen jüdischen «Kosmopolitismus». Da Auswanderung in der frühen Sowjetunion noch möglich war, wurden Aktivitäten der Poale Zion jedoch bis etwa 1928 geduldet. Landwirtschaftsprojekte, in denen die zahlreichen «Luftmenschen» Arbeit finden sollten, scheiterten am Widerstand der bereits ansässigen Bevölkerung. Um die jüdische Frage zu lösen, wurde an die Zuweisung eines Territoriums auf der Krim gedacht, was bei vielen Juden auf Zustimmung stieß. Beschlossen wurde 1928 jedoch die Gründung eines jüdischen Autonomiegebiets im fernöstlichen Birobidschan, das noch urbar gemacht werden musste und wenig Zuspruch fand. Hier ist indes noch kein staatlich konzertierter Antisemitismus zu unterstellen, weil auch anderen Bevölkerungsteilen zugemutet wurde, unter beschwerlichsten Bedingungen Neuland zu erschließen.

Die in der Sowjetunion erfolgte rechtliche Gleichstellung beseitigte nicht den traditionellen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft. Leo Trotzki, Lasar Kaganowitsch und Nikolai Bucharin forderten Maßnahmen gegen den Alltagsantisemitismus, der auch unter Komsomolzen und Parteimitgliedern auftrat. Um bereits den Anfängen zu wehren, forderte Bucharin 1927 «auch gegen scheinbar unverfängliche Witze oder Anekdoten» vorzugehen.

Zur öffentlich stets dementierten Instrumentalisierung antisemitischer Ressentiments kam es mit dem anschwellenden Machiavellismus Josef Stalins bei der Ausschaltung der «Parteifeinde» Lew Kamenew, Grigoi Sinowjew und Trotzki. So wies die Propaganda plötzlich auf dessen jüdische Wurzeln hin, indem ihm und seinen Kindern der alte Familienname ­Bronstein - zugeordnet wurde. Bei der 1937 erfolgten Ermordung von führenden Mitgliedern der Verwaltung Birobidschans und der Jewsekzija spielten politische und antisemitische Momente wahrscheinlich zusammen. Nachrichten darüber drangen wenig ins Ausland oder wurden nicht geglaubt.

In Mittel- und Westeuropa führten weder verbliebene Unsicherheiten noch die Zunahme antisemitischer Strömungen zur Gründung eigenständiger jüdischer Parteien. Da viele Juden als «Patrioten» und «Staatsbürger» im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, hielten die meisten eine Assimilation sowohl im Staat als auch in politischen Parteien für realistisch. Allerdings wurde der Zionismus als Gegenoption diskutiert, auch in den Arbeiterorganisationen. Eine starke Stütze des zionistischen Projekts wurde die Labour Party, nachdem Großbritannien 1917 Mandatsmacht Palästinas geworden war und mit der Balfour-Deklaration verkündet hatte, dort eine «nationale Heimstätte des jüdischen Volkes» zu errichten.

SPD und KPD

Karl Kautsky hatte sich kritisch mit dem Zionismus auseinandergesetzt und wie Luxemburg für die vollständige Assimilation plädiert. Eduard Bernstein neigte dem Zionismus zu. Den Antisemitismus bekam die SPD nach dem Krieg hart zu spüren: Etliche ihrer jüdischen Führungsfiguren wurden im Zuge des Freikorpsterrors ermordet. Während der Weimarer Republik musste sie als Regierungspartei gegen den rechten Vorwurf kämpfen, eine «Judenrepublik» errichtet zu haben. Gegen wachsenden Antisemitismus wurden Schulprogramme entwickelt. Kaum Einfluss hatte die SPD auf den Antisemitismus in der Polizei, keinen auf den in der Reichswehr. Die Einwanderung zahlreicher Ostjuden versuchte die Regierung mit Gesetzen und Abschiebungen einzudämmen. Der Druck der Immigration brachte Teile der SPD dazu, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu unterstützen. In der Zeitschrift Rundschau gab es eine Rubrik «Kolonisation», die ab 1919 von Fritz Naphtali geleitet wurde, einem Wirtschaftstheoretiker der SPD und späteren israelischen Landwirtschaftsminister. Auch die Sozialistischen Monatshefte setzten sich für den Zionismus mit teils bedenklichen Argumenten ein: Sally Lachmann behauptete 1924, die Araber seien weder willens noch imstande, das Land zu entwickeln, und der SPD-Politiker Julius Kaliski phantasierte 1930 in den Monatsheften sogar, «wie man die arabische Bevölkerungsmehrheit aus Palästina de facto verdrängen könne». Immerhin kam auch die von Hermann Kranold 1925 geäußerte Auffassung vor, dass der Zionismus «eine Gemeinschaftsarbeit beider Nationen» erfordere.

In den Anfangsjahren der Weimarer Republik machten Funktionäre der KPD den schon von Engels kritisierten Fehler, populistische Widerstände gegen jüdische Kapitalisten mit antisemitischen Klischees zu befeuern, wobei sich Ruth Fischer hervortat. Unter der späteren, sowjetisch angeleiteten Führung Ernst Thälmanns unterblieben solche Entgleisungen. Der von der KPD vertretene Begriff der Arbeiterklasse und der des deutschen Volkes bezogen die Juden ein, die Partei stellte sich damit den völkischen Begriffen der Nazis entgegen. Weil aber die KPD von einer fortschreitenden Assimilation ausging, unterschätzte sie den wachsenden Antisemitismus. Damit stand sie allerdings nicht allein. Zionistische Aktivitäten in Palästina wurden in KPD-Publikationen missbilligt und palästinensische Aufstände als antiimperialistische Kämpfe eingestuft, auch wenn sie von Feudalkräften angeführt wurden. Ein nicht in Deutschland, sondern wohl aus Sicherheitsgründen 1932 bereits in der Schweiz gedrucktes, anonymes, aber vom Zentralkomitee der KPD veröffentlichtes Diskussionsbuch zur Judenfrage unter dem Titel «Der Jud’ ist schuld» benannte die «enorme Gefahr der massenhaften Anfälligkeit des deklassierten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats für die antisemitische Agitation der Hitlerfaschisten» ebenso wie die existentielle Gefahr, die daraus für die Juden erwuchs. Antisemitismus wurde als «ein Manöver der herrschenden Klasse» definiert, das «die Aufmerksamkeit des untergehenden Kleinbürgertums von den wahren Ursachen seiner Misere ablenke und seinen Anschluss an die Arbeiterklasse zu verhindern suche». Den Juden die Schuld an Deutschlands Misere zuzuschreiben «solle einer anderen Überzeugung den Weg bereiten: der Idee, dass ohne den Juden niemand Deutschland hindern könne, die Ergebnisse des Weltkrieges ungeschehen zu machen und sich zur Herrschaft über die Welt aufzuschwingen».

Kommunistische Dissidenten wie Albert Schreiner von der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) erkannten die Gefahr besser, die von der faschistischen Verquickung von Antisemitismus und Antimarxismus ausging und setzten sich für ein Zusammengehen der Arbeiterparteien gegen die Nazis ein. Die Palästinafrage unterzog die KPO einer differenzierteren Klassenanalyse: Die einander bekämpfenden arabischen Feudalen und die rechten Zionisten stabilisierten die britische Herrschaft, indem sie den Nationalismus in ihren jeweiligen Lagern befeuerten.

Trotzki verurteilte die auf die SPD zielende Sozialfaschismuspolitik der KPD und forderte ebenfalls ein gemeinsames Vorgehen von KPD und SPD. Im Juni 1933 erschien in der Prager Exil-Weltbühne sein «Porträt des Nationalsozialismus». Darin erklärte Trotzki dessen Durchschlagskraft nicht nur mit sozialökonomischen Argumenten, sondern wies auch auf die Ventilfunktion des Antisemitismus für alle Bevölkerungsschichten hin: Auf den Juden würden sämtliche Feindbilder projiziert: Kapitalist, Bolschewik, Liberaler oder Marxist, vor allem aber: der Fremde.

Sabine Kebir

Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844–1939). VSA, Hamburg 2022, 368 Seiten, 26,80 Euro

Erstmals erschienen in: junge Welt, 2. Juni 2023